Die Rezeption von Edgar Wallace in Deutschland

Das Grauen von Glienicke

Londoner Nebel im Berliner Forst: Vor fünfzig Jahren ist der erste Film der deutschen Edgar-Wallace-Serie in die Kinos gekommen.

Edgar Wallace ist ein deutsches Markenprodukt. Nirgendwo sonst, nicht einmal in seiner britischen Heimat, konnte der Groschenroman-Autor und Journalist, der unter dem Druck horrender Verschuldung zeitweise alle drei Wochen ein Buch geschrieben hat und für seinen Alkoholismus und seine Spielsucht berüchtigt war, so große Erfolge verzeichnen wie hierzulande. Die Verkaufszahlen seiner Werke, die Goldmann zu Longsellern gemacht hat, die jedoch erst ziemlich spät, nach Übernahme der Rechte durch den Scherz-Verlag, in passablen Übersetzungen erschienen sind, machen nur einen kleinen Teil dieses Erfolgs aus. Vielmehr ist Wallace, der in Großbritannien schon immer eher als subalterner Schreiberling galt, in Deutschland nicht nur als Autor, sondern als fiktionale Gestalt bekannt geworden, deren Name zahllose Jugendbücher, Hörspielkassetten und Kinofilme autorisiert, die mit dem echten Wallace nichts zu tun haben. Selbst wer noch nie etwas von ihm gelesen hat, verfügt unwillkürlich über ein Repertoire von Bildern und Motiven, die sofort abrufbar sind: nebeldurchwölkte Großstadtgassen, vermummte Gestalten in finsteren Schlossparks, der Mitternachtsschlag von Big Ben, hübsche Frauen, die schreiend vor dolchbewaffneten Irren fliehen, zwielichtige Chinesen, die in Hafenbars Opium rauchen. So mancher, der mit diesen Stereotypen im Kopf zum ersten Mal zu einem Wallace-Roman gegriffen hat, wird enttäuscht gewesen sein angesichts der Witzlosigkeit und Langeweile, durch die sich die meisten seiner Bücher auszeichnen.
Dass der historische und der fiktionale Wallace so wenig miteinander zu tun haben, liegt vor allem an einem Mann: Der Produzent Horst Wendlandt, in der Unterhaltungssparte des bundesdeutschen Nachkriegskinos als schärfster Gegenspieler von Artur Brauner jahrelang marktbeherrschend, hat mit seinen Wallace-Filmen, die den Höhepunkt ihrer Popularität Mitte der sechziger Jahre erreichten, den Namen des Londoners im kollektiven Unbewussten der Nation verankert. Der immer leicht übertriebene Schauspielstil, die expressionistische Bildsprache mit ihren überdimensionalen Schatten und verzerrten Perspektiven, die reißerische Musik und die albernen Zwischenspiele mit Eddi Arendt, der fast in jeder Folge als Trottel vom Dienst agiert, sind seither gleichsam deutsches Kulturgut geworden. Es sind feste Bestandteile eines geschlossenen filmischen Kosmos, der trotz seiner ästhetischen Dürftigkeit einer derart zwingenden Logik folgt, dass der Name von Wallace, ähnlich wie der von Hitchcock oder Kafka, zum Kürzel für eine ebenso umfassende wie diffuse Stimmung werden konnte. Während es Wendlandt und sein bevorzugter Regisseur Alfred Vohrer waren, die 1961 mit »Die toten Augen von London« zum ersten Mal alle Einzelheiten dieses Kosmos ausbuchstabierten, ist die Serie selbst ein paar Jahre älter: Sie startete, ebenfalls produziert von der deutschen Rialto-Film, aber noch unter der Ägide von Preben Philipsen, am 4. September 1959 mit der deutsch-dänischen Koproduktion »Der Frosch mit der Maske« unter der Regie von Harald Reinl.
Hier waren die meisten Ingredienzien der späteren Filme angelegt: Joachim Fuchsberger spielt den smarten Hobbykriminalisten Richard Gordon, der bei seiner Suche nach der »Froschbande«, die London unsicher macht, mit Scotland Yard konkurriert und sich in die hübsche Ella verliebt. Auch der mysteriöse Anführer der Bande, der wie in den meisten späteren Filmen durch seine ebenso unpraktische wie unheim­liche Verkleidung (ein Froschmannkostüm) gekennzeichnet ist, begehrt Ella, weshalb es zum Duell kommt, in dessen Folge der »Frosch« seine überraschende Identität preisgibt. Was hier noch weitgehend fehlte, war vor allem das komische Element, das Wendlandt später in Gestalt von Eddi Arendt, der meist einen ungeschickten Sergeanten oder rasenden Reporter verkörpert, zum festen Bestandteil der Serie machen sollte. Auch der liebenswert blöde Polizeichef, gespielt zuerst von Siegfried Schürenberg, später von Hubert von Meyerinck, sowie der plakative Vorspann mit der Geisterstimme, die »Hier spricht Edgar Wallace« raunt und von Alfred Vohrer selbst eingesprochen wurde, gehören ins komische Fach. In »Die toten Augen von London« hatte außerdem der mächtige, fast zwei Meter große Ex-Catcher Adi Berber sein Debüt, der seither dazu verdammt war, die Rolle des sich durch Grunzlaute artikulierenden Handlangers der Bösen zu übernehmen.
In »Die Tür mit den sieben Schlössern« trat 1962 Heinz Drache an die Seite von Fuchsberger, mit dem er fortan abwechselnd das Gute vertrat. Während Fuchsberger den »amerikanischen« Typus des feschen Frauenhelden gab, verkörperte Drache jene steife Eleganz, die den Deutschen wohl als »britisch« gilt, zynische Kälte, knarrende Stimme, perfekte Selbstdisziplin, gepaart mit mehr als einem Hauch von Arroganz. Ensemble, Plot und Leitmotivik der Filme wurden seitdem nur noch variiert, bis die Serie in den frühen siebziger Jahren, inzwischen farbig geworden und in Zusammenarbeit mit einer italienischen Produktionsfirma fortgeführt, weitgehend unbemerkt einschlief.
Obwohl sie längst jeden Restgrusel eingebüßt haben und bestenfalls als gesellige Abendunterhaltung taugen, verdienen die Wallace-Filme mehr Interesse, als ihnen bisher zugekommen ist. Abgesehen von einigen Fanbüchern werden sie von der Filmgeschichtsschreibung konsequent ignoriert. Dabei sind sie bis ins Innerste geprägt von den Widersprüchen und Verlogenheiten der frühen bundesdeutschen Filmproduktion. An der Geschicklichkeit, mit der es Horst Wendlandt seinerzeit gelang, sich vor seinem Konkurrenten Artur Brauner die Filmrechte an den Wallace-Büchern zu sichern, so dass dieser sich mit einigen epigonalen Adaptionen zufrieden geben musste, lässt sich der Frontenverlauf des damaligen Filmbetriebs nachzeichnen. Brauner, Sohn polnischer Juden und in seiner Jugend begeisterter Zionist, dessen Eltern nach Israel auswanderten, hatte schon 1948 in Kooperation mit der sowjetischen Militärbehörde »Morituri« produziert, einen Film über KZ-Überlebende, dessen rabiat antideutscher Tonfall einen Skandal erregte und der Brauner beinahe ruiniert hätte. Seither spielte er in Deutschland die Rolle des glücklosen Zweiten, während Wendlandt, Sohn eines Russen und einer Deutschen und freiwilliger Kämpfer in der deutschen Luftwaffe, zum Unterhaltungsmagnaten aufsteigen konnte.
In den Filmen selbst kollidieren die restaurativen Elemente der bundesdeutschen Nachkriegskultur oft unvermittelt mit Bruchstücken der vergessenen und zukünftigen Avantgarde: Neben Größen des NS-Films wie Elisabeth Flickenschildt, Lil Dagover oder Hubert von Meyerinck, die alle in bekannten Propagandafilmen mitgewirkt haben, stand etwa Wolfgang Kieling, der in den fünfziger Jahren für die DEFA gearbeitet hat, 1968 in die DDR übersiedelte, 1970 wieder in die Bundesrepublik ging und in »Torn Curtain« (1966) für Alfred Hitchcock spielte. Neben Volksschauspielern wie Fuchsberger und Drache stand Pinkas Braun, ein in Zürich geborener Sohn jüdischer Emigranten, der früh in israelischen Theatern aufgetreten ist. Und zwischen ihnen allen bewegte sich Klaus Kinski, der schon damals durch seine spektakulären Villon- und Rimbaud-Lesungen und sein gewöhnungsbedürftiges Sozialverhalten als Outcast verschrien war und dessen Präsenz die Filme ebenso mit der deutschen Kinoavantgarde eines Werner Herzog wie mit dem italienischen »Giallo« verbindet, jenen blutrünstigen Serienkiller-Filmen, die in den siebziger Jahren in gewisser Weise die Wallace-Filme beerbten und wiederum Arthouse-Regisseure wie Dario Argento stark beeinflusst haben.
Die Anleihen an die expressionistische Filmsprache, die besonders Alfred Vohrer in seinen Wallace-Filmen vorgenommen hat und die vom »Giallo« (das italienische Wort für Groschen­roman) fortgeführt wurden, sind keine bloße Vulgarisierung eines früher authentischen Stils, sondern haben dem deutschen Unterhaltungskino in Zeiten routinierter Schundproduktion eine filmgeschichtliche Vergangenheit in Erinnerung gerufen, deren Liquidation Peinlichkeiten wie »Sissi« erst ermöglicht hat. Gerade dass die Integration dieser expressionistischen Formsprache ins Unterhaltungskino nicht gelingt und immer wieder unfreiwillig komische oder surreale Wirkungen zeitigt, macht die Wallace-Filme, im Gegensatz zu den perfekt durchgestylten Produkten der heutigen Kulturindustrie, so interessant. So, wie jeder Berliner im Spukschloss von »Die Tür mit den sieben Schlössern« sofort das Berliner Pfaueninselschlösschen und in der Kulisse von »Der unheimliche Mönch« das Jagdschloss Glienicke erkennt, so wirkt auch der Expressionismus der Filme durchweg hohl und unauthentisch – eine Art Potemkinsches Gruseldorf, in dem die Schauspieler wie ungelenke Darsteller eines Schreckens agieren, den sie beschwören, ohne noch an ihn zu glauben. Der Expressionismus kehrt in den Wallace-Filmen, ganz ähnlich wie in den nahezu gleichzeitig entstandenen Mabuse-Sequels unter der Regie von Fritz Lang, als farcenhafte Reinszenierung jener Tragödie wieder, die er einst zum Ausdruck brachte.
Erst der »Giallo«, zu dessen Gattung die späten deutsch-italienischen Koproduktionen der Wallace-Filme wie »Das Geheimnis der grünen Stecknadel« selbst gerechnet werden können, hat diese unfreiwillige Komik zum Verschwinden gebracht und wieder auf Angst und Grausamkeit gesetzt.
Die Hohlheit und der Dilettantismus der Wallace-Filme haben ihren tieferen Grund vielleicht auch darin, dass weder ihre Macher noch ihr Publikum sich über ihre Faszination für Wallace in aller Zwiespältigkeit klar werden konnten. Mit ihrer stereotypen Motivik waren nämlich Wallace-Romane selbst populärkulturelle Vorwegnahmen des nahenden Faschismus: Es wimmelt in ihnen von Verbrecherorganisationen mit geheimnisvollen Erkennungszeichen, von mafiaähnlichen Rackets, die Polizei und Justiz infiltrieren, von Zinkern, Hehlern und Banknotenfälschern, die als Ausgeburten einer Gesellschaft erscheinen, in der die staatlichen Institutionen zerfallen und die Straße den Banden überlassen wird. Auch das Motiv der legitimen Selbstjustiz, am prominentesten verkörpert durch den »Hexer«, der die Arbeit der ineffizienten Polizei übernimmt und vermeintlich lebensunwerte Verbrecher in Eigenregie liquidiert, gehört in diesen Zusammenhang. In den Büchern von Wallace konnten die Deutschen ihre selbstgewählte Zukunft mit genau der richtigen Mischung aus Furcht und Faszination wiedererkennen, ohne dabei auf ihre eigene Gesellschaft reflektieren zu müssen. Das finstere England, das sie präsentierten, war das Deutschland ihrer Wünsche. Indem die Wallace-Filme der Rialto daraus eine Mischung aus Schmierentheater und Geisterbahn machten, gestanden sie diese Wünsche ein und zensierten sie im gleichen Moment. Dabei zuzusehen, ist eine wertvolle Erfahrung für jeden Geschichtsschreiber des Postfaschismus.