Über das antirassistische NoBorder Camp auf Lesbos

Bodycount im Mittelmeer

Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen am No-Border-Camp 2009 auf Lesbos kritisierten das europäische Grenzregime und unterstützten den Protest der Migranten im Internierungslager von Pagani mit direkten Aktionen. Zu einer Beteiligung der Flüchtlinge an den Debatten und Aktionen, die auf dem Camp stattfanden, kam es jedoch kaum.

Zuwarah, im Norden Libyens. In einer Nacht Mitte August gingen hier 78 Eritreer und Sudanesen an Bord eines ausgebauten Schlauchbootes. Unter ihnen, so berichteten diejenigen, die die Reise überstanden haben, später der Küstenwache von Malta, seien ein Kind und acht Frauen, vier davon schwanger. Auch nachts herrschten fast 30 Grad, die See war ruhig. 214 Seemeilen hatten sie vor sich, bis nach Europa.
Einige Tage später meldete die italienische Presseagentur Ansa, dass 73 von ihnen gestorben waren. Zwei Tage nach ihrer Abfahrt waren die See rauh und der Tank leer geworden. Wellen spülten einige der Passagiere ins Meer, andere verdursteten, die Überlebenden warfen die Leichen über Bord. Tagelang trieb das Boot im Wasser. Als es aufgefunden wurde, entdeckte die maltesische Küstenwache in der Nähe sieben Leichen. Noch am selben Tag, am 20. August, aktualisierte der italienische Autor Gabriele del Grande seinen Blog. Er zählt die toten Migranten an den südlichen EU-Außengrenzen, an diesem Tag kam er auf 14 794 Menschen.
Zur gleichen Zeit begann über 1 100 Kilometer weiter östlich, auf der griechischen Sporaden­insel Lesbos, mit einem Hungerstreik in einem Internierungslager für Flüchtlinge das No-Border-Camp 2009 – bereits vor seiner offiziellen Eröffnung am 25. August. Seit Monaten hatte die antirassistische Szene zu dem Protest aufgerufen. Ein einheimischer Wirt stellte einen Pinienwald im Süden der Insel bereit, und langsam trafen die Leute aus Ländern wie Weißrussland, Australien, Spanien, Italien und vor allem Deutschland dort ein. Ein Kollektiv aus Freiburg baute die Küche auf, Freiwillige gruben mit Bauzaun und Plane umstellte Löcher in den felsigen Boden, weil die festen Toiletten nicht für die 500 Teilnehmer und Teilnehmerinnen reichten. Die Aktivisten trafen sich hier, weil immer weniger Papierlose den Weg wählen, der die 73 Ostafrikaner das Leben kos­tete. Spanien und Italien haben alle Fluchtrouten weitgehend dicht gemacht. Den vorläufigen Höhepunkt der EU-Grenzsicherung stellt das mit fünf Milliarden Dollar erkaufte libysch-italienische »Freundschaftsabkommen« von 2008 dar. Seither schickt Italien Migranten nach Libyen zurück, wo sie in Gefängnissen systematisch misshandelt werden. Immer häufiger wählen Flüchtlinge deshalb die Meerenge zwischen der Türkei und Griechenland. »Hier herrscht gerade eine unglaubliche Dynamik«, sagt Olaf von der deutschen No-Lager-Initiative. Dies gilt nicht nur für die politische Gemengelage, sondern auch für das Camp.
Am 20. August traten 150 minderjährige Flüchtlinge im so genannten Welcome Center von Paga­ni in einen Hungerstreik. In diesen Lagern sperrt Griechenland alle Papierlosen zur Regis­trierung in so genannte administrative Haft. Gegen die Bestimmungen der Genfer Konvention und der UN-Kinderrechtskonvention hat die Polizei insgesamt 1 000 Menschen hinter die Gitter von Pagani gepfercht – Platz ist dort offiziell für 300. Teilweise sind die Inhaftierten seit über 100 Tagen dort.

Die vorab angereisten Aktivisten und Aktivistinnen ziehen an diesem Tag vor das Lager und schmuggeln eine Videokamera hinein. Wenige Stunden später wird ein vierminütiger Clip ins Netz gestellt. Dort ist zu sehen, wie über 100 Jungen und Männer in einem einzigen Raum eingeschlossen sind. Kaum ein Quadratmeter ist nicht mit Betten oder Matratzen vollgestellt. Es gibt keinerlei Bewegungsfreiheit, die Hitze muss brütend sein. »Es gab nur zwei Toiletten, das Wasser lief über den Boden, viele mussten auf nassen Matratzen schlafen. Der Gestank war unerträglich«, berichtet später ein junger Paschtune namens Ahmad.
Der Sinn dieses Lagers sei es, den Flüchtlingen die in der Türkei auf die Überfahrt warten, zu zeigen: Wenn du nach Griechenland kommst, gehst du durch die Hölle, sagt Karl Kopp, der von Pro Asyl zu dem Camp gereist ist. Vor zehn Tagen sei eine schwangere Frau zur Entbindung aus Pagani ins Krankenhaus gekommen, um anschließend sofort zurückgebracht zu werden. Auch habe die Polizei eine Leukämiekranke dort festgehalten. Eine Delegation, die das Lager besuchen durfte, berichtete, ein Baby sei vor Wochen in eine der Männerzellen gesteckt worden, ohne dass die Männer gewusst hätten, wer der Vater sein könnte.
Nach und nach werden Zeitungsredaktionen und Nachrichtenagenturen auf das Video aufmerksam. Die Bilder machen den Skandal zur Nachricht. Dabei existiert Pagani bereits seit Jahren.
Von da an ist für die Protestierenden auf Lesbos klar: Die Schließung von Pagani ist das dringlichste Ziel des Camps. Geplant war dies nicht. Eigentlich sollten sich die Aktionen vor allem gegen die Küstenwache und die EU-Grenzschutzagentur Frontex richten.
Anders als Italien und Libyen sind die Türkei und Griechenland nicht »befreundet«. Der mög­liche EU-Beitrittskandidat weigert sich, mit den EU-Grenzbehörden zu kooperieren – wohl, um sich Verhandlungsmasse zu erhalten. Papier­lose jedenfalls können nicht legal dorthin zurückgeschickt werden. Griechenland sieht sich deshalb migrationspolitisch vor ein Problem gestellt. Aus dem Osten kommen die Flüchtlinge, im Norden gibt es die Abwehrmechanismen der großen EU-Staaten. Lange hatte die Regierung Papier­lose, bis auf eine Registrierung im Biometrie-Register Eurodac und die vorübergehende administrative Haft, sich selbst überlassen. Doch nun haben sich die Hauptzielländer mit der Drittstaatenregelung, Eurodac und dem Dublin-II-Abkommen ein Instrumentarium geschaffen, um Flüchtlinge wieder an die südlichen Einfallstore Europas zurückzuschaffen oder dort zu halten. Griechenland wurde mit dem Problem buchstäblich alleingelassen.
Zur Unterstützung ankert deshalb nun ein von Rumänien gestelltes Frontex-Schiff im Hafen von Mytilini. »Dieses Schiff verlässt jede Nacht mit abgedunkelten Schweinwerfern die Mole, um Jagd auf Menschen zu machen«, sagt Anne Morell von der Organisation Kein Mensch ist illegal. »Frontex ortet die Flüchtlingsboote und die griechische Marine übernimmt die Drecksarbeit.« Um jeden Preis versucht man, die Papierlosen von griechischen Gewässern fernzuhalten. Flüchtlingen zufolge geschieht dies teils durch die Erzeugung von Wellen, teils durch Misshandlungen, Schläge, die Entwendung von Paddeln, Geld und Handys sowie durch das Aufschlitzen der Schlauchboote. Vor dem Camp sprach die Journalistin Marily Stroux mit vielen der Flüchtlinge und nahm entsprechende Zeugnisse auf. »Die Migranten und Migrantinnen werden hier gejagt, nicht gerettet«, sagt sie.

Seit rund zehn Jahren gibt es die No-Border-Camps, mit denen die antirassistische Szene neuralgische Punkte des europäischen Grenzregimes sichtbar macht und dabei lokale Initiativen unterstützen will. Doch waren die Camps auch wichtig für die interne Debatte, so hatten sie meist nur eine begrenzte politische Wirkung. Auf Lesbos könnte die politische Bilanz besser ausfallen.
Nach dem Hungerstreik in Pagani wurden 38 Flüchtlinge aus dem Lager entlassen und zogen ins No-Border-Camp. Hier warten sie nun darauf, dass sie mit einer Fähre die Insel verlassen können. Doch wegen der Hauptsaison dauert alles etwas länger als geplant, und so sitzen einige Tage lang Somali-Frauen mit ihren traditionellen Kopftüchern und junge Männer aus Äthiopien und Afghanistan zwischen den Zelten der Polit-Aktivisten.
Diese haben in der Zwischenzeit ein eigenes »Welcome Center« eröffnet. Im Hafen von Mytilini steht ein blaues Zirkuszelt, davor steht ein Infostand für die lokale Bevölkerung, dort werden Informationen weitergegeben und es werden Essen und Decken für ankommende Flüchtlinge verteilt.
Fast jede Nacht erreichen in diesen Tagen Bootsflüchtlinge, die der Küstenwache entgehen konnten, Lesbos. Um der administrativen Haft zu entgehen, schlafen sie im Zirkuszelt oder werden ins Grenzcamp gebracht. So bleibt ihnen die Regis­trierung, die ein Asylverfahren in einem anderen Land als Griechenland fast unmöglich macht, vorerst erspart. Andererseits lässt die Polizei Flüchtlinge meist nur dann auf die Fähre nach Athen, wenn sie registriert sind. Und die Regis­trierung gibt es nur nach der Tortur in Pagani.
Am 24. August besucht Giorgos Tsarbopoulos, der UNHCR-Repräsentant in Griechenland, das Internierungslager. »Das hier ist völlig inakzeptabel«, sagt er. Kurz danach fordert auch die UNHCR-Zentrale in Genf die griechische Regierung auf, das Lager sofort zu schließen, ebenso wie der Präfekt von Lesbos. Die griechische Regierung den­ke darüber nach, hieß es.
Viele im Camp wollen die Sache am liebsten in die eigene Hand nehmen. Doch wie? Darüber wird lange gestritten. Einige wollen das Lager besetzen, andere die Türen aufbrechen, andere nur symbolisch demonstrieren. Auf stundenlangen Plena wird immer wieder auf die Risiken verwiesen. Eine griechische Aktivistin fürchtet, bei einem Tränengaseinsatz könnten »kleine Kinder im Lager sterben, und dann müssten wir uns schämen«. Andere lehnen eine Befreiungsaktion ab, weil nur offiziell Entlassene das für die Fähr­über­fahrt nach Athen nötige Papier bekommen. Die aus Pagani entlassenen Flüchtlinge, die im Camp sind, beteiligen sich nicht an den politischen Diskussionen, währenddessen kochen sie in der Volksküche somalischen Reis mit Zucchini.
2003, beim Grenzcamp in Köln, zerstritt sich die antirassistische Szene über die Frage, wie stark Flüchtlinge in den Grenzcamps beteiligt werden müssen – denn die Camps waren faktisch eine »weiße« Initiative mit »weißen« Aktionsformen. Nach dem Abendessen entsorgt ein Somali seinen Plastikteller in einem Sack neben der Essensausgabe. Er wird zurückgerufen: »We separate our garbage here«, sagt die Kompostbeauftragte. »Here«, sie zeigt auf den Sack mit Essensresten, auf den er seinen leergegessenen Teller gelegt hat, »only organic. You understand?« Er versteht. Zu den Debatten um den großen Aktionstag könnten viele der Papierlosen auch etwas beitragen, aber so richtig fragt sie niemand, ob sie sich beteiligen wollen.
Am 25. August fahren die Aktivisten zu einem Solidaritätsbesuch nach Pagani. Es gibt ein paar Rangeleien mit der Polizei, dann zieht man sich zurück. In drei Tagen will man zurückkommen – am Freitag ist der große Aktionstag geplant.
Am Donnerstag machen sich die 38 Flüchtlinge aus dem Camp auf nach Athen. Mit einer großen Farewell-Parade begleiten einige hundert Menschen sie zum Schiff. Als die Flüchtlinge sich am Fähranleger verabschieden, stehen vielen Tränen in den Augen. Der Präfekt kündigt die Einrichtung eines neuen, dauerhaften Aufnahme­lagers für Minderjährige an.
Abends entlässt die Polizei knapp 100 Flüchtlinge aus Pagani. Dennoch sind viele im Camp wütend, denn versprochen waren 450 Freilassungen. Die Entlassenen werden in einem offenen, alten Kinderferienlager am Flughafen untergebracht. Eine 22köpfige afghanische Familie kann durchsetzen, dass sie vom Welcome Point der Grenzcamper direkt dorthin gehen kann und registriert wird – ohne sich in Pagani einsperren zu lassen. Es ist das erste Mal, dass die Polizei auf Lesbos sich darauf einlässt.
In dem neuen Lager ist auch Mesud aus dem afghanischen Herat. Die Qualen von Pagani sieht man ihm nicht an. Er trägt ein beiges Hemd, und tags darauf will er sich die Haare schneiden lassen, obwohl seine Frisur noch ganz ordentlich ist. Vier Tage soll er hier bleiben, »dann gibt es wieder Plätze auf der Fähre nach Athen«, sagt er und lacht. Wenn man ihn nach den Taliban fragt, dann lacht er nicht. Vor Monaten machte er sich wegen ihnen auf die Reise, zuerst alleine, mit dem Esel, dann zu Fuß über die Grenze. Im Iran traf er auf einen anderen jungen Afghanen, der dort auf einer Rosenfarm arbeitete. Gemeinsam zogen sie weiter, landeten in Pagani, traten in den Hungerstreik. Als er erzählt, dass die Polizei sich dort immer wieder geweigert habe, den von Mageninfektionen geplagten Häftlingen Ärzte zu holen, tritt ein anderer Afghane zu der Gruppe. Er hat einen Anruf aus Athen bekommen. Dort hätten gerade Rechte einen jungen Afghanen, der aus Lesbos kam, mit einem Messer niedergestochen, erzählt er. Es sei unklar, ob er überlebt. Was Mesud tun will, wenn er sein Ziel erreicht? »Pläne? Ich habe keine Pläne. Höchstens Träume. Das Leben als Flüchtling kann man nicht planen.«

Der Aktionstag am Freitag floppt. Die Polizei hat alles abgesperrt, die Demonstranten ziehen nach drei Stunden wieder ab. Kein Tränengas, keine Befreiung, nur Sprechchöre über einen quer geparkten Polizeibus hinweg. Weißrussische Autonome schwitzen unter ihrer schwarzen Montur.
Am nächsten Tag sieht alles anders aus. Es gibt eine kleine Revolte im Lager, Häftlingen gelingt es, in den Innenhof zu kommen. Sie beginnen einen neuen Hungerstreik. Etwa 50 Grenzcamper kommen zu ihrer Unterstützung hinzu. Zwei Busladungen mit Flüchtlingen werden entlassen, doch der Erfolg ist zweifelhaft: Die Entlassungspapiere tragen das Datum von vor einer Woche. Die Aktivisten dringen in den Vorhof des Lagers ein, einige der Flüchtlinge begrüßen sie jubelnd, andere fordern sie auf abzuhauen. Sie fürchten um ihr Registrierungspapier, wenn es zur offenen Konfrontation kommt. Nach einer Stunde prügeln Polizisten die Unterstützer fort.
Zur gleichen Zeit findet eine Aktion am Hafen statt. 50 Boote entrollen ein Transparent, auf dem zu lesen ist: »Frontex kills«. Das Frontex-Boot flüchtet vor der Armada, diese bewirft dessen Anlegestelle mit Farbbeuteln und kapert ein zurückgelassenes Frontex-Beiboot. Vor dem Welcome Center ziehen sie es als Trophäe an Land. Unbekannte greifen derweil das Schlauchboot der Camp-Sanitäter an und stechen es platt. Die Sanitäter werden aus dem Wasser gefischt, die Angreifer entkommen unerkannt. In der Nacht, als fast alle Aktivisten auf dem Konzert einer griechischen Punkband sind, läuft das Frontex-Boot wieder in den Hafen ein und holt sich sein Beiboot zurück.
Am 2. September treten 47 Häftlinge in Pagani erneut in einen Hungerstreik.
Vergangene Woche musste Gabriele del Grande wieder seinen Blog aktualisieren. Er kam auf 14 797 Leichen.

Geändert: 11. September 2009