Giftmüll im Mittelmeer

Endlager gefunden

Das Geschäft mit illegalen Giftmülltransporten ist für die italienische Mafia lukrativ. Im Mittelmeer soll sie Dutzende von Schiffen versenkt haben, die wahrscheinlich auch radioaktiven Müll transportierten.

Die tyrrhenische Mittelmeerküste Kalabriens ist sagenumwoben. Romantische Italien-Reisende suchten hier nach Spuren des mythischen Seefahrerhelden Odysseus, und auch heute prägen Vorstellungen von einer archaischen Unberührtheit die Reklame der Billigfluggesellschaften, die neuerdings die Region anfliegen. Doch die Bilder, die Mitte September auftauchten, zerstörten das Image der vermeintlich unberührten Strände und dokumentieren stattdessen ein Umweltverbrechen immensen Ausmaßes.
Rund 20 Seemeilen vor der Küste Kalabriens konnte mit Hilfe eines Unterwasserroboters, den das regionale Umweltministerium der Staatsanwaltschaft zur Verfügung stellte, in 400 Meter Tiefe ein Schiffswrack gefilmt werden. Die Aufnahmen zeigen einen Frachter, dessen Bug augenscheinlich durch eine Explosion im Innern des Schiffes aufgebrochen ist. Sowohl vor dem Wrack als auch in dessen Innern sind Fässer zu erkennen. Deren Inhalt ist noch unbekannt, vermutet wird jedoch, dass vor der kalabrischen Küste eine ökologische Katastrophe geschehen ist. Die Fässer könnten nicht nur giftigen, sondern auch radioaktiven Müll beinhalten.
Zum Fundort kamen die italienischen Behörden nicht durch Zufall. Bereits 2005 hatte Fran­cesco Fonti, ein Kronzeuge der kalabresischen Mafiaorganisation ’Ndrangheta, die italienische Justiz über illegale Giftmüllgeschäfte im Mittelmeer informiert, doch erst jetzt wurden aufgrund der Initiative des zuständigen Staatsanwalts Bruno Gior­dano und des regionalen Umweltreferenten Silvestro Greco im wahrsten Sinne des Wortes tiefergehende Untersuchungen eingeleitet.
In dem vor vier Jahren verfassten Dossier nennt Fonti drei Frachter, die er für verschiedene Clans der ’Ndrangheta Anfang der neunziger Jahre persönlich verschwinden ließ. Bei dem nun aufgefundenen Wrack scheint es sich um das des von ihm beschriebenen Frachters »Cunski« zu handeln, ein weiterer, die »Yvonne A«, müsste demnach nur wenige Kilometer weiter nördlich, ein drittes Schiff, die »Voriais«, dagegen sehr viel südlicher, an der ionischen Küste Kalabriens, auf Grund liegen. In mehreren Interviews bestätigte der ehemalige Boss in den vergangenen Tagen seine früheren Aussagen, wonach es für die ’Ndran­gheta ein einfaches und sehr lukratives Geschäft gewesen sei, mit giftigen Abfällen beladene Schiffe im Mittelmeer verschwinden zu lassen. Insgesamt seien mindestens 30 Schiffe versenkt worden, hauptsächlich vor der Küste Kalabriens, einige aber auch auf der Höhe der norditalienischen Hafenstädte La Spezia und Livorno.

Berichte über illegale Giftmülltransporte im Mittelmeer gab es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder, nicht nur seitens der Umweltorganisationen Greenpeace und WWF. Im Dezember 1990 war das Containerschiff »Rosso« vor der kalabrischen Küste in Seenot geraten und nur wenige Kilometer südlich vom Fundort der »Cunski« gestrandet. Während der Bergungsarbeiten waren einige Tonnen Fracht spurlos »verschwunden«. Gegen die Reederei, die ein altes, kaum noch seetüchtiges Schiff mit einer hochgiftigen Ladung auf See geschickt hatte, war ein Untersuchungsverfahren eingeleitet worden, in dessen Verlauf einer der ermittelnden Küstenoffiziere unter mysteriösen Umständen ums Leben kam, ehe die Ermittlungen aus Mangel an Beweisen eingestellt werden mussten. Im vergangenen Sommer wurden jedoch auf Höhe der damaligen Unglücksstelle in einem Flussbett im Landesinnern erhöhte radioaktive Werte gemessen. Staatsanwalt Giordano hält sich mit voreiligen Schlüssen zurück. Doch der Verdacht, dass »Rosso« eigentlich von der ’Ndrangheta hätte versenkt werden sollen und ein Teil der Fracht nach der unvorhergesehenen Strandung einfach an Land vergraben worden sein könnte, erhärtet sich.
Obwohl dem Kronzeugen aufgrund von Verhandlungserfolgen gegen Clanchefs der ’Ndrangheta höchste Zuverlässigkeit bescheinigt wird, wurden seine Informationen über die illegalen Giftmüllgeschäfte jahrelang angezweifelt. Das mag mit der Ungeheuerlichkeit seiner Aussagen zusammenhängen. Fonti behauptet nämlich, nicht nur Schiffssprengungen im Mittelmeer, sondern auch Müllexporte nach Somalia für die ’Ndrangheta organisiert zu haben. Die Berichte von den Speditionen an die afrikanische Küste sind von besonderer politischer Brisanz, da Fonti darin Zusammenhänge andeutet, die der italienische Staat seit Jahren zu vertuschen sucht.

Anfang der neunziger Jahre herrschte in Somalia Bürgerkrieg, die Uno schickte ein internationales Militärkontingent, das humanitäre Hilfe für die Bürgerkriegsopfer gewährleisten sollte. Die Journalistin Ilaria Alpi und ihr Kameramann Miran Hrovatin waren an Ort und Stelle und berichteten für das italienische Fernsehen. Im März 1994 gerieten sie in Mogadischu in einen Hinterhalt und wurden ermordet. Die Umstände ihres Todes wurden nie geklärt, eine eigens eingerichtete parlamentarische Untersuchungskommission kam zu keinem abschließenden Ergebnis. Auch Fonti, damals schon Kronzeuge, war von der Kommission vorgeladen worden. Während seiner Anhörung hatte er den Verdacht geäußert, die Journalistin sei den illegalen Transportgeschäften nach Somalia auf die Spur gekommen. Seine Aussagen wurden jedoch pauschal als »unbegründet« zurückgewiesen.
Fonti behauptet, die ’Ndrangheta habe mehrere Tonnen Giftmüll auf Schiffen, die die italienische Entwicklungshilfe finanziert habe, nach Somalia exportiert. Im Hafen von Bosaso, den damals italienische UN-Soldaten kontrollierten, sei die Fracht auf Lastwagen verladen worden. Zu Mutmaßungen, wonach der Müll schließlich entlang einer Wüstenstraße – deren Bau wiederum eine italienische Kooperative organisierte – verscharrt worden sei, äußerte sich Fonti bisher nicht. Er bestätigte hingegen, dass die somalischen Warlords dafür mit Waffen aus den Beständen des aufgelösten Warschauer Pakts beliefert wurden, deren Import über dieselben Giftmüllschiffe lief. In aktuellen Zeitungsberichten wiederholt Fonti seine alte Behauptung, dass die ’Ndrangheta diesen doppelten Transportservice im Auftrag von italienischen und internationalen Geschäftemachern und unter dem Schutz der jeweiligen italienischen Regierung organisiert habe und dafür über den italienischen Geheimdienst entlohnt worden sei.
Der Bericht des Kronzeugen deutet auf ein weitreichendes internationales Geflecht aus Wirtschaft, Politik und italienischer Mafia hin, findet aber ein weiteres Mal kaum Beachtung. Zwei Wochen nach dem spektakulären Fund liegt die Küste Kalabriens still und verlassen in der Herbstsonne: Die italienische Regierung, die seit ihrer Amtsübernahme den Neubau von Atomkraftwerken propagiert, schweigt zu dem aus der Versenkung aufgetauchten Problem des Atommülls ebenso wie zu den von Fonti behaupteten kriminellen Verflechtungen. Aus dem Umweltministerium in Rom gibt es keine Auskunft darüber, ob nach weiteren versenkten Frachtern gesucht wird, wann die Fracht und das Wrack der »Cunski« geborgen werden und wo der an Land geschaffte Giftmüll schließlich hingebracht werden soll. Kalabrien hat weder die notwendigen technischen Gerätschaften noch die finanzielle Kapazität für weitere Untersuchungs- und Bergungsarbeiten. Nachdem italienische Ermittlungen über Jahre hinweg behindert, verschleppt und schließlich eingestellt worden sind, sowie wegen der sich abzeichnenden internationalen Verwicklungen, verlangen die kalabrischen Behörden, dass sich nun die Europäische Umweltagentur mit der Aufarbeitung der illegalen Giftmülltransporte im Mittelmeer befasst.