Nachruf auf den Anarchisten Horst Stowasser

Der Projektanarchist

Seine weitreichenden Kenntnisse über die Geschichte des Anarchismus gab er in einer Vielzahl von Schriften wieder. Vor allem aber war Horst Stowasser Repräsentant einer libertären Lebensform.

Die anarchistische Szene ist schockiert: Am 30. August starb mit dem anarchistischen Aktivisten und Schriftsteller Horst Stowasser ein Urgestein der Bewegung; Urgestein zwar, aber dennoch ist er nur 58 Jahre alt geworden. Gestorben an einer Blutvergiftung, die vermeidbar gewesen wäre.
»Er war ein im besten Sinne polyglotter Mensch!«, meinte einer, der ihn gut gekannt hat, und bezog sich mit seiner Aussage auf die Tatsache, dass Stowasser seine anarchistische Überzeugung in sechs Sprachen fließend darlegen konnte. »Er hatte immer den Schalk im Nacken«, hieß es, »er hat vor Ideen regelrecht gesprüht«, und: »Er war ein unvorstellbar netter Mensch!«
Entsetzen herrscht bei den Verlagen Edition AV und Nautilus, wo Stowassers Bücher erschienen sind – wie »Anarchie! Idee, Geschichte, Perspektiven« (2007) und »Anti-Aging für die Anarchie? Das libertäre Barcelona und seine anarchistischen Gewerkschaften 70 Jahre nach der Spanischen Revolution«; enge Freunde sind, unmittelbar nach der Beerdigung am 6. September in Neustadt an der Weinstraße, zu bestürzt, um über ihn sprechen zu können.
Es sind wohl eher Bekannte und Weggefährten, die sich auf einer virtuellen Kondolenzliste versammelt haben, die nach Bekanntwerden von Stowassers Tod ins Netz gestellt wurde. Spirituell interessierte Anhänger Stirners sind darunter, eine antizionistische Verschwörungstheoretikerin (9/11!, Gaza!), Anhänger des späten Wilhelm Reich und eine Vertreterin der unvermeidlichen Psycho-Sekte ZEGG aus dem brandenburgischen Belzig – postume Umarmungen, gegen die der Verstorbene nichts mehr einwenden kann. Er hätte es vielleicht auch gar nicht gewollt, seine Toleranz wird gerühmt, sein fehlender Dogmatismus, die Fähigkeit, mit allen klar zu kommen, sein, wie ein anderer Bekannter sagt, »praktisch gelebter Anarchismus«.
Den Anarchismus entdeckte Stowasser in jungen Jahren in Argentinien, wo er sich politisierte. Kein Wunder, denn Argentinien war in den sechziger und siebziger Jahren noch stark vom Anarchismus jüdisch-russischer und italienischer Einwanderer geprägt. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs, schrieb er in seinem Buch »Anarchie! Idee, Geschichte, Perspektiven«, sei jeder zehnte Erwachsene organisierter Libertärer gewesen oder habe doch zumindest anarchistischen Ideen angehangen.
Stowasser selbst trat in den späten Achtzigern in der BRD im Zusammenhang mit dem »Projekt A« in Erscheinung: Anarchismus sollte in mehreren Städten und Dörfern in der BRD in Form von Wohn- und selbstverwalteten Arbeits­projekten praktisch gelebt werden. Heute stehen vielen, die ihrerseits auf jahrelange WG-Erfahrung zurückblicken können, allein beim Gedanken an solch ein Projekt die Haare zu Berge. Gemeinsam und selbstbestimmt zu arbeiten, das gilt vielen als alter Hut und als Experiment, das in zahlreichen Selbstausbeutungsklitschen mündete, damals war es das nicht. Allerdings ist auch das Projekt A gescheitert, die Beteiligten zerstritten sich so heftig, wie es nur möglich ist, wenn man mit allzu hohem Anspruch allzu eng und viel zu lange aufeinanderhockt. Und dann noch über alles reden muss.
Auch Horst Stowasser zog sich für einige Jahre zurück, kehrte aber um das Jahr 2003 mit neuem Optimismus zur Szene zurück. Er trat wieder in die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter-Union (FAU) ein, publizierte wieder Bücher und propagierte, was er nun »Projekt A, Plan B« nannte: Ein alter Hof in Neustadt an der Weinstraße, der Eilhardshof, soll renoviert werden und nicht nur Stowassers anarchistischem Archiv, dem »AnArchiv«, sondern all denjenigen Platz bieten, die dort gemeinsam wohnen und arbeiten wollen. Ein generationenübergreifendes Wohnprojekt ist in Arbeit, die Mitbewohner seien Kleinkinder oder an die 80, erklärte Stowasser in einem Interview mit der Zeitschrift Graswurzelrevolution und führte aus: »Die Motivation ist banal: Auch Libertäre werden älter und niemand will im Altersghetto leben und sterben. Und da diese Fragen von Vereinsamung, Verarmung und einem würdigen Leben im Alter Millionen von Menschen zunehmend betreffen werden, war es an der Zeit, hierauf eine libertäre Antwort zu geben. Und zwar eine praktische. Initialzündung war schließlich die Tatsache, dass uns diese Fragen langsam selbst betreffen.«
Neben den Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten für in die Jahre gekommene Libertäre sind Kulturräume geplant, alles im Kollektiveigentum als basisdemokratisches Projekt.
Die Idee und ihre Verwirklichung müssen also ganz nach seinem Geschmack gewesen sein, denn Stowasser galt – trotz seiner Bücher – weniger als Theoretiker der anarchistischen Bewegung denn als Projektanarchist, dem es auf das konkrete Handeln, auch auf das Experiment ankam.
Möglicherweise scheitert auch der Eilhardshof, ohne ihn. Weil Menschen mit zu hohem Anspruch zu eng und allzu lange aufeinanderhocken. Und über alles reden müssen. »Wir sind ein basisdemokratisches Projekt«, sagte Stowasser der Graswurzelrevolution, »bei uns werden alle Entscheidungen im Gruppenkonsens getroffen. Es kann allerdings lange dauern, in die Gruppe aufgenommen zu werden, da wir uns gut kennen lernen wollen und Vertrauen aufbauen müssen. Das braucht Zeit.«
Leider wird er nun nicht dabei sein, wenn ein Haufen libertär gesinnter Leute demnächst in sein »Projekt A, Plan B« einzieht. Horst Stowasser hinterlässt eine Familie und viele, die um ihn trauern. Niemanden scheint es zu geben, der ihn nicht gemocht hat. Aber: »Anarchie wurde gesellschaftsfähig und erfuhr anerkennende Öffentlichkeit.« Das schreibt Regine Naeckel über die Wirkung seines letzten Buches »Anarchie!« aus dem Jahr 2007. Dann muss er doch etwas falsch gemacht haben!