Über so genannte Ehrenmorde an Schwulen in der Türkei

Nicht mehr mit Lügen leben

Ahmet Yildiz bekannte sich zu seiner Homosexualität. Im Juli des vergangenen Jahres wurde der türkische Physikstudent erschossen. Am 8. September beginnt in Istanbul die Gerichtsverhandlung, der Hauptverdächtige ist der Vater des Ermordeten.

Ahmet Yildiz hatte den ganzen Tag für seine Prüfungen gepaukt. Der 26jährige studierte Physik an der Marmara-Universität in Istanbul. Es war sehr heiß in der Nacht vom 17. auf den 18. Juli 2008. »Ich gehe uns noch ein Eis holen«, sagte er, verließ die Wohnung, setzte sich in sein Auto und ließ den Wagen an. Dann übertönten Schüsse jedes andere Geräusch. Ahmet Yildiz verlor die Kontrolle über den Wagen. Er stieß erst rückwärts gegen parkende Autos, um dann vorwärts gegen eine vor einer Apotheke parkende Fahr­zeugreihe zu prallen.
Diese Erinnerung hat sich dem Kölner Ibrahim Can eingebrannt wie ein sich immer wieder abspulender Albtraum. Er war zum Fenster der Wohnung von Ahmet Yildiz gestürzt, sobald die Schüsse ertönten. Die beiden hatten den gemeinsamen Urlaub in Antalya frühzeitig beendet, weil die Prüfungen bevorstanden. Ibrahim Can war als erster am Wagen seines Freundes. »Ich habe nur wie von Sinnen gebrüllt: ›Stirb nicht!‹ Ahmet machte noch einmal kurz die Augen auf, aber er sah schon nichts mehr, er war sofort tot.«
Es war gegen 23 Uhr im Stadtteil Üsküdar auf der asiatischen Seite von Istanbul. Passanten eilten herbei, darunter die Besitzerin des Cafés Tuana, vor dem Ahmet Yildiz getötet worden war. Ümmühan Daraman hatte vor Schreck und Entsetzen noch gar nicht registriert, dass der Querschläger eine der abgefeuerten Schüsse sie an der linken Ferse verletzt hatte. Sie saß mit ihrer Schwester, ihrem Sohn und einer Nachbarin vor dem Café, als das Attentat verübt wurde. Der Polizei gab sie zu Protokoll, neben Ahmet Yildiz’ Fahrzeug zwei Wagen in der Straße gesehen zu haben, einen Fiat und eine Limousine mit dunklen Scheiben.

Aus welchem Auto die Schüsse abgefeuert wurden, wer die Täter waren und wie viele Tatbeteiligte es gab, konnte keiner der Anwesenden bezeugen. Alles war zu schnell gegangen, die Konzentration aller galt der Rettung von Ahmet Yildiz. Doch für den jungen Studenten kam jede Hilfe zu spät. Im Krankenhaus konnte nur festgestellt werden, dass die beiden Kugeln im Brustkorb unmittelbar tödlich gewesen waren. Im Polizeiprotokoll heißt es: »Die Schussverletzungen sind dem Opfer so beigebracht worden, dass eine Tötungsabsicht stark zu vermuten ist.«
Für alle, die Ahmet Yildiz kannten, ist klar, dass der bekennende Schwule Opfer eines »Ehrenmordes« geworden ist und die Familie hinter dem Attentat steckt. Auch die Ermittlungen der Polizei konzentrieren sich mittlerweile auf den Vater als Hauptverdächtigen. Yayha Yildiz, der eigentlich im südlichen Mersin wohnt, hatte sich in den Tagen, als sein Sohn erschossen wurde, in Istanbul einen Fiat von einem Bekannten geliehen. Aus den Daten seines Mobiltelefons konnte ermittelt werden, dass er sich zwei Tage vor dem Mord und zur Tatzeit in Üsküdar befand. Nach der Tat verschwand er ins Ausland. Aus abgehörten Telefonaten folgert die türkische Polizei, dass er sich vermutlich in der nordirakischen Stadt Zakho aufhält.
Ibrahim Can, der Liebhaber aus Deutschland, rührt gedankenverloren in seinem Cappuccino. Er sitzt am belebten Taksim-Platz in der Kneipe Birramanca neben dem McDonald’s. Der 44jäh­rige Reisekaufmann hatte den Studenten im Juli 2007 während seines Urlaubs vor dem in Istanbul bekannten Gay-Club Tekyön getroffen. Der belesene Student schenkte seinem Freund aus Deutschland zum Abschied eine Reihe seiner Lieblingsbücher von Orhan Pamuk, Elif Safak und Murathan Mungan, türkischen Autoren mit einer ausgefeilten Sprache und anspruchsvollen Inhalten. »Ich hatte Orhan Pamuks Bücher vorher immer gemieden«, lacht der Kölner. »Schien mir zu anstrengend. Doch dann las ich sie und war begeistert.«

Aus dem Flirt entwickelt sich eine ernsthafte Beziehung. Das Paar chattet viel im Internet. Ahmet Yildiz ist kein Aktivist in der Schwulenbewegung, aber er ist ein Teil von ihr. Er befasst sich viel mit den Themen Ehrlichkeit und Selbstrespekt und schreibt manchmal für das Internetportal der türkischen Bären, beargi.com. Die Bären sind in der Türkei eine Fraktion der Schwulenbewegung, die eine von patriarchalischen Zwängen befreite anatolische Männlichkeit favorisiert. Im Jahr 2007 war Ahmet Yildiz mit Freunden zu einem Homosexuellen-Festival nach San Francisco gereist. Auf einem Foto ist ein fröhlich lächelnder junger Mann vor einem Lattenzaun in Regenbogenfarben zu sehen.
Nach der Reise reflektiert er verstärkt die widersprüchlichen Moral- und Rollenvorstellungen in seiner Familie. Ursprünglich sind die Yildiz Kurden aus dem ostanatolischen Urfa, Mitglieder des weitverzweigten Clans der Mersawi. Ahmet ist der einzige Sohn, außer ihm gibt es nur zwei jüngere Schwestern. Die Familie zieht in den siebziger Jahren in die südöstliche Mittelmeerstadt Mersin. Der Vater betreibt eine Obst- und Gemüsenkonservenfabrik und verdient viel Geld mit Exporten. In Mersin wird 1982 Ahmet geboren.
Als er zehn Jahre alt ist, gesteht er seinem Vater, von einem Verwandten vergewaltigt worden zu sein. Für die Familie bedeutet dies einen Ehr- und Gesichtsverlust. Yahya Yildiz zieht es vor, die Vorwürfe seines Sohnes gegen den Verwandten zu ignorieren. Stattdessen verpasst er dem kleinen Jungen eine Tracht Prügel und schimpft ihn einen Lügner. Als Ahmet später seine Homosexualität entdeckt, hat er längst gelernt, dass Heimlichkeit überlebensnotwendig ist.
»Es gab für ihn genug Gelegenheiten«, reflektiert Ibrahim Can die Erinnerungen an Ahmets Schilderungen seiner Jugendsexualität. »Im Grunde ist Homosexualität gerade auch auf dem Lande in der Türkei weit verbreitet. Aber alle machen die Augen zu. Ahmet hatte Beziehungen zu den Landarbeitern seines Vaters und zu Mitschülern, aber das blieben unausgesprochene Geheimnisse.«

Mehr Freiheit genießt der junge Physikstudent, nachdem er das Elternhaus verlassen hat. Er wohnt zwar zunächst mit der 22jährigen Schwester zusammen, auch die Mutter ist oft zu Besuch, doch als junger Mann darf sich Ahmet die Freiheit herausnehmen, nach Hause zu kommen, wann er will. Nur die Wohnung als Liebesnest ist in Anwesenheit der Verwandten tabu. Das beginnt lästig zu werden, als Ahmet Yilmaz den Kölner Ibrahim Can kennen lernt. Er wünscht sich mehr Unabhängigkeit.
Mittlerweile gehen die Exportgeschäfte des Vaters schlecht. Ahmet finanziert sich selbst durch Physiknachhilfestunden, wegen des komplizierten Universitätsaufnahmeverfahrens in der Türkei ist eine außerschulische Vorbereitung auf diese entscheidende Prüfung gang und gäbe. Der Student wird ein gesuchter Lehrer. Schließlich zieht er aus der gemeinsamen Wohnung mit der Schwester in eine eigene in Üsküdar. Dieser Schritt wird von der Familie nicht einfach hingenommen. Da Ahmet nicht verheiratet ist, besteht für sie keine Rechtfertigung für seinen Wunsch, allein leben zu wollen. Schließlich erklärt Ahmet seinem Vater am Telefon die wahren Gründe. Es folgen Wochen der Anrufe und Schuldzuweisungen, bis der Student den Kontakt zu seiner Familie abbricht.
Ibrahim Can reflektiert diese Zeit mittlerweile kritisch. Er hat Ahmet natürlich nie hineingeredet und ihn in seinen Entscheidungen unterstützt. Doch wenn er in Istanbul zu Besuch war, blieben ihm viele Konflikte seines Freundes verborgen. Der managte drei Handys, eines für die Nachhilfeschüler, eines für Freunde und eines für die Familie. Und wie die Telefone trennt Ahmet Yildiz oft auch seine Lebenssphären voneinander.
Als der Vater acht Monate nach dem Kontakt­abbruch in Istanbul auftaucht, ist Ahmet froh, auch die Mutter kommt gleich angereist. Sie haben einen Weg ersonnen, wie sie ihren Sohn von der ihrer Ansicht nach schweren Krankheit der homosexuellen Perversion befreien können. Ahmet muss zum Arzt, um sein Vergewaltigungstrauma zu überwinden. Perfide schließt sich der Kreis aus Lügen und Verdrängung. Zum zweiten Mal bricht der Student den Kontakt zu seiner Familie ab und veröffentlicht einen Brief auf dem Internetportal der türkischen Bären. Dort analysiert er die Beengtheit seines Elternhauses, das von patriarchalischen Wertvorstellungen und starrer Frommheit geprägt ist, mit einem lamentierenden und strafenden Vater und einer weinenden und betenden Mutter.
»Endlich muss ich nicht mehr mit Lügen leben«, schreibt er, doch er berichtet auch davon, dass er Todesdrohungen erhalte. »An dem Punkt beschlossen wir, zur Polizei zu gehen«, sagt Ibrahim Can, der im Februar 2008 bei der Anzeige im Gericht von Üsküdar vor der Staatsanwaltschaft als Zeuge auftrat. Die Polizei unternahm nichts, obwohl die Beamten mittlerweile angehalten sind, im Falle eines drohenden »Ehrenmordes« sofort tätig zu werden.
Im Istanbuler Büro des Homosexuellenverbandes Lambda wundert sich niemand über diese Tatenlosigkeit. Die Psychologin Izlem Aybastı korrigiert energisch die Schlagzeile in der britischen Tageszeitung Independent. Dort hieß es am 19. Juli 2008, Yildiz sei das erste schwule Opfer eines »Ehrenmordes«. »Es gibt natürlich viele homosexuelle Ehrenmordopfer, nur werden diese Fälle meist als unaufgeklärte Morde vertuscht.«

Auch nach der Ermordung von Ahmet Yildiz waren weder Staatsanwaltschaft noch Polizei sehr erpicht auf ein Ermittlungsverfahren. Sogar die Zeugen des Mordes wurden eingeschüchtert. Als die Cafébesitzerin Ümmühan Daraman Anzeige wegen Körperverletzung erstattete, winkten die Polizisten zunächst ab. »Sei froh, dass die Kugel nur deinen Fuß getroffen hat und nicht deinen Kopf«, wurde ihr gesagt. Als die Geschäftsfrau auf einer Anzeige bestand, wurde zwei Tage später ihr Café beschossen. Sie erstattete erneut Anzeige gegen Unbekannt wegen Sachbeschädigung.
Lambda schließt nicht aus, dass diese Aggression von den als homophob bekannten Sicherheitskräften selbst ausging. Homosexualität wird vereinzelt sogar in der Gesetzgebung noch als »Störung« behandelt. So können sich Schwule als untauglich vom Militärdienst befreien lassen, wenn sie diskriminierende Schikanen wie den Nachweis von Analverkehr über sich ergehen lassen. Mehrere homosexuelle Rekruten berichteten in der Vergangenheit von der Auflage, eine Videoaufnahme vorzuweisen.
Homosexualität wird in der Türkei als Kündigungsgrund akzeptiert. Sie ist zwar, anders als in vielen anderen Ländern des Nahen Ostens, nicht verboten, doch »Verhalten gegen die öffentliche Moral und den Schutz der Familie« ist strafbar. In der Rechtspraxis kommt es immer wieder zu Missbrauch durch die Sicherheitskräfte. Der im Mai 2008 von Human Rights Watch zu Menschenrechtsverletzungen wegen der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität veröffentlichte Bericht nennt ein breites Spektrum an Problemen, einschließlich Vergewaltigung und Folter durch türkische Polizisten. 89 Prozent der für den Bericht interviewten Transsexuellen erzählen von körperlicher und sexueller Gewalt, der sie ausgesetzt sind. Aus Angst vor weiterer Demütigung wenden sich nur wenige in ihrer Not auch an die Polizei.
Bei Lambda gibt es verschiedene Arbeitsgruppen und Kommissionen, die sich mit den vielfältigen Problemen auseinandersetzen. Seit 2007 etwa trifft sich regelmäßig eine Transvestiten- und Transsexuellengruppe, es existiert auch ein Gesprächskreis für Angehörige von Homosexuellen. Angehörige nehmen mittlerweile auch an den Protestveranstaltungen teil und tauchen in den Medien auf, um zu demonstrieren, dass es auch Beispiele von Akzeptanz und Toleranz in den Familien gibt.
Ahmet Kaya etwa ist von Beruf Arzt und leitet den Gay-Club Bearphorus am Istanbuler Taksim-Platz, einen Treffpunkt der türkischen Bärenszene. Ein kleines Lokal, in dem es sogar den Berliner Bären Knut als Maskottchen aus Stoff gibt. Kayas sonst lebhaft freundliche Augen verdunkeln sich, als von Ahmet Yildiz die Rede ist. Der 38jährige lernte den Studenten in einem der Chat­räume der türkischen Bären kennen. Sie entdeckten eine entfernte Verwandtschaft. Auch Ahmet Kaya stammt aus Urfa, aus dem gleichen kurdischen Clan, und ist einer der Mitbegründer der türkischen Bärenszene.
Noch als Arzt am Krankenhaus von Urfa gab Ahmet Kaya ein Underground-Heft der Bären heraus, das auf dem Laptop produziert und dann in Form von Textsammlungen verteilt wurde. Als seine Neffen entsprechende Dateien auf dem Computer des Onkels ausspionieren, ist bald die gesamte Familie informiert. Es passiert jedoch nichts. Brüder und Eltern akzeptieren die sexuelle Orientierung des Sohnes.
Ahmet Kaya hat den Mord an Ahmet Yildiz, dessen Eltern er kennt, nicht erwartet. Als ältester Sohn sei der doch geliebt worden und habe eine zentrale Rolle in der Familie innegehabt. »Das war aber vielleicht auch der schwache Punkt«, gibt der Arzt zu bedenken. »Das sind ja auch nicht nur die Eltern, Onkel und Großeltern werden die Familie bedrängt haben, ein bekennender Schwuler sei nicht tragbar. Zur Räson bringen oder besei­tigen.«
Auch Ahmet Yildiz wird vermutlich trotz der Todesdrohungen, die er erhalten hatte, nicht wirklich mit seiner Ermordung gerechnet haben. Auf dem Bärenportal schrieb er zwei Monate vor seinem Tod: »Eine Seite von mir wird sich nie von meiner Familie trennen. Aber die andere kann diese Zusammentreffen nicht mehr ertragen, die mich zur Verzweiflung bringen. Ich muss mich auf die Heilkraft der Zeit verlassen.«
Am 8. September beginnt nun ein Verfahren gegen den abwesenden Yahya Yildiz, Ahmets Vater. Die Cafébesitzerin Ümmühan Daraman und auch der Schwulenverband Lambda werden versuchen, als Nebenkläger akzeptiert zu werden. Ihr Anwalt Firat Soyle weiß jedoch, wie kompliziert solche Verfahren sind, wenn Tatverdächtige sich erst einmal ins Ausland abgesetzt haben. »Die Ermittlung des Aufenthaltsortes und der Auslieferungsantrag können sich über Jahre hinziehen«, meint er lakonisch. Es zeichnet sich jetzt allerdings schon ab, dass der Fall Ahmet Yildiz in der Türkei für die Menschenrechts- und Homosexu­ellenbewegung Symbolcharakter hat. Auf den dies­jährigen Veranstaltungen zur Gay-Pride-Week war er ein zen­trales Thema, für den Prozessauftakt werden Hunderte von Besuchern aus dem In- und Ausland erwartet.