Über das Erbe von Avantgarde und ’68

Ist die Linke schuld am Neoliberalismus?

War die Revolte von ’68 eine Wellnesskur für einen müde gewordenen Kapitalismus? Über das Erbe der einstigen Avantgarde-­Bewegung und die Modellfunktion des Künstlers für die moderne Arbeitsgesellschaft streiten sich die Kulturtheoretiker noch.

Anfang September 1956 in der italienischen Provinzstadt Alba, 25 Kilometer südöstlich von Turin: Ein paar zerrupfte Gestalten steigen aus dem Zug und werden vom örtlichen Blasorchester samt Bürgermeister begrüßt. Es sind die Teilnehmer des »Ersten Weltkongresses der Freien Künstler«. Mit von der Partie ist der kommunistische Avantgardist und spätere Mitbegründer der Situationistischen Internationale, Asger Jorn, durch dessen Kontakte zum ehemaligen Partisanen Pinot Gallizio das Treffen zustande kam. Gerd-Rainer Horn erzählt die Geschichte dieses »Weltkongresses« zu Beginn seines Buches »The Spirit of ’68«. Eine Hand voll avantgardistischer Künstler – Künstlerinnen werden nicht erwähnt – wird damit zum Ausgangspunkt einer faszinierenden und mittlerweile häufig erzählten Geschichte über »Rebellion in Western Europe and North America, 1956–1976«, wie der Untertitel des Buches lautet, sowie einigen anderen Orten und Regionen der Welt.
Horn interpretiert wie viele andere auch die rebellischen 68er Jahre als Verallgemeinerung der Ansprüche und Ziele der künstlerischen Avantgarden.
Die frühe Forderung, Kunst nicht länger als Spektakel in sterilen, abgeschotteten Räumen stattfinden zu lassen und sie stattdessen ins pralle Leben zu überführen, ist nicht nur von der kleinen Gruppe der Situationisten auf die Massenbewegung des Pariser Mai 1968 übertragen worden. Das Jahr 1956 steht nicht nur in einem kleinen Kaff in Italien für das Aufkommen der Neuen Linken (manifest nicht zuletzt in der Gründung der Zeitschrift New Left Review), für antiautoritäre Ideen; Kämpfe außerhalb der Arbeits­welt rückten in vielen Ländern auf ganz unterschiedliche Weise in den Fokus einer fortan gegenkulturell orientierten Linken.
Die Übernahme der expliziten wie impliziten Anliegen von Avantgarde und Gegenkultur in den Mainstream hörte in den siebziger Jahren nicht auf und gipfelte auch nicht in den »Alternativbewegungen« und Neuen Sozialen Bewegungen der achtziger Jahre. Heute, argumentieren verschiedene Soziologen und Philosophen, habe sich der Geist von ’68 noch weiter verbreitet und vielfältig materialisiert, inzwischen gebe er gar – meint beispielsweise der Soziologe Andreas Reckwitz – ein allgemeines Subjektmodell für die westlichen Gegenwartsgesellschaften ab. In allen für die Subjektwerdung in der Moderne relevanten Bereichen – Arbeit, Intimität und Selbst­konstitution – hätten Avantgarden und Gegenkultur neue und für alle gültige Standards gesetzt. »We, the artists of life« heißt es dementsprechend auch bei Zygmunt Bauman: Ständige freie Entscheidungen mit ungewissen Effekten bei hohem Grad an Bedürftigkeit nach Anerkennung durch andere – was früher Privileg und Problem ausschließlich von Künstlern gewesen sei, zeichne heute das Leben nahezu aller aus. Vorsichtiger fasst es der Ökonom Richard Florida, der nicht gleich jeden mit einem kreativen Ethos ausgestattet sieht, aber doch eine ganze »kreative Klasse«. Diese mache numerisch nicht die Mehrheit der westlichen Gesellschaften aus, sondern etwa ein Drittel, sei aber mittlerweile die dominante, Normen setzende Klasse.
Während die Analyse aus ganz unterschiedlichen Richtungen vorgenommen wird, im Ergebnis aber bei vielen Theoretikern ähnlich aussieht, fällt die Beurteilung sehr unterschiedlich aus. Der Postoperaist Paolo Virno meint, dass durch die gestiegene gesellschaftliche Bedeutung vormals künstlerischer, insbesondere kognitiver Fähigkeiten ganz einfach allgemeine menschliche Attribute zum Vorschein kommen würden. Diese Entwicklung sei zunächst weder gut noch schlecht, sie zeichne schlicht die gegenwärtige Multitude aus. Andere Autoren urteilen da weniger neutral: Während Reckwitz das Subjektmodell als emanzipatorische Veränderung und Florida die Kreativität als ökonomische Triebkraft feiert, kommen insbesondere Luc Boltanski und Ève Chiapello hinsichtlich der verallgemeinerten 68er-Werte und künstlerisch-avantgardistischer Vorstellungen in puncto Emanzipation zu ganz anderen Einschätzungen: Was als der Spirit der Rebellion begonnen habe, ist ihnen zufolge vielmehr als »der neue Geist des Kapitalismus« zu bewerten.
Dass gerade die Kunstwelt zu solchen gesellschaftlichen Effekten prädestiniert war, liegt nach Ansicht des Sozialforscher Pierre-Michel Menger an ihrer »eigentümlichen Mischung aus Individualismus und Kommunitarismus«: Das Konkurrenzprinzip geht mit einem starken gemeinschaftlichen Regulierungssystem im Hinblick auf ethisches Verhalten und den Selbstanspruch auf allgemeine Nützlichkeit einher. Insbesondere das, was die Avantgarden und die sozialen Bewegungen der sechziger Jahre verbindet und was, zumindest in libertärer Perspektive, zu ihren Errungenschaften zählte, gilt demnach als besonders »innovationstauglich« für das Kapital. Die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden soziokulturellen Strömungen bestanden, der Soziologin Eva Illouz zufolge, darin, dass sie eine »virulente Kritik am Kapitalismus und die Forderung nach neuen, nicht-materiellen Formen des Selbstausdrucks und Wohlbefindens« miteinander verknüpften. Und gerade diese Entwicklung habe letztlich, so die von Il­louz und Boltanski/Chiapello geteilte These, den Kapitalismus modernisiert statt abgeschafft. Indem sie sich um soziale Sicherheit nicht geschert und nur auf individuelle Autonomie gesetzt hätte, habe die künstlerische Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen diese nicht angegriffen, sondern stattdessen einen ihrer zentralen Imperative mit erzeugt: den »Flexibilitätskonsens« (Boltanski/Chiapello).
Gerade Kulturschaffende, meint auch die Politikwissenschaftlerin Isabell Lorey, hätten sich lange Zeit eingebildet, mit ihren gegen Normalarbeitszeit sowie moderne Kontrolle und Disziplinierungen gerichteten Lebens- und Arbeitsmo­dellen gelebte Kapitalismuskritik zu betreiben. Da sich die Arbeitsverhältnisse aber nun insgesamt gewandelt haben, seien sie mit ihrer »Selbst­prekarisierung« längst nicht mehr der Sand im Getriebe, sondern vielmehr dessen Schmieröl. Indem sie den eigenen Status naiv nicht infrage stellten, verkämen sie geradezu zu »OpportunistInnen und KonformistInnen« (Lorey).
Was Avantgarden und 68er-Bewegungen hier als Gemeinsames attestiert wird, überschneidet sich nicht gerade wenig mit dem, was die Neue Linke an Neuem hervorgebracht und was sie von der alten, arbeiterbewegten Linken unterschieden hat: die Ausdehnung des Emanzipationsgedankens auf alle Lebensbereiche (und nicht nur die Arbeit) und die Ablehnung der parteiförmigen Organisierung (und stattdessen der Aufbau »neuer« sozialer Beziehungen). Ausgerechnet diese Forderungen nach Autonomie und Kreativität sollen die Erneuerung des Kapitalismus ermöglicht haben. Die Analyse dieser Modernisierung setzt dabei in den meisten Fällen zweiteilig an: Auf der einen Seite habe die »kreative Arbeit« im weitesten Sinne die eher stumpfe, disziplinierende und kontrollierte Fabrikarbeit als dominante Wertschöpfungsform abgelöst. Dies heiße aber nicht, betont beispielsweise Paolo Virno ausdrücklich, dass »keine Armaturen und Maschinen mehr erzeugt werden«. Auf der anderen Seite habe aber die Kreativitätsanforderung längst alle Lebensbereiche erreicht, also auch die Produktion in der Fabrik.
Dass sich die Kommunikationsformen und die Kreativität der Arbeiter selbst zur Produktivitätssteigerung nutzen lassen, dazu musste man sich bei Toyota, wo dies Anfang der siebziger Jahre erstmals systematisch praktiziert wurde (was später »Toyotismus« genannt wurde), nicht erst mit Cultural Studies beschäftigen.
Dass mit der Integration kognitiver und kommunikativer Fähigkeiten und kollektiven Arbeitens die Anliegen der Neuen Linken aufgegriffen wurden, macht vielleicht deutlich, warum die Kritik so vehement ausfällt und wieso ihr möglicherweise ebenso vehement begegnet werden sollte. Es geht nicht länger um kleine Grüppchen, sondern um die Infragestellung ganzer Lebensmodelle, oder, etwas prozesshafter ausgedrückt, um Vorstellungen davon, wie und worum gesellschaftliche Kämpfe zu führen sind.
Ob die genannten Autorinnen und Autoren mit ihrer These, die Avantgarde-Gegenkultur-Connection forme heutzutage erfolgreich die geistigen und kulturellen Grundlagen der westeuropäischen Gegenwartsgesellschaften, Recht haben oder nicht, müsste im Einzelnen geprüft und vor allem empirisch widerlegt werden. Auch stehen die verschiedenen Ansätze in unterschiedlichen theoretischen Traditionen und wissenschaftlichen Kontexten, die das Gesagte hier lediglich als eine gemeinsame Tendenz – aber eine evidente – erscheinen lassen und es manchmal nur bedingt vergleichbar machen. Während beispielsweise Boltanski/Chiapello und Richard Florida sich mit kaum einem Halbsatz über den jeweiligen nationalen Rahmen (Frankreich bzw. USA) hinauswagen, bleiben Bauman, Reckwitz und Virno so allgemein mit dem »Wir«, von dem sie die ganze Zeit schreiben, dass es zuweilen schwer fällt, mehr als diese Verallgemeinerung zu kritisieren.
Bei Florida geht die Affirmation der kreativen Klasse so weit, dass er sich selbst als deren obersten Prediger verkauft und Unternehmen aller Art berät, in welchen »kreativen« Regionen sie sich ansiedeln sollen. Dagegen geht die positive Wertung der Ausweitung immaterieller Arbeit bei Paolo Virno mit einer skeptischen, deutlich kritischen Haltung einher. Wollte man aus der keinesfalls unplausiblen Analyse, dass die künstlerischen und sozialen Gegenbewegungen der Vergangenheit eine Mitverantwortung an den prekären, neoliberalen Arbeits- und Lebensverhältnissen der Gegenwart tragen, politische Konsequenzen ziehen, wäre man deshalb wohl mit Virno besser beraten als mit Lorey oder Boltanski/Chiapello. Denn so luzide deren Analysen auch teilweise sind, die Denunziation der Kulturproduzenten als Inhaber einer »hegemonialen Funktion« bei Lorey oder die Diffamierung der »Künstlerkritik« bei Boltanski/Chiapello bringen, zumindest politisch betrachtet, nicht gerade weiter.
Die Analyse der Diskurse um die kulturellen Bewegungen und ihre – gemessen an den eigenen Ansprüchen gescheiterten – Versuche der Umgestaltung der Gesellschaft muss auch in Betracht ziehen, dass es sich dabei selbst um eine diskursive Strategie handelt. So gesehen können noch die differenziertesten Analysen der Avantgarde-Gegenkultur-Modelle als Einsatz und Positionierung im intellektuellen Feld gewertet werden. Ein solcher Einsatz behauptet schließlich, ganz egal ob enttäuscht oder euphorisch in seiner Wertung, die Relevanz spezifischer kultureller Praktiken bestimmter – intellektueller – Milieus für die allgemeine gesellschaftliche Transformation. Intellektuelle Strömungen haben demnach daran nicht weniger Anteil als neoliberale Think Tanks, der Antagonismus von Arbeit und Kapital oder der militärisch-industrielle Komplex. Insofern steht auch die schärfste Kritik an Wissens- und Praxisformen von künstlerischen Avantgarden und neulinken, libertären, feministischen Bewegungen indirekt im Dienste der eigenen Selbstvergewisserung sozial- und geisteswissenschaftlich orientierter, intellektueller Tätigkeiten. Diese Konstituierung der Selbstgewissheit – die die Analysen nicht falsch macht – besagt, in einfachen Worten: Wir verändern Gesellschaft.
»L’Avantgarde se rend pas« (»Die Avantgarde gibt nicht auf«, 1962) heißt ein Bild von Asger Jorn. Es ist das ironische Porträt eines Mädchens mit einem Schnurrbart – eine Anspielung auf Marcel Duchamps Umgestaltung von Leonardo da Vincis »Mona Lisa«. Auch in post-avantgardistischen Zeiten, in denen die allgemeinen Umgestaltungsphantasien eher spezifischen Kritiken und die modernistischen Planungen den Mikropolitiken gewichen sind, gibt man sich – in den Sozial- und Kulturwissenschaften – keineswegs mit Staffage und Kommentar zufrieden. Wer schreibt, oder, allgemeiner, gezielt kognitive Fähigkeiten in kulturelle Praktiken transformiert, will mehr, als ein paar Dorfbewohnern am Bahnsteig ungläubiges Staunen entlocken.