Avantgarde-Musik aus China

China-Box, groß und mit scharf

Eine dicke CD-Box präsentiert Avantgarde-Musik aus China.

Die CD-Compilation ist eine aussterbende Gattung. Will man sich einzelne Szenen und musikalische Netzwerke erschließen, funktionieren myspace oder Avantgarde-Spezialisten-Websites wie ubu.com viel effektiver und sind zudem unabhängig von der subjektiven Auswahl eines einzelnen Herausgebers.
Doch das viel gepriesene Netz kann nicht alles. Dort kann man sich zwar leicht von Band zu Band klicken und stilistische Ähnlichkeiten entdecken, die soziokulturellen Hintergründe und historischen Entwicklungen bleiben allerdings oft verborgen. Wollte man im Netz zum Beispiel nach etwas Vergleichbarem wie der CD-Box »1992 – 2008. An Anthology of Chinese Experimental Music« suchen, wäre man völlig aufgeschmissen. Diese Zusammenstellung bedarf schon eines absoluten Kenners, der filtert und aus den Unmengen von neu entstandenen Subszenen in China gezielt das herauspickt, was tatsächlich Relevanz besitzt. Und Relevanz bedeutet in diesem Fall: eine musikalische Originalität, die sich einerseits vor vergleichbarer Musik aus den alten Industriestaaten nicht verstecken muss und die doch gleichzeitig auch nicht deren Abklatsch darstellt. So viel nämlich steht schon nach kurzem Hören fest: Die Avantgarden aus New York und London, aus Tokio und Chicago haben hier als Vorbilder gedient. In China wird das Rad derzeit musikalisch nicht neu erfunden, es wird bloß sehr viel schneller daran gedreht. Die dadurch entstehende Reibung verschlägt einem manchmal schier den Atem.
Um das nachvollziehen zu können, empfiehlt es sich, mit der dritten CD zu beginnen. Wie ein Raubtier springt die 15minütige Nummer zu Beginn den Hörer an, überwältigt ihn, lässt nicht locker, nagt einen ab bis auf die Knochen. Es beginnt mit einer völlig aufgewühlten Stimme, die Unverständliches in Mikro schreit, sich dabei überschlägt. Nervös zuckende Gitarrenriffs in bester Arto-Lindsay-No-Wave-Tradition lassen erahnen, dass dies erst das vergleichsweise harmlose Vorspiel ist. Kurz darauf kollidieren die Instrumente und pressen einen mit schier erdrückendem Lärm gegen die Wand. Die Band nennt sich sinnigerweise Torturing Nurse und stammt aus Shanghai. Nicht erst durch die Wahl dieser Nummer wird deutlich, dass der Herausgeber Li Chin Sung kein Interesse daran hat, vertrauten Hörgewohnheiten zu schmeicheln. Seine Anthologie versammelt 48 kompromisslose Beispiele dafür, dass Chinas musikalische Avantgarde längst im 21. Jahrhundert angekommen ist und hierfür in rasender Geschwindigkeit die Musik des 20. Jahrhunderts in sich aufgesogen und verarbeitet hat.
Im Westen waren mehr als fünfzig Jahre für eine solche musikalische Ausdifferenzierung notwendig. Sie reichte von Fluxus, Minimal Music und Free Jazz in den Sechzigern über Industrial Noise und No Wave bis zu den experimentellen Rändern der elektronischen Musik in den neunziger Jahren und mündete schließlich in ein undogmatisches Mit- und Nebeneinander all dieser Traditionen, wie man es von jüngeren Bands wie Gang Gang Dance oder Black Dice kennt.
Auf Li Chin Sungs China-Anthologie ist all das vertreten, Ambient, Breakbeat, elektronisches Knistern, Post-Punk, freie Improvisation, Musique Concrète und harscher Noise. Von künstlerischer Rückständigkeit oder unbeholfenem Nachholbedarf, wie ihn der Westen popkulturellen Neuankömmlingen gerne mal attestiert, kann dabei nicht die Rede sein. Zbigniew Karkowski und Yan Jun führen in ihren umfangreichen Liner Notes einige Gründe dafür an, warum Chinas Musik in kürzester Zeit auf den neuesten Stand hat kommen können. Was sich in den alten Industrieländern nur langsam vorm Hintergrund stets neuer technischer Entwicklungen hat verändern können, war in China mit einem Schlag da und auf dem neuesten Stand: Hacker zogen sich die beste Musiksoftware aus dem Netz. Nur illegal konnte alles so schnell gehen. Hacker- und Musikerszene arbeiteten Hand in Hand, die Liner Notes nennen das »DIY«, ein Begriff, der im Vergleich zum Westen, wo »Indie« als Kleinunternehmen auch eine Erfindung der FDP sein könnte, eine ganz neue Dimension erhält.
Und auch ein anderer Grund für die rasante Verbreitung unkonventioneller Musik dürfte den Lobbyisten der Musikindustrie gar nicht in den Kram passen – der chinesische Schwarzmarkt. Während der Neunziger, dem Jahrzehnt des enormen Nachholbedarfs in China, kursierte alles zu Schleuderpreisen. Und zwar wirklich alles, nicht nur CDs von Madonna, sondern auch solche von John Cage, Throbbing Gristle und Noise-Extremisten wie Merzbow. Dasselbe gilt für das Angebot an Filmen. DVDs von Avantgarde-Regisseuren wie Stan Brakhage und Maja Deren lagen neben James Bond und »Die Hard« in den Wühlkisten. Alleine die Verfügbarkeit weckte Neugierde: »Probably an average Chinese person saw more experimental, cutting edge cinema than most well educated people in the West«, vermuten die Autoren im Beiheft. Die übliche Trennung in Mainstream und Avantgarde interessierte nicht, experimentelle Musik, die im Westen nur mit einer Auflage von 500 Exemplaren auf den Markt kam, kursierte in China in mehreren tausend Kopien und wurde als ebenso wichtig wie Radiohead oder Depeche Mode angesehen.
Li Chin Sung, der für die Zusammenstellung dieser mehr als vier Stunden umfassenden Box verantwortlich ist, kennt die musikalische Szene seines Landes genau. Er ist selbst seit mehr als 20 Jahren als Musiker, DJ, Veranstalter und Labelbetreiber im Graubereich von Industrial, Elektronik und Musique Concrète aktiv, sein Solo-Debüt »Past« erschien 1996 auf dem »Tzadik«-Label von John Zorn. Mitte der Neunziger holte er erstmals Musiker wie Otomo Yoshihide, Keiji Haino und John Zorn nach China.
Seine Vorliebe für Avantgarde jenseits herkömmlicher Songstrukturen hat bei der Interpreten-Auswahl eine wichtige Rolle gespielt: Auf konventionellen Underground-Rock hat er völlig verzichtet. Aber auch den gibt es in China. Anfang der Neunziger war Punk das Ausdrucksmittel schlechthin, um angestaute Wut abzulassen. Doch viele Musiker waren die stilistische Limitierung von Punk schnell leid. Sie wollten nicht mehr nur ihren politischen Unmut herausschreien, sondern suchten vielmehr nach einer »Ästhetik des Widerstands«, nach formalen Brüchen bis hin zu schmerzhafter Atonalität. Gefällige Laptop-Musik für die abend­liche Elektro-Lounge sucht man auf diesem Sampler vergeblich.
Im Untertitel der Anthologie wird das hier Versammelte als »Experimental and Non-Academic Music« bezeichnet. Dies betont noch einmal das Autodidaktische der Szene, die zwar inzwischen keinen politischen Repressalien mehr ausgesetzt ist, aber auch auf keinerlei staatliche Förderung hoffen darf. Außerdem nimmt »Non-Academic« eine Abgrenzung gegenüber der als saturiert empfundenen, auch in China institutionalisierten Neuen Musik vor. Solche Selbstpositionierungen kennt man auch vom westlichen Underground. Dennoch stehen die hier versammelten Musiker den Klangkonzepten eines John Cage oder Pierre Henry näher als jeglicher Popmusik.

Diverse: 1992 – 2008. An Anthology of Chinese Experimental Music. 4 CD-Box (Sub Rosa)