Über den Roman »Das Leben der Wünsche« von Thomas Glavinic

Das Leben ist ein Wunschkonzert

Wer die letzten großen Fragen in das Zentrum eines Romans stellt, muss sich unvermeidlich mit den letzten fehlenden Antworten herumschlagen. Dem österreichischen Schriftsteller Thomas Glavinic, der von der Liebe, dem Vergehen der Zeit und vom brennenden Wunsch, eine Zimmerdecke zu sein, erzählt, gelingt das.

Es ist ein Kinderspiel, ein Märchenmotiv, Witzsujet und auch eine Art Rätsel: Drei Wünsche hast du frei, nicht mehr, nicht weniger. Was stellst du damit an? Schon als Kind ist man irgendwann darauf gekommen, dass es wohl am klügsten wäre, sich einfach die Erfüllung von mehr Wünschen zu wünschen, eigentlich sogar: die Erfüllung von allen Wünschen. Nur verstieß ein solcher Wunsch natürlich grundsätzlich gegen irgendwelche blöden Regeln, zudem hatte man seine Erfahrungen mit Märchen, in denen Vermessenheiten solcher Art normalerweise martialisch bestraft werden. Also ließ man lieber die Finger von dieser Sorte Gedankenspiel und lehrte sich selbst den Wert der Beschränkung: drei Wünsche, nicht mehr, nicht weniger. Und was für ein Fehler das war! So viel älter musste ich werden, bis Thomas Glavinic mir in seinem neuen Roman »Das Leben der Wünsche« beweisen konnte, dass der Spaß erst beginnt, wenn die gute Fee die Bühne verlassen und alle Wünsche gewährt hat.
Glavinic, dem es in seinem neuen Roman ähnlich wie in seinem vorletzten, »Die Arbeit der Nacht«, um die allerletzten Fragen geht, spart nicht mit Hinweisen auf die Zusammengehörigkeit der beiden Bücher. Während einerseits deutlich wird, dass ganz unterschiedliche Protagonisten handeln, weisen sie doch eigenartige Gemeinsamkeiten auf, etwa heißen die Helden beider Romane Jonas, sind 35 Jahre alt, haben einen verwitweten Vater und lieben je eine Stewardess namens Marie, von der sie romantische Kurznachrichten teils gleichen Inhalts auf ihre Mobiltelefone gesendet bekommen. Diese Selbstreferenzen sind lustig, wären aber kaum notwendig gewesen, um die Zusammengehörigkeit der beiden Romane zu betonen, die sich schon aus den ihnen gemeinsamen Themen ergibt: Glavinic geht es um nicht weniger als die letzten Dinge, etwa um die Zeit und die Unmöglichkeit, sie zu kontrollieren, auch um die Unendlichkeit des Alls, Freundschaft, Liebe, Hass und den brennenden Wunsch, eine Zimmerdecke zu sein. Das Leben selbst ist es also, das dem Autor keine Ruhe lässt. Um diesem schattenhaften Ding ein wenig auf die Schliche zu kommen, hält Glavinic sich denn auch in diesem Roman nicht lange mit einer weitschweifigen Exposition auf, sondern bringt seinen Protagonisten zügig in die gewünschte Extremsituation. Diese ist in »Das Leben der Wünsche« komplementär angelegt zu jener in »Die Arbeit der Nacht«: Spielte Glavinic dort durch, wie es einem Menschen ergeht, der allein mit sich auf der Erde zurückbleibt und alles verloren hat, geht es nun um einen Menschen, dem jeder Wunsch erfüllt wird, der also alles gewinnen kann.
Dementsprechend ist »Das Leben der Wünsche« weitaus weniger düster geraten als »Die Arbeit der Nacht«. Bei näherer Betrachtung liegt das allerdings hauptsächlich an der deutlich besseren Stimmung des Protagonisten, dessen Innenleben den Erzähler über weite Strecken des Romans beschäftigt. Der Verlauf der Dinge dagegen gibt nicht weniger Anlass zur Beunruhigung als jener des ersten Buches. Wie sollte es auch anders sein? Mal ehrlich: Möchten Sie mit jemandem befreundet sein, dessen Wünsche samt und sonders in Erfüllung gehen? Alle, auch die nicht so netten, jene, zu denen er sich bewusst kaum bekennen würde? Denn dass Wünschen hier nicht verwechselt werden sollte mit Wollen, macht Glavinic gleich zu Beginn klar, und entsprechend sinister entwickelt sich die Geschichte denn auch. Seite um Seite verfolgen wir, wie Jonas’ Wille eine Runde nach der nächsten verliert an seinen hässlichen großen Bruder, der gewöhnlich im finsteren Keller vor sich hin degeneriert und höchstens im Therapiezimmer mal verschämt präsentiert wird: den Wunsch. Das ist nicht immer schön mit anzusehen – natürlich nicht, erforschen Sie sich nur mal selbst: Wer von uns würde sein Wollen nicht beispielsweise auf das Erlangen großer, gar allumfassender Weisheit ausrichten, ein würdiges Ziel! Andererseits, recht zufrieden wäre man ja vielleicht auch schon, wenn sich halt einfach mal alle dazu entschließen könnten, einem Recht zu geben, in allem, für immer. Oder nicht? Sehen Sie, das ist er, der Wunsch. Und könnten Sie wirklich dafür garantieren, dass die Erfüllung aller Ihrer Wünsche nicht dazu führen würde, dass alle von Ihnen auch nur ansatzweise begehrten Personen sich zukünftig ausschließlich in knappen goldenen Höschen auf die Straße begeben würden, dabei große Schilder hochhaltend, mit einer sehr großen Schrift drauf, die besagt, dass sexuelle Handlungen mit genau Ihnen das höchste und eigentlich auch einzige Ziel im Leben eben dieser Personen darstellen und sie sich über ein wenig Assistenz von Ihrer Seite wirklich sehr, sehr freuen würden? Na?
Glücklicherweise verfügt Jonas über eine etwas weniger bizarre Persönlichkeitsstruktur als Sie (goldene Höschen??) und hegt also ganz andere Wünsche. Dennoch steht es um eine Welt, die diesen ausgeliefert ist, nicht unbedingt zum Besten. Amüsant zu lesen ist das allemal, zumal die Handlung auch ohne das Mitwirken besagter Höschen einige groteske Wendungen nimmt. Erstaunlich etwa die Entwicklung der Affäre mit der bereits erwähnten Marie, die ihrem Gatten Apok auf für Jonas störende Weise zunächst noch sehr zugeneigt ist, sich deswegen ständig in äußerster Sorge darum befindet, er könne von ihrer Affäre erfahren, und Jonas’ Fantasie auch in Hinblick auf den Sex, den sie mit ihrem Gatten mutmaßlich noch hat, beschäftigt. Wie schön, dass sie sich schließlich irgendwann zu einer für Jonas in mehrfacher Hinsicht ermutigenden Überraschung entschließen kann: »Sein Geburtstagsgeschenk war eine Tätowierung auf ihrem Schamhügel: I love Jonas forever. (…) Ist das Henna? fragte er. Nein, das ist echt, sagte sie, es bleibt für immer und ewig. Apok wird es sehen, sagte er. Er leckt mich ja nie, sagte sie. Er wird es trotzdem sehen! Sagte er. Wir haben nur im Dunkeln Sex, sagte sie, und ich ziehe mich immer im Bad um.« So ist sie nämlich, die Welt, in der das Wünschen noch hilft.
Wer die letzten großen Fragen in das Zentrum eines Romans stellt, muss sich ganz unvermeidlich mit den letzten fehlenden Antworten herumschlagen. Es gibt nicht viele Menschen, die in dieser Weise schreibend über das Leben nachdenken können, ohne dass es peinlich wird. Glavinic aber kann es. Dennoch fragte ich mich beim Lesen ein ums andere Mal, wie er nun wieder herauszukommen plant aus dieser ganzen Wo-kommen-wir-her-wo-gehen-wir-hin-und-womit-verbringen-wir-die-Zeit-dazwischen-am-besten-Geschichte. Die Antwort ist natürlich: gar nicht. Das muss er meinetwegen ja auch nicht, er darf es gerne bei vagen Andeutungen metaphysischer Zusammenhänge belassen, zumal er im Ganzen so erfrischend unaufgeregt und wenig verschwurbelt darüber schreibt, dass sich genau die richtige Dosis von Unheimlichem im Alltäglichen ergibt. Warnen möchte ich dennoch alle Menschen, die sich noch nie besonders für das Lebensgefühl einer Zimmerdecke interessiert haben oder denen ­Sätze wie der folgende als Geschwätz aufstoßen: »Was in ihm war, das Abgeschlossene, das am Ende des Prozesses Angelangte, war zu unbedeutend, um ihm helfen zu können.« Lest ein anderes Buch, es gibt so viele. Fertig werdet ihr damit ohnehin nicht mehr, zum Glück, so etwas Entsetzliches wäre wohl kaum wünschenswert. Oder doch?

Thomas Glavinic: Das Leben der Wünsche. Carl-Hanser-Verlag, München 2009. 320 Seiten, 21,50 Euro

Thomas Glavinic: Die Arbeit der Nacht. dtv, München 2008. 400 Seiten, 9,90 Euro