Über den Roman »Der Mann schläft« von Sybille Berg

Das Glück taucht auf und verschwindet wieder

Sibylle Bergs wunderbarer Roman »Der Mann schläft« erzählt vom Ende einer perfekten Beziehung.

Nach mehreren beschissenen Beziehungen mit jüngeren Männern hat eine Frau endlich jemanden gefunden, mit dem es so richtig schön ist. Beide sind nicht mehr ganz jung und umso glücklicher, einander jetzt endlich getroffen zu haben. Bald lebt man als Paar in einem kleinen Häuschen mit Seeblick im Tessin, das der in der holzverarbeitenden Industrie tätige Mann von einer alten Dame geerbt hat. Vier Jahre geht das so, bis der Mann beim ersten gemeinsamen Urlaub auf einer Insel vor Hongkong plötzlich verschwindet und die Frau wieder einsam ist. Dabei hatte es sich diesmal so real und richtig angefühlt.
Diese Geschichte erzählt Sibylle Berg in ihrem Liebesroman »Der Mann schläft«, in dem zwischen den beiden Zeitebenen, vor und nach dem Verschwinden des Geliebten, hin- und hergeschaltet wird. Bitter die eine Seite der Geschichte, süß die andere. Fein und klug beobachtet, oft auch ein bisschen rührend, ist das, was über das Zusammensein mit »dem Mann« erzählt wird.
Der Mann wird nur »der Mann« genannt, mit der Begründung, dass alle, die einen Namen haben, auch irgendwann gegangen sind. Also ganz elementar, archaisch, vorzeitlich: »der Mann«, das Urviech, und nicht Achim, Jörg oder Pascal. »Mein Mann« zu sagen, geht auch nicht mehr, das sagen Frauen, die ihren schon mit 29 geheiratet haben und 15 Jahre später mit anderen Pärchen auf Städtereise nach Berlin fahren. Für die Frau aus »Der Mann schläft«, die über 40 ist und ihren Lebensunterhalt mit dem Verfassen von Gebrauchsanweisungen verdient, ist der Mann, das Zusammenleben mit ihm und seine bloße Existenz wie ein Weltwunder, etwas sehr Kostbares, das macht die Beziehung so besonders. Sie betrachtet ihn zufrieden, wenn er schläft, tastet morgens beim Aufwachen als erstes mit der Hand nach seinem schweren Körper, registriert mit Staunen, dass er sofort zur Stelle ist, wenn sie stolpert, und findet es angenehm, dass er an Sonntagen aufsteht, um das Essen ins Bett zu schaffen. Nichts Glamouröses wird über ihn mitgeteilt, er ist ruhig, stammt aus einer normal kaputten Familie aus Ostdeutschland, ist groß, rothaarig und korpulent. Sein dicker Bauch wird sogar besonders geliebt, als Ort der Sicherheit und Kontemplation, wo sich die Erzählerin, vermutlich zierlich wie die Autorin selbst, aufgehoben und geborgen fühlt, wenn sie sich nachts auf ihn legt. Das für sie Erstaunlichste an der ganzen Sache ist, dass das Zusammensein völlig unspektakulär ist, ohne das ganze dramatische Programm narzisstischer Beziehungsversuche, es herrschen Frieden und Einklang, wo früher der Stress war, einzigartig und bedeutsam für den anderen zu sein.
Versuche, einander möglichst kluge Dinge über Kultur, Politik oder in den Nachrichten Gehörtes mitzuteilen, unternimmt das Paar keine. Leute, die einen ausführlich über ihr nächstes Buch, Theaterevent, Filmprojekt zutexten, kennt die Frau schon genug und ist abgenervt von den ganzen eitlen Nasen. Insgesamt wird wenig geredet, dafür versteht man sich umso besser. Man hat einander in groben Zügen mitgeteilt, wie die Kindheit war, und redet fortan über ganz alltägliche Dinge.
Verschwunden ist der namenlose Mann dann auf eine Weise, die die Erzählerin so noch nicht kannte. Die Beziehung wurde nicht mit vielen Worten beendet, wie es die Jungs mit den Vornamen immer gemacht haben, sondern gar nicht, der Freund ist einfach wie vom Erdboden verschluckt, völlig unvorhersehbar. Garantien, klar, gibt es zwar keine, auch in diesem Fall nicht, aber krank war der Freund nicht, und die rechnerische Wahrscheinlichkeit, dass er ihr an der nächsten Ecke von einem Tsunami oder einer scharfen Lolita-Chinesin entrissen werden würde, war ihr zurecht als äußerst gering erschienen, und umso dumpfer war dann die Wucht des plötzlichen Verlusts.
Auf dieser zweiten Erzählebene geht es wenig kuschelig zu. Es ist die triste Gegenwart einer Verlassenen, die sich mutterseelenallein auf einer Insel im pazifischen Ozean befindet. Hier wird die alte Geschichte des nur mal Zigaretten holenden Mannes aus der Perspektive der zurückgebliebenen Frau erzählt. Täglich geht sie zur Fähre, mit der er aufs Festland zum Einkaufen fahren wollte, immer hoffend, dass er mit verbundenem Arm oder bandagiertem Kopf, ansonsten aber völlig okay, aus dem Nebel auftaucht.
Auch man selbst will unbedingt wissen, was mit dem voluminösen Realo-Prinzen passiert ist, und liest das Buch wie einen Krimi in einem Atemzug bis zum Ende durch. Wie das auch oft mit diesen, eine gewisse Fallhöhe erreichenden Geschichten ist, die Auflösung bleibt dann ein wenig hinter den Erwartungen zurück, nimmt der Liebesgeschichte aber andererseits auch nichts von ihrer wunderbaren Magie. Vielleicht hat man auch ganz einfach auf ein echtes Happy End gehofft. Auch auf dieser Erzählebene wird nichts hektisch dramatisiert; ganz genau werden die Gefühlslagen ausgeleuchtet, und umso naturalistischer wirkt der Schmerz der Verlassenen.
Der in der Vergangenheit liegende Teil der Geschichte, in dem über den Mann regelrecht meditiert wird, ist mir der liebere. Das liegt nicht nur daran, dass hier die erfreulicheren Dinge verhandelt werden, hier werden auch die relevanten Dinge gesagt, über das Zusammenleben als Paar, die gescheiterten Beziehungsentwürfe der Post-Achtundsechziger, über das Älterwerden einer auf Jugendkultur abonnierten Generation. Beim Lesen der in der Gegenwart verhandelten Insel-Geschichte hat man dagegen das Gefühl, dass die Autorin versucht, einen durch Abschilderung makabrer Begegnungen (mit einer querschnittsgelähmten Prostituierten und einem verwitweten Masseur) irgendwie bei Laune zu halten.
Berufsskeptiker könnten lange Haare in der harmonischen Suppe schwimmen sehen. Aber eigentlich gibt es sie nicht. Die Beziehung zwischen beiden ist perfekt. Gut, die Frau beginnt irgendwann damit, Raumdeo im Haus zu versprühen, hört aber auch schnell wieder mit dem Hausfrau-Darstellen auf. Mann und Frau sind in einem Alter, in dem es einem völlig egal wird, wer welche Lebensstile gerade als richtig oder falsch einstuft. Man muss nicht mehr versuchen, Bonnie und Clyde zu sein, sich aber auch nicht mehr an irgendwelchen Emanzipationsentwürfen entlanghangeln. Man hat sich emanzipiert, auch von den emanzipativen Lebensentwürfen, als man sah, dass die am Ende des Tages bedeuten würden, ganz für sich in einer zugigen Künstler-Altbauwohnung mit lauter schlauen Büchern zu sitzen. Was dann vielleicht noch grauenhafter wäre als das Reihenhaus-Konzept der Eltern.
Ein bisschen fühlt man sich von dieser Geschichte über die Zerbrechlichkeit des Glücks an die Grausamkeit der Medienerzählung über das Verschwinden von Madeleine »Maddie« McCann erinnert. Dass das Glück verschwindet, ist ein Schlag des Schicksals, der Grund für das Abhandenkommen des Glücks scheint außerhalb der Beziehung und des eigenen Tuns zu liegen. Man hat nichts falsch gemacht, war nicht mal leichtsinnig. Man war auch ganz und gar nicht gelangweilt voneinander oder besessen vom anderen oder was auch immer die Todsünden einer Partnerschaft sein mögen. Alles war gut, und dann gar nichts mehr. Nicht nur, dass Sibylle Berg eins der schönsten Melodramen seit längerem geliefert hat, es ist auch eine berührendaufrichtig erzählte Geschichte über die Liebe einer sehr erwachsenen Frau.

Sibylle Berg: Der Mann schläft. Carl-Hanser-Verlag, ­München 2009, 312 Seiten, 19,90 Euro