Über die Wahlergebnisse

Fast alle doof da draußen

Wahlbeobachter der Jungle World kommentieren die Ergebnisse der Bundestagswahl. Analytisch, ohne Restalkohol und garantiert unkuschelig.

Klare Kampflinien

Sind Wahlsonderbeobachter der Uno in Deutschland stationiert? Dann habe ich eine unfreie Wahl zu melden. Der Wahl-o-Mat hat mich dazu genötigt, meine Stimme den Linken zu geben. Das kam mich sauer an, denn ich mag, mit der einzigen Ausnahme von »Reichtum für alle«, ihre Parolen nicht und ihr Personal noch viel weniger. Aber du kommst aus deiner Klasse nicht heraus. Für den Wahlabend habe ich ein großes Malheur erwartet: Fortsetzung von Schwarz-Rot und dumpfe Sprüche von links.
Es kam glücklicherweise ganz anders. Der Einbruch der Selbstgefälligen Partei Deutschlands war erfreulich, Mitleid habe ich nicht empfinden können. Frank-Walter Steinmeier, nicht von derselben Dreistigkeit, die Gerhard Schröder daran gehindert hat, sein Scheitern auch nur einzugestehen, zehrt noch immer vom Fett der guten Laune. Einmal angefuttert, wird man’s so schnell nicht wieder los. Unter dem blöden Jubel seiner Genossen erklärte er, er übernehme sowohl die Verantwortung für das Debakel als auch die für die nächste Fraktion. Es ist kaum zu fassen. Wenn die Parteilinke nicht in der Lage ist, diesen Bürokraten und seinen Zuchtmeister zu stürzen, wird die SPD endgültig verschwinden, und es wird nicht schade um sie sein.
Dem Geschmack der Deutschen, verwaltet zu werden, kamen von jeher die Volksparteien ­entgegen. Sie installierten eine unsichtbar vor sich hinwurstelnde Administration, in der scheinbar für alles gesorgt ist. Das nützt der Gemütlichkeit und schadet dem politischen Gedanken. Doch mit einer breiten Verarmung traten die Konflikte zutage und es zeigte sich, dass Parteien vom Interesse und nicht vom Gemeinwohl geformt werden. Das Ende der Volksparteien sollte auch den freuen, der die politische Sphäre für überschätzt hält. Denn dass nach dem Willen der Wirtschaft mehr als ein Drittel der Bevölkerung dem Wachstum geopfert werden soll, muss doch Streit entfachen. Weshalb nicht auch im Parlament? Hat die außerparlamentarische Opposition etwa die politische Kultur befördert?
Die Repolitisierung ist mit dem Erstarken der Liberalen teuer, aber nicht zu teuer erkauft. Unschätzbar ist es, den Gegner kennenzulernen. Man muss den frohlockenden BDI-Präsidenten, die nach »Leistungsanreizen« lechzenden Mittelständler und die FDP-Granden, flankiert von »Prominenz aus Film und Hochadel« (FAZ), gesehen haben. Von den Linken erwarte ich mir nicht viel, aber nicht wenig von einer Situation, in der die Kampflinien klarer denn je verlaufen.
Stefan Ripplinger

Homophobe Restpromille
Eine durchschnittliche Lebensdauer von 78 Jahren sowie überdurchschnittlich stabile Regierungskoalitionen vorausgesetzt, wird man etwa 14 oder 15 Mal dazu eingeladen, sich an den Wahlen zum Deutschen Bundestag zu beteiligen. Nun ist es rein statistisch gesehen – und nein, an dieser Stelle folgen keine mathematischen Formeln und Beweise – völlig normal, dass jeder Wähler (und natürlich auch jeder Nicht- und jeder Ungültig-Wähler) an manchen dieser Wahlabende ob des Ergebnisses äußerst schlechte Laune haben wird. An manchen. Und nicht immer. Rein statistisch gesehen jetzt. Gut, es ist nicht auszuschließen, dass die einem zustehende Wahlabendfreude in den Lebensjahren zwischen 70 und 78 stattfindet, und dann vielleicht auch nur deswegen, weil einen irgendeine Form der Alterssenilität erwischt hat, die dauernde Euphorie wegen praktisch nix zur Folge hat, kann ja durchaus sein. Aber schön wäre es doch, hätte man wenigstens einmal erlebt, wie das ist, wenn man um 18 Uhr den Fernseher einschaltet und nicht beim ersten Blick auf die sich aufbauenden bunten Balken »Fuck« sagen muss. Allerdings hat so ein Leben als Dauer-Wahlverlierer durchaus auch eine positive Seite: Man muss sich nicht die unweigerlich folgenden Analysen und Kommentare der einschlägigen Meinungshaber durchlesen, um dann schließlich zur Erkenntnis zu kommen: Alle doof da draußen, naja, jedenfalls fast alle.
Immerhin, bei dieser Wahl gab es wenigstens ein bisschen Grund zur Freude. Zur Schadenfreude, um genau zu sein. Zu verfolgen, wie die vereinigten deutschen homophoben Spinner auf den Wahlerfolg der FDP und damit auf Westerwelle als künftigen Minister reagierten, vulgo: abkotzten, war schon ein ganz besonderer Spaß. Denn man verlor nicht nur in den einschlägigen Deppen-Foren ganz schnell die Contenance, sondern sozusagen auch hochoffiziell. Den Anfang machte der Duisburger SPD-Mann Peter Langer, immerhin Dezernent und Kämmerer, der während einer Wahlparty sagte: »Ich will keinen schwulen Außen­minister haben.« Ein paar Stunden später am Montagmittag folgte eine Twitter-Meldung der Piratenpartei Sachsen-Anhalt: »Deutschland wird jetzt in den nächsten vier Jahren von zwei Frauen regiert«, hieß es in dem mittlerweile gelöschten, per Suche allerdings noch auffindbaren Tweet. Die Landesgruppe entschuldigte sich mit der Bemerkung, da habe wohl noch jemand Restpromille gehabt. Klar, kann ja mal passieren. Und wird sicher noch öfter passieren.
Elke Wittich

Ausgekuschelt
Wahlabend – in der unglaublichen Stofftier-Soap der Puppenkünstler Andreas Walter und Ulrike Dittrich. Die kleine Bühne aus Sperrholz steht in der Berlin-Neuköllner Kneipe »Ä«, im Publikum 50 Theaterliebhaber. »Wie in jeder Folge geht es auch heute hauptsächlich um Sex und Gewalt«, sagt Walter.
Unter dem Titel »Wahlkampf oder Qualkrampf« debattieren Experten. Dr. Hetzer, Plüschprofessor von der Charité, der sonst mit Kuscheltierversuchen von sich Reden macht, bewertet die hirnphysiologischen Grundlagen der Politikverdrossenheit. Moderatorin Birgit Schrowange (blaue Planschkuh): »Ja, hier heißt es: ›Aus der Krise hilft nur Grün‹.« Professor Hetzer: »Da kann man eigentlich nur noch rot werden.«
Wahlen, das ist etwas, wofür andernorts Menschen – mit und ohne Stoffkumpanen – auf die Straße gehen oder ins Gefängnis. Gern eins nach dem anderen. Gerade Deutschland hat schon sehr seltsame Erfahrungen mit Wahlen gemacht – erst gab es welche, dann gab es ganz lange gar keine, und beim nächsten Mal gab es zwei Deutschlands.
Oder, aktuelles Problem, es geht einfach keiner mehr hin. Auch die Stofftierparteien haben diese Gefahr erkannt. Stoff-CDU und -FDP geben daher – Gewalt und Sex – eine furiose Wahlparty.
Im Keller der Bühne treffen sich Vertreter diverser Stoff-Glaubensgemeinschaften mit dem Teufel. Wie sie ist der ausgestopfte Beelzebub von der Zunahme des Stoff-Atheismus in der Kuschelpolitik gefährdet. »Wenn die Menschen nicht mehr an Gott glauben, dann auch nicht an den Teufel. Kollegen, wir sitzen im selben Boot.« Es ist daher gut, wenn CDU/CSU die Mehrheit erlangen. Satan bekundet, dass er hinter den Kulissen seine ultimative Wahlkampfwaffe postiert hat. Eine Fledermaus fliegt ein, der Unhold pfeift: »Möllemann!« Bei Schrowange sind die Politikangestellten derweil bei ihren – Sex und Gewalt – schlüpfrigen Vorlieben angekommen. Guido Westerwelle, ein kleiner Hase, singt das Lied vom Wahlsieg.
Nach der Pause gibt es das Schmusetier-Casting. »Das ist Paul«, beginnt eine Besucherin so oder so ähnlich über eine undefinierbare, pene­trant pinke Gummikugel zu referieren, die hinter aufgeklebten Augen hektisch flackert. »Den hab’ ich von meinem Ex. Der lag fünf Jahre hinterm Schrank. Der Freund ist weg, aber Paul ist geblieben. Jetzt möchte er eine Nebenrolle in der Stofftier-Soap.«
Da Paul heute der einzige Kandidat ist, geht der Plan auf. Walter: »Da kommt nur eine Rolle in Frage: Gott.« So ist das in der Demokratie.
Walter geht mit dem Hut rum. Auch hier ist die Stofftierwelt nah an der Politik. »Ihre Spende entscheidet, was unsere Kinder morgen auf dem Teller haben«, sagt Walter.
Jürgen Kiontke