Über »Käthe«, die Biografie eines ermordeten jüdischen Mädchens in Norwegen

Immer schon in Norwegen gewesen

»Kathe«, die Biografie eines ermordeten jüdischen Mädchens, hat in Norwegen 2003 eine Debatte über Widerstand und Kollaboration ausgelöst. Jetzt ist das Buch in Deutschland erschienen.

Kathe Lasnik war 15, als sie im November 1942 von Oslo nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet wurde. Ihr Name war jahrzehntelang vergessen, bis zu dem Tag, als Espen Søbye im Statistischen Zentralamt in Oslo auf ihren Fall stieß. Der 55jährige Philosoph und Autor musste zugeben, über die genauen Abläufe der Deportationen wenig zu wissen. Bei seiner Recherche stieß er auf einen Fragebogen, den alle norwegischen Juden und Jüdinnen in der Besatzungszeit hatten ausfüllen müssen. Wie lange die Betreffende schon in Norwegen lebe, war da zum Beispiel anzugeben. Kathe Lasnik hatte geantwortet, und ihrer Antwort ist ein kindliches Staunen über diese unerwartete Frage anzumerken: »Immer schon in Norwegen gewesen.« (In der deutschen Übersetzung klingt es viel erwachsener: »Seit jeher in Norwegen«). ­Søbye erkennt in diesen Worten auch die flehentliche Bitte des Mädchens an die norwegische Polizei, die für den reibungslosen Ablauf der Deportationen sorgte und die vorsichtshalber schon Listen über norwegische Juden erstellt hatte, ehe die Besatzer diese überhaupt haben wollten, sie zu verschonen. Als ob die Kleine sagen wollte: »Tut mir nichts, ich bin doch Norwegerin.«
Sehr viel ließ sich nicht mehr über Kathe Lasnik herausfinden, zu viel Zeit ist vergangen. Ihre Schwestern, die sich damals rechtzeitig nach Schweden retten konnten, sind sehr alt, die Erinnerungen haben sich verwischt, Kathes Mitschülerinnen leben zumeist gar nicht mehr, anders als Anne Frank hinterlässt sie keine schriftlichen Zeugnisse. Zwar soll es einen Brief gegeben haben, den das Mädchen unmittelbar vor der Verschleppung an ihre Klasse geschrieben hat, er ließ sich aber nicht mehr auffinden. Wie der Brief damals an die Klasse gekommen ist, wer ihn vorgelesen hat, ja, sogar über den Inhalt geben die Zeitzeugen unterschiedliche Versionen ab. Was wir aber wissen, ist, dass Kathe Lasniks Eltern vor dem Ersten Weltkrieg vor den im zaristischen Russland wütenden Pogromen flohen, dass es in Oslo damals eine kleine jüdische Gemeinde gab, der auch bereits früher aus Russland emigrierte Familien angehörten, dass zwar die noch immer wichtigste Tageszeitung Norwegens, Aftenposten, sich damals in hemmungslosen antijüdischen Hetzartikeln gefiel, dass aber bis in die Kriegszeit hinein von einer offen antisemitischen Stimmung in Norwegen keine Rede sein konnte, dass Kathe vielleicht in den letzten Monaten ihres Lebens in einen Mitschüler verliebt war.
Espen Søbye beschreibt seine Spurensuche, und da er uns über Kathes Geschichte nur wenig erzählen kann, macht er sein Buch zu einer Schilderung jüdischen Lebens in Norwegen, vor allem zwischen den Kriegen und während der Besatzung durch deutsche Truppen. Das Schlusskapitel erzählt, wie nach der Befreiung, als den norwegischen Kollaborateuren der Prozess gemacht wurde, die übereifrigen Polizisten bestraft wurden – nämlich gar nicht, sie blieben in Amt und Würden.
Ein Nachwort des Übersetzers Uwe Englert schließlich befasst sich mit der zögerlichen Aufarbeitung dieser Problematik. Die norwegische Bevölkerung habe sich eben jahrzehntelang als ein dem Widerstand verschriebenes Volk sehen wollen. Die umfangreiche Literatur über diese Zeit habe sich deshalb auch vor allem mit Streiks, Boykotten und den vielen Fällen von heldenhafter Gegenwehr beschäftigt. »Diese Beispiele einer bemerkenswerten Zivilcourage fanden nach dem Krieg vielfach Anerkennung. Jedoch wurden in einem Prozess der Glorifizierung mutige Widerstandshandlungen immer undifferenzierter mit der Geisteshaltung eines ganzen Volkes identifiziert«, schreibt Uwe Englert im Nachwort und zitiert den Zeitzeugen Willy Brandt: »Viele hielten es für unausweichlich, sich mit den Besatzungsbehörden zu arrangieren – oder jedenfalls Geschäfte zu machen«, erinnerte sich der prominenteste deutsche Norwegen-Exilant an die Zeit der Okkupation.
Als das Buch 2003 in Norwegen erschien, folgte eine größere gesellschaftliche Debatte über den angemessenen Umgang mit der Vergangenheit und der Tatsache, dass nicht wenige Norweger mit den antisemitischen Deutschen kollaborierten. Auch die konservative, in den dreißiger und vierziger Jahren profaschistische Aftenposten rühmte das Buch: »Eine schockierende, wichtige und gründliche Recherchearbeit, die den stärksten Text in den Gedanken des Lesers dort entstehen lässt, wo er aus dem Alltagsleben in die Katastrophe geführt wird.«
»Kathe – deportiert aus Norwegen« ist ein ungeheuer lesenswertes Buch über norwegische Geschichte, das es so auf Deutsch bisher nicht gab. Drei Dinge allerdings nerven. Zunächst, dass bei Begriffen, die im Norwegischen geschlechtsneutral sind, in der Übersetzung fast konsequent die maskuline Form gewählt wurde. So werden Kathes Schwestern zu »norwegischen Staatsbürgern«, so ist die Bemerkung einer Lehrerin die einzige »Bemerkung eines Lehrers«, so werden Kathe und Rachel Feinberg zu »zwei Schülern« der Fageborgschule. Nicht zuletzt stören die vielen Druckfehler, und schließlich wäre es nett gewesen, etwas über den Autor Espen Søbye zu erfahren, der im Text des Buches doch so präsent ist. Er wurde von der Osloer Zeitung Dagbladet zu einem der zehn wichtigsten Intellektuellen Norwegens ausgerufen und als erster Sachbuchautor überhaupt mit dem Preis für den »Literaturkritiker des Jahres« ausgezeichnet. Er gilt in Norwegen als überaus scharfer Kritiker, der jedes falsche Wort und jeden noch so kleinen Fehler unbarmherzig an den Pranger stellt – was er sagen würde, wenn er wüsste, wie schlampig die deutsche Ausgabe seines Buches korrekturgelesen worden ist, wollen wir uns lieber gar nicht erst vorstellen.

Espen Søbye: Kathe – deportiert aus Norwegen. Aus dem Norwegischen von Uwe Englert. Assoziation A, Berlin 2009, 188 Seiten, 18 Euro