Über den Kiezhelden Hans-Christian Ströbele

Der Kohl von Kreuzberg

Kiezheld Hans-Christian-Ströbele macht Wahlkampf beinahe ohne seine Partei.

In Deutschland gilt Kreuzberg groteskerweise noch immer als mythenumwobener Ort: Hausbesetzer, Krawalle, jeden Tag eine Demonstration – bzw. »Demo«, wie der jedem Anflug von Ästhetik feindlich gesonnene Volksküchentugendwächter seine Übungen in folkloristischem Klimbim zu nennen pflegt (siehe auch: Flugi, Soli, Lauti, Kotti usw.). Doch die Wahrheit ist, wie so oft, eine andere: Der Bezirk wird nicht erst seit gestern gehörig durchgentrifiziert, dass es nur so eine Art hat. Vom Prenzlauer Berg (»Pregnancy Hill«) ist Kreuzberg selbst von selbsternannten Kiez-Experten nicht mehr zu unterscheiden: Vereinzelt trifft man zwar noch auf herrenlose streunende Parkbanktrinker und Punkerdarsteller, an denen der Tourist seine Freude hat, doch sie fallen kaum noch auf zwischen den ganzen Heerscharen von Latte Macchiato und San Pellegrino trinkenden Langweilern aus der Laptop-Kreativtrottel-Szene, Neo-Esoterik-Papis mit Säugling im Tragetuch und schwer gestörten Bioladen-Kundinnen auf Weltret­tungsmission (»Spa! Haben Sie denn kein Spa? Nicht dieses Volvic, dieses französische Atomkraft­werkswasser!«).
Da ist es kein Wunder, dass ausgerechnet in dieser geistfernen Gegend, dieser Mischung aus Öko-Kapitalismus-Reservat und Vorhölle, die niederträchtigste und korrupteste aller Parteien seit Jahren phantastische Wahlergebnisse erzielt. Kreuzberg ist der einzige Wahlbezirk, der seit einem gefühlten Jahrhundert einen direkt gewählten Bundestagsabgeordneten der Grünen ins Parlament schickt: einen gewissen Hans-Christian Ströbele. Hierbei handelt es sich um einen stets freundlich lächelnden Greis, der für eines der schlimmsten Verbrechen der letzten 30 Jahre mit­verantwortlich ist (die Gründung der Taz) und vor allem daran zu erkennen ist, dass er auf den täglich stattfindenden Folkloreveranstaltungen (»Demos«) sein Fahrrad neben sich herschiebt. Dieser Mann nun, eine Art inoffizieller Kreuzberger Sonnenkönig, zeichnet sich dadurch aus, dass er im Bundestag bevorzugt mit Jein abstimmt. Kei­ner kann das so gut wie er.
Und nun ist er, um sein oben genanntes Wahlvolk (40 Prozent plus X), eine Horde verkniffener Müsli-Spinner und sich dissident wähnender protestantischer Spießbürger, hinter sich zu scha­ren, auf einen besonders perfiden Trick verfallen: Sein aktuelles Wahlplakat, mit dem der komplette Bezirk flächendeckend zugepflastert wurde (»Erststimme Ströbele«), zeigt ihn als einen die oben beschriebene Meute anführenden »Kiezhelden« (Taz), der als eine Art Jeanne d’Arc und Stellvertreter von Marx auf Erden die Guten (Antiimperialisten, Bioladen-Muttis, Berufsjugendliche, Kiffer) in den Kampf gegen die Bösen (Atom-Schweine, Finanzkapital, Aasgeier) führt. Sowohl die Zahl der abgeranzten Klischees als auch die Zahl der Peinlichkeiten auf diesem Plakatmotiv ist beim besten Willen nicht zu beziffern. Man müsste zu diesem Zweck stundenlang davor verharren. Der Hinweis auf Ströbeles Parteizugehörigkeit ist auf dem Wimmelplakat so klein angebracht, dass er nur mit Mühe zu finden ist, vermutlich weil selbst dem grünen MdB seine Partei peinlich ist.
Nicht unähnlich ist das Ganze den Großplakaten der CDU aus dem Bundestagswahlkampf 1994, auf denen Helmut Kohl (inmitten einer jubelnden Menge) zu sehen war und auf welchen gänzlich auf den Schriftzug der Partei verzichtet wurde. Und das passt ja auch – Ströbele kann gewissermaßen als der Kohl Kreuzbergs gelten: Lethargie, bleierne Zeit, Elend. Da ist es geradezu erholsam für den Betrachter, wenn Ströbeles Konkurrenten den Wahlkampf endgültig auf das Niveau bringen, das ihm angemessen ist: Vera Lengsfeld (CDU) wirbt mit ihren Brüsten um Stimmen, Halina Waw­zyniak (Linkspartei) mit ihrem Hintern. Scha­de eigentlich, dass Björn Böhning (SPD) nicht mit seinem Penis Reklame für sich macht. Beinahe – aber nur beinahe – möchte man Ströbele wählen.