Argentinien und Mexiko wollen Cannabis legalisieren

Carlos will kiffen

Argentinien und Mexiko wollen den Besitz geringer Mengen Marihuana künftig nicht mehr strafrechtlich verfolgen. Doch Entkriminalisierung bedeutet nicht zwangsläufig ein Recht auf Rausch.

Wenn man in der mexikanischen Touristenhochburg Cancún nachmittags mit seinem Auto in eine Polizeikontrolle gerät, ist das eigentlich kein Grund zur Sorge. Schmiergelder für Verkehrsdelikte fallen gering aus, wenn man nicht allzu blass aus dem Hawaiihemd schaut. Carlos, einen braungebrannten mexikanischen Straßenkünstler, regten solche Kontrollen selbst dann nicht auf, wenn er in seinen weiten Hosentaschen ein paar Gramm Gras spazieren fuhr. »Ich hatte ge­rade eingekauft für mich und meine Freunde, und auf dem Rücksitz kam ich mir anfangs verdammt entspannt vor«, erinnert sich Carlos. »Denn ich wusste noch nicht, dass die Fahrerin 1,5 Kilo Marihuana in ihrem Rucksack hatte und sich neben dem Jonglieren als Dealerin etwas dazuverdiente.«
Alle Fahrzeuginsassen wurden des Handelns mit Rauschmitteln beschuldigt und ins örtliche Gefängnis überstellt, das von den Zetas kontrolliert wird, einstigen Söldnern eines Kartells, die zu selbständigen Anbietern auf dem internationalen Drogenmarkt aufgestiegen sind. Dort wurde die Lage für Carlos unangenehm: »Die Zetas waren fest davon überzeugt, dass ich dick im Geschäft sei, und versuchten zunächst, die Namen derer aus mir herauszuprügeln, bei denen ich einkau­fe. Dann gaben sie mir 24 Stunden Zeit, um 1 500 Euro aufzutreiben und mir so bis auf weiteres mein Überleben hinter Gittern zu sichern.«

Warum der Konsum entkriminalisiert werden muss, wie es lateinamerikanische Pro-Cannabis-Organisationen, Menschenrechtler und auch einige prominente Politiker propagieren, zeigen auch Schicksale wie das von Carlos. Doch während entsprechende Reformen in den Parlamenten bisher oft verschleppt oder abgelehnt wurden, sprechen in diesem Jahr sogar konservative Tageszeitungen wie der nicaraguanische Nuevo Diario von einem offenen »Bruch mit dem jahrelangen Abgleichen der harten US-amerikanischen Drogengesetzgebung« in Lateinamerika.
So entschied der argentinische Oberste Gerichtshof Ende August, dass es verfassungswidrig gewesen sei, fünf Jugendliche im Jahr 2006 wegen des Besitzes von einem bis drei Joints pro Kopf festzunehmen, »denn man muss die Privatsphäre erwachsener Personen schützen«. Ausdrücklich betonte der Gerichtshof aber auch, dass dieses Urteil kein »rechtlicher Freibrief für einen wahllosen Konsum« in der Öffentlichkeit sei.
Deutlich konservativer bewarb die mexikanische Regierung ein ebenfalls im August in Kraft getretenes Gesetz, das die Strafverfolgung für den Besitz kleinerer Mengen Cannabis, Kokain, Heroin und synthetischer Drogen aussetzt. Es gehe nicht um Entkriminalisierung, man wolle »objektive Kriterien schaffen, um die Straftat des Drogenhandels besser definieren zu können«, erklärte Präsident Felipe Calderón von der ultrakonservativen Regierungspartei Nationale Aktion (Pan). Nicht einmal die US-amerikanische Anti­drogenbehörde Dea legte diesmal Einspruch ein.
Der konstatierte kontinentale Bruch mit einer angeblich von den USA erzwungenen Politik bedeutet keineswegs eine allgemeine Legalisierung. Die diversen Reformen folgen den unterschiedlichsten politischen Interessen. Während man in Argentinien die Rauschzustände der Bevölkerung zu tolerieren gedenkt, kritisiert der mexikanische Politologe Jorge Javier Romero die Reform im eigenen Land als Rückschritt, denn der Konsum von Drogen war keine Straftat: »Anscheinend schafft man für Konsumenten, die kleinere Mengen mit sich führen, mehr rechtliche Sicherheit, doch in Wirklichkeit könnte sich die Gesetzesänderung auch in einen Mechanismus verwandeln, den die mexikanische Polizei dann erpresserisch anzuwenden weiß.«
Seit dem Amtsantritt von Calderón im Jahr 2006 wurden über 100 000 Personen wegen des Besitzes kleinerer Mengen an Drogen festgenommen. Nun droht zwar niemandem mehr ein Gefängnisaufenthalt, »Wiederholungstäter« jedoch, denen eine »Abhängigkeit« unterstellt wird, müssen sich zwangsweise in ärztliche Betreuung begeben. Der Staat betreibt auf gesetzlicher Ebene und mithilfe der Medien eine Art moralischer Aufteilung: die Guten, die Bösen und die Süchtigen. Die Bürgerbeteiligung an der Fahndung wird mittels Plakatwerbung oder SMS gefordert: »Wenn du etwas siehst oder weißt, denunziere sicher und vertraulich unter 55 33.«
Denunziert wird auch auf internationaler Ebene, denn solange die Regierungen nicht offen über die Legalisierung der gesamten Produktions- und Handelskette diskutieren, wird man sich in Lateinamerika darum streiten, wer am eifrigsten zur globalen Grasernte beiträgt, die im vergangenen Jahr schätzungsweise 45 000 Tonnen betrug. So beschuldigt die chilenische Regierung Paraguay, den Markt mit genetisch verändertem Gras zu überschwemmen, verfolgt strafrechtlich seit 2005 jedoch nur den Handel, nicht den Konsum.

Weniger Glück hat, wer in Venezuela mit Gras erwischt wird. Venezolanern droht die Einweisung in Gesundheitszentren und Ausländern die sofortige Ausweisung. Oberst Néstor Reverol, Leiter der Antidrogenbehörde, spricht selten über Kampagnen für eine Entkriminalisierung des Konsums im eigenen Land, lieber stellt er alles beschlagnahm­te Gras als »kolumbianisches Transitgut« für den US-Markt dar. Auch Präsident Hugo Chávez bemüht lieber das Feindbild des drogensüchtigen dekadenten Gringos, anstatt den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« weniger prohibitionistisch zu gestalten.
Kaum beachtet wurde die Reform in Kolumbien, wo seit 1994 der Besitz kleinerer Mengen Drogen erlaubt ist. Präsident Alvaro Uribe hat bereits fünf Mal versucht, dieses Gesetz abzuschaffen. Sein Amtsvorgänger César Gaviria und ehemalige Präsidenten Brasiliens und Mexikos aus der Gruppe »Drogen und Demokratie« empfehlen dagegen eine solche »teilweise Entkriminalisierung des Konsums«, kombiniert mit mehr Aufklärung und Prävention.
Um auf eine tatsächliche Legalisierung zumindest von Marihuana hinzuarbeiten, fordert Psicotropicus, das brasilianische Zentrum für Drogenpolitik, eine lateinamerikanische Zusammenarbeit in der Uno. »Denn ohne Marihuana endlich von der Liste verbotener Substanzen zu streichen und auf globaler Ebene Anstrengungen zu unternehmen, wird es unmöglich sein, die gesamte Produktionskette der Pflanze zu legalisieren«, meint Luiz Paulo Guanabara von Psicotropicus.
In Brasilien, wo seit 2006 der Besitz geringer Mengen Marihuana für den persönlichen Gebrauch nicht mehr strafrechtlich verfolgt, wohl aber mit gemeinnütziger Arbeit bedacht wird, scheint sich das Recht auf Rausch zu einem Thema für die Wahlen im nächsten Jahr zu entwickeln. In der Opposition und der Regierung gibt es energische Befürworter weiterer Reformen. Auch in Chile gibt es eine Kampagne für die weitere Liberalisierung, in Ecuador wird bereits Ende September über ein Gesetz abgestimmt, das den Konsum entkriminalisieren, aber auch die Strafen für den »Mikrohandel« herabsetzen will. Wie ernst solche Ankündigungen zu nehmen sind, werden die Wähler dann bei zukünftigen Verkehrskontrollen erfahren.

Und Carlos aus Cancún? Er kam nach drei Wochen Gefängnis und diskreten Verhandlungen zwischen Gefängnisdirektion, Zetas und seinem Anwalt wieder frei, ohne je aktenkundig geworden zu sein. Wie, das bleibt sein Geheimnis. Er jongliert an den Straßenampeln von Mexiko-Stadt, seine inzwischen entkriminalisierten fünf Gramm Gras für den Privatgebrauch fährt er nun lieber im Stadtbus durch die Gegend.