Neue Enthüllungen im Fall der Entführung der »Arctic Sea«

Waffenschmuggel schützt die Umwelt

Die mysteriöse Entführung des Frachtschiffs Arctic Sea lässt immer neue Fragen aufkommen. Sollte es Raketen an den Iran liefern? Und spielte der Mossad bei der Entführung eine Rolle?

Wer rätselhafte Storys um illegalen Waffenhandel und Geheimdienstmissionen lieber in den Nachrichten statt im zweistündigen Kinoformat verfolgt, kommt derzeit auf seine Kosten. Die Geschichte um das unter maltesischer Flagge mit russischer Besatzung fahrende finnische Frachtschiff Arctic Sea bietet wöchentlich neue Details, ohne an Spannung zu verlieren. Denn anstatt mit nachprüfbaren Fakten aufzuwarten, üben sich die an der Aufklärung der tatsächlichen oder vermeintlichen Entführung des Schiffes Beteiligten in Spekulationen.
Nach einem zweiwöchigen Wartungsaufenthalt in Kaliningrad hatte die Arctic Sea den Auftrag, eine Holzladung im Wert von zwei Millionen Dollar von Finnland nach Algerien zu überstellen. Am 24. Juli brachten Unbekannte das Schiff unweit der schwedischen Ostseeinsel Gotland in ihre Gewalt. So jedenfalls lautete die offizielle Version. Danach blieben über drei Wochen lang jegliche Angaben über den Verbleib der Arctic Sea aus, bis plötzlich eine Lösegeldforderung von über 1,5 Millionen Dollar gestellt wurde und die russische Marine den Frachter mit Unterstützung der Nato an der Westküste Afrikas sicherstellte. Von den 15 russischen Besatzungsmitgliedern konnten Ende August elf nach Russland zurückkehren. Die acht vermeintlichen Entführer, die in Haft genommen wurden, stammen aus dem Baltikum und gaben sich selbst als Umweltschützer aus.

Allein schon wie die Suche nach dem verschwundenen Frachter vonstatten ging, war seltsam. Erst Tage nach seinem Verschwinden gelangten Informationen darüber an die Öffentlichkeit. Dass sich ein großes Schiff auf einer vielbefahrenen Strecke so lange unbemerkt fortbewegen konnte, lässt Fragen aufkommen, auf die offenbar niemand eine Antwort hat. Genauso wenig leuchtet ein, warum die Entführer wegen eines Frachtschiffes oder einer Ladung Holz ein solches Risiko eingingen. Also liegt die Vermutung nahe, die Arctic Sea könnte noch eine weitere, undeklarierte Fracht transportiert haben, die beispielsweise im Kaliningrader Hafen an Bord gebracht worden sein könnte. Nach Angaben des britischen Nachrichtensenders BBC war der Frachter mit Flugabwehrraketen vom Typ S-300 aus russischer Herstellung beladen, die für den Iran bestimmt waren, weshalb der israelische Geheimdienst die russische Regierung dazu veranlasst haben soll, die Arctic Sea zu stürmen. Derartige Gerüchte seien »völlig haltlos«, dementierte vorige Woche der russische Außenminister Sergej Lawrow. Die russische Staatsanwaltschaft pflichtete ihm bei, auf dem Schiff seien neben der deklarierten Fracht keine weiteren Gegenstände entdeckt worden.
Neue Nahrung erhielten Spekulationen über einen vereitelten Waffentransport allerdings durch Mitteilungen, wonach der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Montag vergangener Woche in geheimer Mission im Privatjet eines Geschäftsmannes nach Moskau gereist sei, um die russische Führung davon abzubringen, Abwehrraketen an den Iran zu verkaufen. Bereits seit Juni führt Israel mit Russland Verhandlungen über diese Frage. Sollten sich auf der Arctic Sea wirklich Raketen befunden haben, erhält die Einholung einer Zusage des Kremls, den Iran nicht weiter mit Waffen zu beliefern, eine zusätzliche Dringlichkeit. Um Russland vor einer öffentlichen Blamage zu schützen und somit die begonnenen Gespräche nicht zu gefährden, könnte der Mossad durchaus für die Inszenierung einer Entführung der Arctic Sea gesorgt haben.

Der Zeitpunkt für einen Besuch Netanjahus in Moskau hätte jedenfalls kaum günstiger sein können. Lawrow gab am vergangenen Donnerstag bei einem Expertentreffen, dass Russland nicht beabsichtige, im UN-Sicherheitsrat für härtere Sanktionen gegen den Iran zu stimmen. Dafür liege keine Notwendigkeit vor, da das iranische Atomprogramm auch ohne schärfere Maßnahmen kontrollierbar sei.
Übrigens ist es keineswegs abwegig, dass die Arctic Sea auch ohne Kenntnis des Kremls Flugabwehrraketen transportierte, an denen die iranische Führung lebhaftes Interesse zeigt. Lücken im russischen Kontrollsystem sind allzu offensichtlich. Überprüfungen im militärisch-industriellen Komplex, die nach einer Reihe gescheiterter Tests mit Interkontinentalraketen erfolgt waren, ergaben unlängst, dass es bei einigen Herstellern umfangreiche Betrügereien gegeben hat.