Die Wahlergebnisse in Japan

Liberaler als die Liberalen

Nach der Niederlage der LDP verspricht die zukünftige japanische Regierungspartei DPJ einen historischen Wandel, droht aber, an ihren inneren Widersprüchen zu scheitern.

Als die Liberaldemokratische Partei Japans (LDP) im Jahr 2001 Junichiro Koizumi zum neuen Premierminister bestimmte, ahnte sie nicht, dass sie damit mittelfristig ihre Macht untergraben würde. Koizumi trat an, die Seilschaften in der seit 1955 fast ununterbrochen regierenden LDP zu entmachten und ein für Japan seinerzeit unerhört wirtschaftsliberales Reformprogramm durchzusetzen. Bei den Parlamentswahlen 2005 versprach Koizumi den Wandel, nicht gerade das übliche An­liegen einer Regierungspartei, und es gelang ihm mit dieser gewagten Strategie ein über­ragender Wahlsieg. In den drei Jahren nach seinem Rücktritt im Jahr 2006 folgten ihm nicht we­niger als drei Premierminister, die sich gegenseitig darin zu übertreffen versuchten, die Folgen der Politik Koizumis rückgängig zu machen. Knapp ein Jahr nach der Wahl Barack Obamas wur­de nun bei den Unterhauswahlen am Sonntag erneut ein Wandel gefordert, doch diesmal war es die Demokratische Partei Japans (DPJ), die von dieser Stimmung profitierte.
In einem historischen Sieg konnte die DPJ ihre Sitze im Unterhaus von 115 auf 308 vermehren, während die LDP von 300 auf 119 Mandate abrutschte. Zu den zahlreichen Superlativen dieses Wahlergebnisses gehört nicht nur, dass es sich um das schlechteste Wahlergebnis der LDP seit Men­schengedenken handelt, sondern auch, dass der Anteil der Sitze der DPJ mit 64 Prozent der höchste irgendeiner Partei der Nachkriegszeit ist. Überdies müssen zahlreiche Prominente der LDP – darunter sogar ein vormaliger Premierminister –, die ihren Abgeordnetensitz bislang für auf Lebenszeit gesichert halten durften, sich nun mit ihrer Pension begnügen.
Der Wahlsieg kam nicht gerade überraschend. Schon bei den vorigen Wahlen war die DPJ relativ erfolgreich gewesen und hätte sicherlich noch besser abgeschnitten, wenn nicht die Popularität Koizumis der LDP gerade auch die Stimmen der städtischen Wähler gesichert hätte. Vier Premierminister später ist die Popularität der LDP-Führungsriege geschwunden. Während die einschnei­denden Reformen Koizumis die traditionelle Stammwählerschaft in den ländlichen Gebieten verprellt hatten, sorgte nun die teilweise Rücknahme eben dieser Reformen auch noch für das Schwinden der Unterstützung in den Städten.

Die DPJ profitierte überdies davon, dass die Kommunistische Partei Japans (KPJ), diesmal in vielen Wahlkreisen keine Kandidaten für die Direktwahl mehr aufstellte, die ohnehin kaum Aussicht auf Erfolg gehabt hätten. Die bislang der KPJ zukommenden Stimmen gingen nun in der Regel an die Kandidaten der DPJ, die sich damit auch bei knappen Mehrheitsverhältnissen gegen die Konkurrenten der LDP durchsetzen konnten.
Abgesehen von solchen technischen Finessen war es aber zweifellos auch das Wahlprogramm der DPJ, das in diesem Jahr bei den Wählern gut ankam. Die DPJ konnte mit mehreren konkreten Vorschlägen auftrumpfen, die großen Zuspruch fanden. So trat sie für die Einführung eines Kindergeldes in Höhe von monatlich etwa 200 Euro ein, für die Abschaffung von Autobahngebühren und für den kostenlosen Besuch aller öffentlichen Oberschulen. Auffällig am Wahlprogramm ist die Absicht, das tatsächlich verfügbare Einkommen der Bürger zu erhöhen. Neben den genannten Maßnahmen möchte die DPJ noch die Benzinsteuer abschaffen und die Stipendien für den Besuch einer Universität erhöhen. Durch eine Erhöhung des Anteils der privaten Haushalte am Nationaleinkommen soll der private Konsum dauerhaft ge­steigert werden. Um konkrete Aussagen darüber, wie sie die Rezession infolge der Weltwirtschaftskrise zu bekämpfen gedenkt, drückt sich die DPJ hingegen herum, wie auch die einzige andere Aussage ihres Parteiprogramms zur Wirtschaftspolitik, die Förderung von Schlüsseltechnologien wie IT oder Biotechnologie, zeigt.
Neben großzügigen wohlfahrtsstaatlichen Plänen finden sich auch wirtschaftsliberale Vorstellungen im Parteiprogramm, ein Ergebnis der Spannungen in der DPJ. So soll die Körperschaftssteuer für Klein- und Mittelbetriebe um elf Prozent gesenkt und die Liberalisierung des Welthandels vorangetrieben werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die gleich an erster Stelle genannte »Vermeidung von unnötigen Steueraus­gaben« sowie der Abbau der Bürokratie und die Stärkung der Politik, insbesondere der Macht des Premierministers. Die DPJ ist schließlich, wie die LDP auch, keine ideologisch kohärente Partei, sondern eine Interessenkoalition, in der die Ansichten vielleicht sogar noch widersprüchlicher sind als in der LDP.
So gibt es auf der einen Seite Leute wie Katsuya Okada, der Generalsekretär der Partei ist und als sicherer Kandidat für einen Kabinettsposten gilt. Er ist ein ehemaliger Bürokrat aus dem Außenwirtschaftsministerium, war früher LDP-Mitglied und sagt von sich selbst, dass er »den Marktliberalismus Koizumis noch übertreffen will«. Dagegen steht auf der anderen Seite eine Feministin wie Yoriko Madoka, die einzige Frau im zehnköpfigen Parteivorstand der DPJ. Sie ist in der Vergangenheit für eine Entschädigung für ehemalige Zwangsprostituierte und gegen ein verschärftes Überwachungsgesetz eingetreten.

In der Führungsspitze dominieren Männer wie Okada, die meisten von ihnen ebenfalls ehemals LDP-Mitglieder. Nicht wenige von ihnen haben die LDP nicht inhaltlicher Differenzen wegen verlassen, sondern weil sie glaubten, ihre Karrierevorstellungen dort nicht verwirklichen zu können. Zu dieser Riege gehört nicht nur der Spit­zenkandidat und designierte Premierminister Yukio Hatoyama, sondern auch die graue Eminenz der Partei, Ichiro Ozawa, der erst vor kurzem wegen eines Spendenskandals vom Parteivorsitz zurückgetreten ist. Er geht aber aus den Wahlen gestärkt hervor, war er doch nach dem Skandal zum Sonderbeauftragten der Partei für den Wahlkampf ernannt worden, und profitiert nun von dessen Erfolg.
Auf der anderen Seite gibt es durchaus berechtigte Hoffnung, dass sich progressive Positionen wenn schon nicht in der Wirtschaftspolitik, so doch in anderen Bereichen werden durchsetzen lassen. Diese Hoffnung gründet sich vor allem darauf, dass die DPJ, obwohl sie fast über eine Zwei­drittelmehrheit im Unterhaus verfügt, wohl eine Koalitionsregierung mit kleineren, progressiveren Parteien bilden wird, weil sie auf diese für eine Mehrheit im Oberhaus angewiesen ist. So könnte das schon seit längerer Zeit diskutierte kom­munale Wahlrecht für Ausländer mit dauerhafter Aufenthaltserlaubnis nun endlich eingeführt werden. In der DPJ ist es zwar nicht unumstritten, doch es könnte nach Verhandlungen ein Teil der Koalitionsvereinbarungen werden. Im­merhin sagte selbst der designierte Premierminister Hatoyama kürzlich in einem Interview, die japanischen Inseln seien nicht das Eigentum der Japaner allein, wofür er von den Rechten scharf kritisiert wurde.
Auch in der Außenpolitik könnte es Veränderungen geben, obwohl das Wahlprogramm der DPJ hier, wie in so vielen anderen Bereichen, eher zweideutig ist. So soll das Bündnis mit den USA weiterhin an erster Stelle stehen und die Beteiligung an UN-Friedensmissionen fortgesetzt werden, andererseits will man die Bemühungen um die weltweite Ächtung von Atomwaffen verstärken. Hatoyama forderte, die drei antinuklearen Prinzipien (kein Besitz und keine Produktion von Atomwaffen, keine Stationierung auf japanischem Boden), die bislang informeller Konsens in der japanischen Politik sind, sollten gesetzlich festgeschrieben werden.

Kein Wort findet man hingegen im umfangreichen Parteiprogramm der DPJ zum derzeit vielleicht drängendsten gesellschaftlichen Problem, der dra­matischen Zunahme der prekären Arbeitsverhältnisse, auch infolge gesetzlicher Vorgaben, mit denen man die Beschäftigungsverhältnisse »flexibler« zu gestalten will. Zum Selbstbild der japanischen Gesellschaft gehörte lange die Vorstellung, in einem Land zu leben, in dem 90 Prozent der Bevölkerung eine Mittelschicht bilden. Die etwa seit dem Jahr 2000 immens gewachsenen sozialen Unterschiede waren ein Schock und sind Gegenstand intensiver öffentlicher Debatten geworden.
Umso enttäuschender ist es, dass nichts davon Niederschlag im Programm der sich selbst zur Alternative stilisierenden großen Partei Japans ge­funden hat. Obwohl einige Reformen zu erwarten sind, könnte es also sein, dass die Gruppe der Konservativen letztlich die entscheidenden Posten besetzt und unter anderem Namen weitgehend unverändert die Politik der LDP fortführt. Die japanischen Wähler dürfte das wenig überraschen, sie sind schließlich seit nunmehr 54 Jahren nichts anderes gewohnt.