Winfried Nachtwei im Gespräch über Afghanistan und grüne Außenpolitik

»Afghanistan ist kein Winner-Thema«

Winfried Nachtwei war von 2002 bis 2005 stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, seit 2005 ist er Fraktionssprecher für Sicherheits- und Abrüstungspolitik. Er war an der Gestaltung der rot-grünen Sicherheitspolitik und insbesondere an der Gestaltung des Afghanistan-Einsatzes maßgeblich beteiligt. Zum Ende der Legislatur­periode scheidet er aus dem Bundestag aus.

Während wir dieses Gespräch führen, gehen die Menschen in Afghanistan zur Wahl – jedenfalls diejenigen, die sich nicht vom Terror der Taliban vom Wählen abhalten lassen. Hat die Bundeswehr genug getan, um die Menschen vor dem Terror zu schützen?

Die so genannte Staatengemeinschaft hat vieles versäumt, um ausreichend Sicherheit zu fördern, vor allem hat man sich viel zu halbherzig um den Aufbau der einheimischen Polizei, der Armee und der Justiz gekümmert.

Die Bundeswehr hat sich 2001 unter der damaligen rot-grünen Bundesregierung den ruhigsten Winkel Afghanistans ausgesucht. Rächt sich das heute?

Ich habe damals diese Entscheidungsprozesse mitbekommen. Es war nicht das Hauptkriterium, die ruhigste Ecke zu bekommen, sondern eine gute logistische Anbindung zu haben. In der Region gab es vorher schon ein amerikanisches Wiederaufbauteam, und der Süden war damals gar nicht erreichbar. Außerdem war auch damals klar, dass es auch in diesem Gebiet riskant ist, wenn auch weniger gefährlich als in ande­ren Landesteilen.

Sie haben die Ausbildung der afghanischen Polizei erwähnt. Deutschland beteiligt sich an der Ausbildung der Polizei, aber man hört oft, dass die Polizei den schlechtesten Ruf aller staatlichen Institutionen in Afghanistan hat.

Das ist richtig. Die Probleme der Polizei sind ­Analphabetismus, miese Bezahlung, Korruption, wenig Handlungsfähigkeit. Da sind strategische Fehler bei der deutschen Polizei-Aufbauhilfe gemacht worden. Erst im letzten Jahr hat man mit der Basisausbildung der afghanischen Polizisten angefangen.

Ist die Bundesregierung damit jetzt auf dem richtigen Weg?

Der Haken an der Sache ist immer noch, dass es für die Polizeiausbildung keinen energischen Masterplan gibt, obwohl Polizei und Justiz Schlüsselbereiche für die Sicherheitslage sind.

Für die Sicherheitslage ist auch nicht irrelevant, dass die Regierung Karzais wohl nicht weniger korrupt ist als die afghanische Polizei. Dennoch ist Karzai der Favorit vieler westlicher Beobachter. Hoffen Sie auch auf die Wiederwahl Hamid Karzais?

Ich will mich nicht einmischen und verkünden, welcher Kandidat mir gefallen würde. Den Umfragen zufolge scheint Karzai vorne zu liegen, aber der Herausforderer Abdullah Abdullah scheint auch gut dazustehen. Für die afghanische Demokratie wäre wohl das Schlimmste verhindert, wenn es wenigstens eine Stichwahl zwischen beiden gäbe. Denn wenn ein Präsident, der in den letzten Jahren nachweislich so viel Zustimmung verloren hat, im ersten Anlauf wieder gewählt würde, würde das nach allem Möglichen riechen, nur nicht nach einem demokratischen Prozess.

Dass es sich um einen demokratischen Prozess handelt, wird diese Tage von vielen in Frage gestellt – würde eine Stichwahl diese Zweifel wirklich mindern?

Das könnte die Zweifel vielleicht reduzieren, aber gäbe den Wahlen mit Sicherheit noch keine Legitimation nach internationalen demokratischen Normen. Aber man muss auch sehen, dass der Demokratisierungsprozess in einem Land wie Afghanistan ein komplexer Prozess ist, der sich vor allem in der Entwicklung von staatlichen Institutionen niederschlagen muss. Wahlen sind nur ein Ereignis und nicht unbedingt das entscheidende.

Eine für die Demokratie zweifelsohne wichtige Institution ist das Parlament. Wir haben neulich mit der afghanischen Politikerin Malalai Joya gesprochen, die das Parlament verlassen musste, weil sie dort die Präsenz von Warlords kritisiert hatte. Ihrer Meinung nach ist die afghanische Demokratie eine Farce, weil etliche Warlords im Parlament sitzen.

Das sind tatsächlich schwere Handicaps. Aber mir sind auch etliche Abgeordnete begegnet, die kompetent, mutig und glaubwürdig für die Entwicklung ihres Landes arbeiten. Im Gesamtprozess hat es in den letzten Jahren viele Rückschritte gegeben. Positive Entwicklung gab es bis 2005, danach gab es eher Rückschritte und nur partielle demokratische Fortschritte.

Wenn seit 2005 die Entwicklung eher rückwärts läuft, was geht beim internationalen Engagement schief?

Erstens sind entscheidende Anfangsjahre verspielt werden, in denen sich die USA und Großbritannien auf den verheerenden Irak-Krieg gestürzt haben. Und die USA hatten bei ihrer Fixierung auf Gegnerbekämpfung nur Verachtung für den Auftrag der Stabilisierung und des State-Building übrig.

Und die Deutschen haben alles richtig gemacht?

Nein, das nicht, aber sie waren zumindest auf der richtigen Spur.

Haben es sich die Deutschen im Gegensatz zu den Amerikanern nicht äußerst bequem gemacht?

Ich will nicht die deutsche Politik heilig sprechen, aber die gigantischen Fehler am Anfang haben nicht die Deutschen gemacht. Von deutscher Seite ist von Anfang an versucht worden, zum Beispiel auch die Zivilgesellschaft zu unterstützen.

Die Bundeswehr hat ihren Einsatz immer gern als bewaffnete Entwicklungshilfe dargestellt und das niedrigere Konfliktniveau im Norden als Verdienst dieser Strategie gepriesen. Jetzt zeigt sich doch, dass diese Strategie gescheitert ist.

Ich finde nicht, dass diese militärische Strategie, die zurückhaltend ist, die nicht Gegnerbekämpfung in den Fokus stellt, gescheitert ist. Vielmehr ist die amerikanische Strategie gescheitert. Jetzt sagen auch die amerikanischen Generäle, Schutz und Zustimmung der Bevölkerung müssen an erster Stelle sein. Was von deutscher Seite aus falsch gemacht wurde, war der insgesamt halbherzige Ansatz. Das heißt, es wurde ein bisschen Aufbauhilfe geleistet. Ich habe einzelne Projekte in Afghanistan besucht, die im einzelnen gut sind, aber ich kann bis heute nicht beurteilen, ob das ein Tropfen auf den heißen Stein ist oder der kühlende Wasserstrahl, der notwendig wäre.

Sie sind ein Freund ziviler Konfliktbearbeitung. Kann zivile Konfliktbearbeitung angesichts eines Gegners wie den Taliban funktionieren?

Zivile Konfliktlösungsstrategien sind ein ganz wichtiges Element. Alleine funktionieren sie ­jedoch nicht. Wenn es in Afghanistan keine Truppen mit UN-Mandat gäbe, dann könnte vielleicht noch die Welthungerhilfe dort arbeiten, aber Organisationen wie der Deutsche Entwicklungsdienst, die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, Polizeiberater, also die, die auch staatliche Institutionen fördern, könnten ohne mili­tärische Rückendeckung nicht arbeiten. Entscheidend ist, dass die internationalen Militärkräfte die Afghanen unterstützen. Zivile Konfliktbearbeitung fängt da an, wo man die Afghanen bei der friedlichen Lösung ihrer alltäglichen Gewaltkonflikte unterstützt, wo man bei den Aufständischen differenziert.

Wo man also etwa nach den »gemäßigten Taliban« sucht.

So sagt man das dann mit einem Schlagwort. Es geht um jene, die nicht ideologisch »zu« sind. Unter den regierungsfeindlichen Kämpfern gibt es verschiedenste Interessen und Motive. Da muss man sich auskennen. Hinter den Kulissen gibt es da ja auch einige Verhandlungsversuche.

Solche Versuche bestehen oft darin, dass teils auch sehr zweifelhafte Bündnisse eingegangen werden, die manchen Regionen wieder brutale Sharia-Gesetze bescheren. Wie weit soll die Ideologie der Taliban toleriert werden?

Das ist eine heikle Gratwanderung. Besonders krass hat sich das im Swat-Tal in Pakistan gezeigt, wo der pakistanische Staat kapituliert hat, die Sharia in der brutalsten Form eingeführt wurde, und das unter Protest der pakistanischen Zivilgesellschaft. Das ist in der Tat der falsche Weg. Das Entscheidende ist immer, dass die traditionellen Strukturen angesprochen und einbezogen werden. Es gibt vereinzelte Beispiele, die zeigen, wie mit den einheimischen Autoritäten Projekte zusammen umgesetzt werden können.

Spielt nicht der radikale Islam eine zentrale Rolle bei der Legitimation der Herrschaftsverhältnisse innerhalb solcher traditionellen Strukturen?

Wichtiger sind die Clan- und Stammesloyalitäten. Und im letzten Dezember hat etwa die Versammlung der islamischen Geistlichen einen Beschluss gefasst, in dem die Wahlen begrüßt wurden und in dem es hieß, dass die Demokratie nicht dem Islam widerspricht und die Männer die Frauen beim Wählen unterstützen sollten.

In Folge der Petersberger Konferenz, die auf Initiative der rot-grünen Bundesregierung zustande kam, hat sich Afghanistan als Islamische Republik etabliert. War darin nicht schon die Gefahr angelegt, dass sich der Islamismus gegen die Entwicklung demokratischer Strukturen durchsetzt?

Man muss zwischen den verschiedenen Schattierungen des Islam unterscheiden, zwischen ihnen liegen oft Welten. In einer so religiös geprägten Gesellschaft ist eben auch die Verfassung religiös geprägt.

Sie haben bei den Grünen von Anfang an für die Unterstützung des Afghanistan-Einsatzes geworben. Im Wahlkampf der Grünen spielt der Einsatz heute aber ebenso wenig eine Rolle wie bei anderen Parteien – abgesehen von der Partei »Die Linke«, die den sofortigen Abzug fordert. Hat Ihre Partei Angst, dass ihre Wähler zu der »Linken« überlaufen würden, wenn sich die Grünen offensiv zum Einsatz bekennen würden?

Afghanistan ist in der Tat kein Winner-Thema, und ich glaube, das ist es noch nicht einmal für die »Linke«. Insofern gehen alle anderen Parteien sehr zurückhaltend mit dem Thema um. Ich allerdings halte eine bloß reaktive Umgehensweise, wie ich sie vor allem bei der großen Koalition beobachte, für grob fahrlässig und gefährlich. Afghanistan ist die größte Herausforderung für die deutsche Sicherheitspolitik überhaupt – in Hinsicht auf Komplexität und Kosten, vor allem haben wir es das erste Mal mit Opfern zu tun, eigenen und Opfern auf der Gegenseite. Von daher ist der Einsatz selbstverständlich ein notwendiges Thema im Wahlkampf.

Auch in Ihrer Partei wäre es nicht sonderlich populär, mehr Engagement in Afghanistan zu fordern.

Doch, für mehr Aufbau. Bei aller Strittigkeit gibt es eine Grundhaltung, die das unterstützt, denn so etwas macht man ganz oder gar nicht.

Am Anfang des Gesprächs haben Sie kritisiert, der Einsatz leide vor allem darunter, dass das Engagement von Beginn an nur halbherzig war.

Deshalb ist hier auch Selbstkritik angebracht. Wir haben diese Aufgabe damals unterschätzt. Und aus dieser Selbstkritik folgt, dass es jetzt eine andere Anstrengung braucht. Ehrlichkeit und Konsequenz sind gefragt. Die Bundesregierung dagegen duckt sich weg.