Über den erbärmlichen Zustand des Konservatismus in Deutschland

Werte ohne Hüter

Um den deutschen Konservatismus steht es schlecht, obwohl er sich mit den Jahren als durchaus wandelbar erwiesen hat. Eine wirklich konservative Partei gibt es nicht mehr und seine letzten wackeren Vertreter werden immer radikaler.

Weltanschauungen, so scheint es im Bundestagswahlkampf 2009, haben in der Politik nichts mehr verloren. Im Wahljahr, schrieb der Spiegel jüngst, glichen die politischen Strömungen eher den verschiedenen Flügeln einer einzigen Partei. Als diese parlamentarische Übermutter machte man die »gute alte Sozialdemokratie« aus, jene Partei also, die in den vergangenen Jahren die schwersten Wahlniederlagen ihrer Geschichte einzustecken hatte. Ob dem Land am Wahltag wirklich das von dem Nachrichtenmagazin beschworene »Morgenrot« eines »Linksrucks« blüht, sei dahingestellt. Tatsächlich hat sich viel im Selbstverständnis der Parteien gewandelt.

Grob betrachtet lässt sich die Entwicklung so zusammenfassen: Die SPD forcierte unter Gerhard Schröder ihr Image als wirtschaftsfreundliche Reformpartei und ließ anschließend in der Großen Koalition noch viel Platz und Klientel für die Linkspartei übrig. Diese hoffte wiederum, durch einen Namenswechsel und die Fusion mit der zur sozialen Bewegung erklärten Wasg den elenden Ostmuff der SED loszuwerden und auf Landesebene als ernsthafter Regierungspartner auch im Westen reüssieren zu können.
Die Grünen hatten diese Reife lange zuvor erreicht. Ihre Bewährung als Koalitionspartner einer rot-grünen Bundesregierung ist ihnen schlecht bekommen. Sie sind heute so »erwachsen geworden«, dass man bei ihnen ein eigenes Profil vergeblich sucht. Dass sie derzeit etwa in Hamburg mit der CDU die Landesregierung stellen, fällt öffentlich kaum auf. Der FDP ist angesichts des Kollapses der Finanzmärkte der Spaß vergangen, mit dem sie sich einst neue Wählerschichten erschließen wollte. Sie bewegt sich wieder auf vertrautem Terrain und fordert Steuersenkungen und die Selbstregulation des Marktes, doch selbstverständlich unter der Bezeichnung »Soziale Marktwirtschaft«.

Vor allem aber war es in den vergangenen Jahren an der CDU unter Angela Merkel, sich ein neues Image zu geben. Unter der Fahne der Modernisierung beanspruchte sie, nunmehr eine »Partei der Mitte« zu sein. Erstaunlich selbstverständlich vollzog sich in diesem Prozess die Abkehr vom Konservatismus, als dessen christlich-demokratische Ausprägung man sich seit Konrad Adenauer gesehen hatte und der für die »geistig-moralische Wende« der Ära Helmut Kohl noch identitätsstiftendes Moment der Partei gewesen war.
Selbst der auf der christlichen Soziallehre beruhende Sozialkonservatismus taugt heute nur noch zur Beschwörungsformel in der bayerischen Landespolitik. In der aktuellen Selbstdarstellung der Christdemokraten sucht man den Bezug auf den Konservatismus vergebens, stattdessen heißt es: »Die CDU war immer die Partei zukunftsweisender moderner Konzepte.« In dem umfangreichen Wahlprogramm, von dem Merkel sich eine zweite Amtszeit erhofft, kommt der Begriff nur einmal vor. Glaubt man diesen Bekundungen, so ist die Position des Konservativen derzeit in der Politik vakant.
Zumindest scheint diese nicht sonderlich attraktiv. Bereits die beschworene Überlegenheit der westlichen Werte gegenüber dem Islam manövrierte den Konservatismus in ein großes Dilemma. Bei genauerem Hinsehen musste er erkennen, dass das ungeliebte, traditionell geprägte Milieu meist muslimischer Einwanderer in deutschen Städten selbst ein äußerst konservatives Weltbild pflegt. Da deren Integration letztlich der Rassismus der Basis im Weg stand, verblieben zwei Möglichkeiten: die konsequente Liberalisierung oder die Schärfung der christlichen Identität. Letzteres wäre vielleicht von einem Vertreter des katholischen Flügels zu erwarten gewesen, Angela Merkel jedoch entschied sich für die Liberalisierung. Obwohl selbst Pfarrerstochter, hielt sie sich mit der Betonung der christlichen Tradition zurück. Ohnehin unterscheidet sich die geschiedene, kinderlose und promovierte Naturwissenschaftlerin als Kanzlerin vom bisherigen Personal des Konservatismus. Dass Merkel überdies ungern polarisiert und zudem das Wohl eines fremden Staates (Israel) zur deutschen Staatsräson erklärte, stellte den nächsten Bruch mit der konservativen Traditionslinie dar; bislang war dem Konservatismus das Prinzip der nationalen Souveränität ebenso heilig, wie er gegenüber seinem Gegner unnachgiebig blieb. Angesichts dessen stellt sich also die Frage, was aus dem Konservatismus in Deutschland geworden ist.

Karl Mannheims klassischer Studie von 1925 über den Konservatismus zufolge gründet dieser auf der Feindschaft gegenüber dem kapitalistischen und liberalen Rationalismus. Diese Ablehnung des »naturrechtlichen Denkens« bildet für Mannheim das »theoretische Zentrum« des Konservatismus. Der Lehre einer naturgegebenen Gleichheit aller Individuen, wie sie aus der Aufklärung resultierte, setzt der Konservatismus seine Überzeugung einer »Irrationalität der Wirklichkeit entgegen«, die es verbiete, die Vernunft in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Ordnung zu rücken.
Dieser Altkonservatismus sollte nach 1815 Europa prägen. Das Bündnis aus Krone und Altar versuchte wiederzuerlangen, was durch die Französische Revolution verlustig gegangen war. Entsprechend waren die Konservativen des 19. Jahrhunderts zunächst vor allem Legitimisten, und der Ruf hing ihnen auch nach der Jahrhundertwende an. Infolge des Zusammenbruchs des wilhelminischen Kaiserreichs verschwand der Begriff in Deutschland zunächst von der politischen Bühne. Mit Ausnahme des katholischen Zen­trums verstanden sich die Rechtsparteien der Weimarer Republik als »vaterländisch«, »völkisch« oder »deutsch-national« und waren strikt antirepublikanisch. Der Begriff des Konservatismus sollte erst wieder gegen Ende der Republik als Volkskonservative Vereinigung und Konservative Volkspartei in Erscheinung treten. Er wurde nicht zuletzt für die Bemühungen zur Schaffung des autoritären Staates herangezogen.
Die Unvereinbarkeit des Konservatismus mit der Demokratie war unterdessen nicht nur ein Erbe des legitimistischen Ursprungs, sie entsprang auch einer grundsätzlichen Ablehnung der Konzeption eines freien Subjektes. Mit dem Siegeszug des Bürgertums blieb den Konservativen nur der Staat als Substitut des persönlichen Herrschers. Mannheim zeichnet nach, wie das konservative Denken seit Hegel auf die Herausforderung der Selbstbestimmung reagierte. Da sich der abstrakte Freiheitsbegriff nicht mehr aus der Welt schaffen ließ, erfuhr er von konservativer Seite eine beeindruckende Konkretion, die Karl Mannheim so in Worte fasste: »Man ist frei, indem man den Willen der Ganzheit des Staates in sich aufnimmt.« Aus dieser Dialektik resultiert bis heute der Glaubenssatz jeder auto­ritären Strömung, dass es Freiheit nur im Rahmen von Bindung gibt. Die Durchsetzung des staatlich fundierten, rationalen Gesellschafts­prinzips war der erste Schlag, den der Konservatismus verkraften musste. Seine Reaktion bestand in einer konzeptionellen Integration des modernen Nationalismus.
Der Ansicht des Philosophen Panajotis Kondylis zufolge fällt die Geschichte des Konservatismus mit der des Adels zusammen, weshalb das Verschwinden des einen auch zum Niedergang des anderen führe. Kondylis zufolge ist das Phänomen des Konservatismus seit fast einem Jahrhundert vom deutschen Boden verschwunden, sein Ende sieht er in der Novemberrevolution von 1918. Mit der Gründung der Republik, so seine Argumentation, wurden letztlich alle politischen Strömungen nur Varianten des Liberalismus. Dieser These widmete er 1986 eine Aufsehen erregende Studie, die eine ganze Schule prägen sollte. Nach dieser Lesart war mit dem Rückzug der mittelalterlichen societas civilis dem Konservatismus die Grundlage entzogen. Das in eine religi­öse Weltsicht eingebettete, patriarchalisch organisierte Kleinstwesen (oikos) als Leitmotiv des Konservatismus war der allumfassenden bürgerlichen Gesellschaft gewichen.
Die Idee, den Konservatismus 1918 im Liberalismus aufzulösen, war bestechend. Historisch aber war sie falsch. Weder war der Konservatismus des 19.Jahrhunderts eine rein adlige Ange­legenheit – in seinen Reihen fand sich bald ein Teil des Bürgertums ein –, noch verschwand der Adel 1918 von der politischen Bühne. Zwar musste sein politischer Alleinvertretungsanspruch durch die Revolution 1918 und die Etablierung des nationalsozialistischen Staates 1933 schwere Schläge hinnehmen, doch wurde er bis 1945 nie vollständig aus der Politik verdrängt. Erst der Verlust Ostelbiens entzog vor allem dem preußischen Adel seine Basis und zerstörte zudem das jahrhundertealte patriarchalische Gefüge von Herr und Knecht. Hier datiert das endgültige politische Ende des deutschen Adels. Der Konservatismus jedoch hat den Adel überlebt und sich unter bürgerlicher Fahne weit bis ins 20. Jahrhundert erhalten können.
Nach 1945 arrangierte er sich schließlich widerwillig aber mehrheitlich mit der Demokratie. Der althergebrachten Spaltung in ein protestantisches und ein katholisches Lager versuchte man in der Bundesrepublik zu entgehen. Die CDU sah sich als Sammlungsbewegung und wollte bewusst über das traditionell vom Zentrum repräsentierte katholische Milieu hinausreichen. Doch war die rheinisch-katholische und prowestliche Prägung des Konservatismus unter Konrad Adenauer nicht zufällig der Gegenentwurf zur preußischen Spielart des Adelskonservatismus. Er gab dem Konservatismus endgültig seine bürgerliche Gestalt. Eben dieser hat man sich im Zuge des Modernisierungsprojektes Angela Merkels entledigt.

Angesichts dieses wechselvollen Weges griffe es zu kurz, dem Konservatismus generell die Fähigkeit zur Entwicklung abzusprechen. Seit sich im Zuge der Aufklärung die erste Strömung artikulierte, war es ihm durchaus möglich, sich selbst an die Entwicklung anzupassen, die zu bekämpfen man beabsichtigte. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Fortschritt zu überleben, stellte seit jeher das konservative Dilemma dar. Als prototypisch gilt das Schicksal des Deutschen Kaiserreichs, das, obwohl ein strukturell konservativer Machtkomplex, dennoch eine ungewöhnliche Offenheit für die technische Moderne aufwies. Doch war der Wilhelminismus der gesellschaftlichen Dynamik dieser Moderne schließlich nicht gewachsen. Die konservative Position, so die Lehre daraus, muss sich bei Strafe ihres Untergangs immer in Relation zu ihrer Zeit verändern. Dementsprechend geben heutige Konservative der Dynamik meist den Vorzug.
Dennoch stellt sich die Frage, wie viel Formveränderung der Konservatismus verträgt, ohne sich aufzulösen. Ein »mit der Aufklärung versöh­nter, moderner Konservatismus« auf Grundlage des liberalen Verfassungsstaates, wie ihn etwa der Verfassungsrichter Udo di Fabio im Versuch einer Neubestimmung zu formulieren sucht, stößt, wie der Autor selbst einräumt, schließlich an die Grenzen des Begriffs. Das gilt auch für eine Partei, die sich von den traditionellen Werten des Konservatismus, also der Gottesfürchtigkeit, der patriarchalischen Familie und dem Vorrang des Staates vor der Wirtschaft, verabschiedet hat. Im Gegensatz zum relativ neuen amerikanischen Konservatismus kann sich der deutsche aufgrund seiner Geschichte eben nicht beliebig wandeln und verfügt auch über kein religiöses Fundament mehr, aus dem er sich beständig erneuern ließe. Es stellt sich also die Frage, ob die These von einer Auflösung des Konservatismus im Liberalismus nicht doch zutrifft, allerdings mit der Verzögerung eines Jahrhunderts. Was aber wurde aus den Konservativen?

Ihr Verfall begann schon äußerlich. Wenn etwa eine Person wie Eva Herman als Verfechterin konservativer Werte gilt, die der Öffentlichkeit doch nur ihre Naivität und mangelnde Bildung ­offenbarte, hat sich der Konservatismus endgültig dem Massenspektakel untergeordnet, das zu verachten er stets vorgab. Zwar gehörte die Polemik seit Anbeginn zu den besonders bevorzugten Stilen konservativer Rede, doch fällt das konservative Restpersonal der CDU von Friedrich Merz bis Markus Söder eher durch Stammtisch­rhetorik auf. Das gilt auch für obskure Rechtsdissidenten der Union wie Henry Nitzsche (»Arbeit, Familie, Vaterland«) oder Martin Hohmann, die aufgrund diverser Verbalinjurien die CDU verlassen mussten. Dieser Populismus ist das Gegenteil des konservativen Gebots einer »Haltung«, an der die aristokratischen Ursprünge der Strömung erkennbar sein sollen. Er tendiert in das mehr oder weniger radikal nationalistische Lager. Allenfalls Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg kann noch mit dem Flair des Besonderen aufwarten. Durch eigene Herkunft und Einheirat in die Familie Bismarck ist er in den letzten Adelsrefugien gut aufgehoben. Doch wird auch Guttenberg nicht müde, das Mantra des Liberalismus aufzusagen, dass nicht der Name, sondern die »Leistung« zähle, und hat sich bisher hauptsächlich als Wirtschaftsliberaler profiliert.
Günter Rohrmoser, der jüngst verstorbene politische Stratege der bürgerlichen Rechten, sah im Wandel der CDU die Aufgabe ihres »Lebensimperativs«. Seine Verbindungen führten nach Weikersheim, er publizierte u.a. in Blättern wie der Jungen Freiheit und Criticon und fand in Horst Mahler einen engen Verbündeten. Aus eben diesen Kreisen erhält heute auch die Diskussion über eine Neugründung einer Partei rechts der CDU und jenseits der NPD immer wieder Nahrung. Seit dem Scheitern der Republikaner fühlt sich ein Lager heimatlos, das den Begriff des Konservatismus für sich reklamiert.
Es gebe in Deutschland praktisch keine Politik mehr »rechts von Lenin«, hieß es vor kurzem in einem Leser-Kommentar in der Jungen Freiheit mit Unbehagen. Die Liste, mit der die Junge Freiheit der CDU »Verrat« am Konservatismus nachweisen will, ist lang. Sie beginnt mit der Anerkennung der Bodenreformen in der ehemaligen DDR durch die Regierung Kohl, beinhaltet die Einführung der Fristenregelung beim Paragrafen 218 wie die Akzeptanz der Homoehe und sieht die Familienpolitik Ursula von der Leyens gar an der »Spitze des feministischen Gender-Mainstreaming-Projektes und einer sozialistischen Fami­lienpolitik«. Personell seien mit dem Rauswurf Martin Hohmanns, der Entmachtung Friedrich Merz’ und der Abwahl Jörg Schönbohms aus dem Parteipräsidium der CDU 2007 die letzten Lordsiegelbewahrer des Konservatismus gestürzt worden.

Derzeit hofft die Zeitung auf die Rückkehr des Nationalliberalismus nach dem Vorbild der FPÖ durch einen Rechtsruck der FDP. Der Liberalisierung der CDU musste man machtlos zusehen. Ein Gegengewicht gibt es noch nicht, weder das neurechte Institut für Staatspolitik noch die dort angegliederte medienwirksame »Konservativ-Subversive Aktion« sind tatsächlich handlungsfähig. Außerdem sind sie ebenso wenig konser­vativ, wie ihr großes Idol Jörg Haider es war. Denn dergestalt in die Defensive geraten neigt auch die Rechte zur Radikalisierung ihrer Überzeugungen. 2007 begrüßte Günter Rohrmoser in den Weikersheimer Blättern Übergriffe auf Schwule und Lesben in Moskau. Von einem sich in dieser Art und Weise artikulierenden »russischen Konservatismus« erhoffte sich der Philosoph Impulse zur Überwindung der westlich-liberalen »Dekadenz«.
Das ist also das Schicksal des Konservatismus: Während sich seine bürgerliche Variante im Liberalismus aufzulösen beginnt, tendieren die verbliebenen antiliberalen Konservativen zur Radikalität. Den Rückschritt in vorbürgerliche Formen, also den aristokratischen oder den religiösen Konservatismus, hat die Moderne unmöglich gemacht. Es bleibt ein Angebot aus autoritärem Etatismus, Populismus und kapitalistischer Ökonomie, das nur noch wenig mit Konservatismus gemein hat und zeigt: Der letzte Ausweg dieser Rechten liegt in der modernisierten Variante des Faschismus. Der Platz des Konservativen wird leer bleiben. Der Versuch, im 21. Jahrhundert eine tatsächlich konservative Partei zu gründen, nähme sich derzeit ebenso anachronistisch aus wie die fordistische Vollbeschäftigungsrhetorik der Linken.