Über die Festnahme von Verena Becker

Klammheimlich bearbeitet

Nach 32 Jahren Ermittlung wurde Verena Becker als Tatverdächtige im Fall Buback festgenommen. Man kann sich fragen, warum die Bundesanwaltschaft und das BKA zwischenzeitlich eine ungewohnte Trägheit an den Tag legten.

Am Abend des 7. April 1977 war eine Party im Jugendzentrum. Das Freibier floss in Strömen und triumphierend wurde eine Sonderausgabe der Lokalzeitung herumgereicht. Am Morgen hatte es drei von »denen« erwischt. Das »Kommando Ulrike Meinhof« der Roten Armee Fraktion (RAF) hatte den amtierenden Generalbundesanwalt Siegfried Buback und zwei seiner Leibwächter in Karlsruhe erschossen. Nicht nur in der schwäbischen Provinz nahmen viele Jugendliche die RAF weniger als stalinistische Gruppierung denn als moderne Robin Hoods wahr, die stellvertretend für einen selbst »die Lehrer und Ausbilder« erschossen.

Natürlich setzte am nächsten Morgen nach dem Kater das politische Denken wieder ein. Stellvertretend für nicht wenige damals in Westdeutschland brachte ein »Göttinger Mescalero« in seinem berühmten »Buback-Nachruf« diese ambivalente Stimmung »nach dem Abschuss von Buback« zu Papier. »Ich konnte und wollte (und will) eine klammheimliche Freude nicht verhehlen. Ich habe diesen Typ oft hetzen hören, ich weiß, dass er bei der Verfolgung, Kriminalisierung, Folterung von Linken eine herausragende Rolle spielte.« Doch er machte in seinem Text eben auch klar, »die Strategie der Liquidierung, das ist eine der Strategien der Herrschenden«, und er versprach: »Wir werden unsere Feinde nicht liquidieren.«
Damit brachte der »Buback-Nachruf« die zumindest unter vielen Jugendlichen und im entstehenden alternativen Milieu weitverbreitete Meinung zu den Aktionen der RAF auf den Punkt. Doch diese Ambivalenz hassten die Hardliner auf beiden Seiten. Sie wollten die knallharte Konfron­tation, Sieg oder Tod. »Entweder Schwein oder Mensch« lautete die Parole der politischen Anhänger der RAF. Und auf der Gegenseite hätte ein guter Teil der Bevölkerung jeden »Terror-Sympathisanten« am liebsten sofort an die Wand gestellt. Die staatlichen Organe legten in diesen Jahren eine Menge rechtsstaatliche Grundsätze beiseite, um die RAF zu besiegen. Wer zwischen 1977 und Anfang der achtziger Jahre seine Festnahme überlebte und sich zur RAF bekannte, wurde wegen irgendwas zu lebenslänglich verurteilt. Beweise? »Die Tatbeteiligung liegt auf der Hand«, heißt es in dem jüngst publik gewordenen schriftlichen Urteil gegen Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt zum Mord an Buback. Hauptsache lebenslänglich.

Diese Einvernehmlichkeit zwischen Bundesanwaltschaft (BAW), Bundeskriminalamt (BKA) und Verfassungsschutz (VS) fällt ihnen nun, über 30 Jahre später, auf die Füße. Weil die gesellschaftlichen Konflikte, welche für die Konfrontation RAF versus Staat ursächlich waren, weitgehend überwunden sind, geht es um nichts mehr. Und deshalb kann das menschlich verständliche Anliegen von Michael Buback, wissen zu wollen, wer seinen Vater wirklich erschossen hat, seine politische Dynamik entfalten. »Mir geht es ausschließlich um die Wahrheit«, betonte er in einem Interview mit dem Stern.
Seit zwei Jahren sammelt der Göttinger Chemie-Professor Beweise, die darauf hindeuten, dass eine »zierliche Person« der Schütze oder die Schützin auf dem Motorrad war. Wenige Wochen nach dem Attentat wurden in Singen in der Nähe des Bodensees die gesuchten RAF-Mitglieder Verena Becker und Günter Sonnenberg nach einer wilden Schießerei festgenommen. Bei ihnen fand man die Tatwaffe. Doch was bei anderen sofort zu einem Schauprozess gereicht hätte, bei Verena Becker fiel es unter den Tisch. Zwar wurde sie wegen der Schießerei bei ihrer Festnahme zu lebenslänglicher Haft verurteilt, doch warum wurde sie nie wegen einer möglichen Beteiligung am Mord an Buback angeklagt? Nun spekuliert nicht nur Michael Buback, ob sie nicht bereits damals »oder sogar noch früher« auf ein Angebot zur Zusammenarbeit mit dem VS eingegangen war. Und nicht erst 1982, nach vier Jahren Haft, wie es die offizielle Lesart ist, die im Herbst 1989 zu ihrer Begnadigung durch Bundespräsident Richard von Weizsäcker führte. Ihre 200seitige Aussage gegenüber dem VS, in der sie den großen und kräftig gebauten Stefan Wisniewski als Schützen denunzierte, wurde voriges Jahr von Innenminister Wolfgang Schäuble gesperrt.
Eine noch brisantere Spur ergibt sich aus einer Stasi-Akte, derzufolge Becker bereits seit Anfang der siebziger Jahre vom westdeutschen Geheimdienst »bearbeitet« wurde. Doch dieses »bearbeitet« heißt noch lange nicht, dass sie seit 1972 Agentin des VS war und somit der VS beim Mord an Buback quasi mitgeschossen haben könnte, wie nun einige Verschwörungstheoretiker vermuten. Genauso gut könnte sie von einer dritten Person, die ihr Vertrauen genoss, im Auftrag des VS »abgeschöpft« worden sein. Ebenso kann es bedeuten, dass der VS Anfang der siebziger Jahre versuchte, sie anzuwerben, und abblitzte. Oder spielte Verena Becker ein doppeltes Spiel?
Denn unübersehbar hat jemand nach ihrer Festnahme seine »schützende Hand« über Becker gehalten, wie Michael Buback es formuliert. Und dieser Jemand legte den Karlsruher Bundesanwälten nahe, eine mögliche Anklage wegen Mordes an ihrem Chef erst mal nicht zu erheben, warum auch immer. Das wäre – vor allem bei Mord – eindeutig Rechtsbeugung und könnte auch heute noch einige Bundesanwälte ihre Pension kosten. Nur so ist zu erklären, mit welcher Mühe die BAW in diesem Fall zum Ermitteln genötigt werden muss. Die gleiche Behörde, die in anderen Fällen, wie bei der Verfolgung autonomer Militanter, freimütig mit Beschuldigungen um sich wirft, Ermittlungsverfahren einleitet und Anträge auf Hausdurchsuchungen stellt, verteidigt Verena Becker selbst nach ihrer Festnahme am vergangenen Donnerstag wegen Mittäterschaft an der Ermordung Bubacks gegen den von Michael Buback öffentlich erhobenen Verdacht, dass sie die Schützin sei.
Wie unhaltbar viele der Urteile gegen ehemalige und vermeintliche RAF-Mitglieder sind, hatte vor zwei Jahren der wegen seiner angeblichen Beteiligung am Buback-Mord zu lebenslänglich verurteilte Knut Folkerts in einem Spiegel-Interview öffentlich gemacht. Er war am Tattag in den Niederlanden. Gleichzeitig betonte der heute 57jährige, dass er »im Gegensatz zu heute vor 30 Jahren als RAF-Mitglied die Aktion gegen Buback richtig fand« und sich für alles, was die RAF in der Zeit tat, politisch und moralisch verantwortlich fühle.

Aber genau diese Form der Aufarbeitung wollen Teile des Staatsapparats auf keinen Fall, weil sie die Dynamik eines neuen Prozesses um die »RAF-Offensive 77« fürchten. Kaum setzt sich zum Beispiel Verena Becker – wie lauthals gefordert – mit Schuld und Verantwortung auseinander, ist auch schon das BKA da und beschlagnahmt ihr Tagebuch, um daraus eine Mordanklage zu basteln. So kann man jede öffentliche und repressionsfreie Aufarbeitung dieser Jahre, wie sie zum Beispiel die Schriftstellerin Carolin Emcke voriges Jahr in ihrem Buch »Stumme Gewalt« über die RAF forderte, vergessen.
Vielleicht war auch alles viel banaler. Vielleicht ahnten BKA und BAW sehr wohl, wer an diesem 7. April geschossen hatte. Nur wollte niemand, der über ein gutes Gespür für Stimmungen in der Bevölkerung verfügte, im Jahr 1977 einen Prozess um das Attentat auf Buback führen. Zu sehr widersprach eine mögliche Täterin Verena Becker dem damaligen Männlichkeitsbild – eine kleine Frau erschießt den großen Mann. Oder wie es die RAF mit einem Mao-Zitat ausdrückte: »Wer keine Angst vor Vierteilung hat, zieht den Kaiser vom Pferd.« Im kollektiven Gedächtnis der BRD haftet dieser rebellische Moment der RAF bis heute an. Wer kennt heute die Politiker von 1977? Aber fast alle Jugendlichen kennen Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin.