Die Rüstungsvorhaben lateinamerikanischer Politiker

Frieden schaffen mit mehr Waffen

Die Rüstungsausgaben in Lateinamerika haben sich innerhalb von fünf Jahren fast verdoppelt. Doch alle Regierungen beteuern, die regionale »Friedenszone« erhalten zu wollen.

Wenn südamerikanische Politiker ihre Rüstungsvorhaben rechtfertigen, ist »Friedenszone« das wohl am häufigsten gebrauchte Wort. Alle Regierungschefs der Region beteuern, dass sie Südamerika als »Friedenszone« erhalten wollen und ihre Waffenkäufe sich keinesfalls gegen irgendeinen der Nachbarn richten. Es gehe nur darum, das eigene Land im Notfall verteidigen zu können. Derzeit müssen die südamerikanischen Regierungen recht häufig ihre friedlichen Absichten beteuern. Nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri haben sich die Rüstungsausgaben in Lateinamerika von 2003 bis 2008 um 91 Prozent erhöht.
Am 14. September gab der venezolanische Präsident Hugo Chávez auf einer öffentlichen Veranstaltung in Caracas ein neues Rüstungsabkommen mit Russland bekannt. Für die neuen Waffenkäufe bekam Venezuela von Russland einen Kredit über 1,5 Milliarden Euro. Von diesem Geld will Chávez 92 T-72-Panzer kaufen sowie eine nicht genannte Zahl von S-300-Luftabwehrraketen. Seit 2005 gab Venezuela insgesamt etwa 3,6 Milliarden Euro für russische Waffen aus.

Die neuesten Waffenkäufe legitimierte Chávez mit der Bedrohung durch die sieben Militärbasen in Kolumbien, die demnächst von den US-Streitkräften benutzt werden dürfen (siehe Jungle World 36/09). »Wir wollten keine Waffen kaufen, aber was sollen wir machen, wenn die Yankees sieben Basen dort bauen? Wir statten uns für die Verteidigung aus, so dass niemand auf die Idee kommt, sich mit uns anzulegen«, sagte Chávez. Die neuen Waffen seien für rein defensive Zwecke bestimmt, er bekenne sich zur »Friedenszone Südamerika«. Doch Venezuela habe große Erdöllagerstätten, die vor dem Zugriff des »Imperiums« geschützt werden müssten. Dabei nannte Chávez auch die 4. US-Flotte als mögliche Bedrohung, die Mitte vorigen Jahres nach fast 60 Jahren reaktiviert wurde. Dieser Marinekampfverband hat die Aufgabe, US-Interessen in der Karibik und vor der südamerikanischen Küste zu schützen.
Ähnlich wie Chávez rechtfertigte auch sein brasilianischer Amtskollege Luis Inácio Lula da Silva seinen neuesten Waffenhandel mit Frankreich. Die Investitionen in die Rüstung seien nötig, um die Grenzen Brasiliens, insbesondere im Amazonasgebiet, zu sichern. Auch die im vergangenen Jahr gefundenen Ölfelder vor der brasilianischen Küste gelte es zu schützen. Dort werden über 50 Milliarden Barrel Erdöl vermutet, mehr als doppelt so viel wie in allen brasilianischen Lagerstätten, die bisher gefunden wurden. Sollten sich die optimistischsten Prognosen als zutreffend erweisen, würde Brasilien in den Kreis der zehn Länder mit den größten Erdölreserven aufsteigen. Mit den Erlösen aus dem Ölverkauf soll ein Fonds zur Finanzierung von Bildungs- und Sozialmaßnahmen geschaffen werden. Bei seiner Fernsehansprache zum Unabhängigkeitstag am 7. September präsentierte Lula diese Pläne der Bevölkerung. »Dieser 7. September läutet unsere neue Unabhängigkeit ein«, sagte Lula pathetisch.
Es war gewiss kein Zufall, dass der Ehrengast der diesjährigen Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag der französische Präsident Nicolas Sarkozy war. Das große Waffengeschäft mit Frankreich sollte wohl Lulas Anspruch auf eine »neue Unabhängigkeit« unterstreichen, die beiden Präsidenten nutzten die Gelegenheit und vereinbarten einen Vertrag über Rüstungskooperation. Für 1,9 Milliarden Euro sollen 50 Hubschrauber französischen Designs von der Firma Helibras hergestellt werden. Helibras gehört je zur Hälfte dem europäischen Rüstungs- und Flugzeugkonzern Eads und dem brasilianischen Flugzeugbauunternehmen Embraer. Sarkozy will dafür die Transportflugzeuge der französischen Armee durch das modernere Modell KC-390 von Embraer ersetzen. Für 6,6 Milliarden Euro will Brasilien überdies seine U-Boot-Flotte modernisieren. Drei französische U-Boote will die brasilianische Marine kaufen; Hauptbestandteil des Waffengeschäfts ist aber der gemeinsame Bau eines nuklear betriebenen U-Boots.

Es ist dieser Technologietransfer, der die Kooperation mit Frankreich für Brasilien so interessant macht. Deshalb werden den französischen Bewerbern bei der brasilianischen Ausschreibung für 36 neue Jagdflugzeuge auch die besten Chancen gegeben. Derzeit versucht das US-amerikanische Unternehmen Boeing mit dem Jagdflugzeug F-18 Super Hornet, die schwedische Firma Saab mit dem Gripen NG und der französische Konzern Dassault mit dem Rafale den Auftrag über 2,7 Milliarden Euro zu bekommen. Dassault bot an, dass Embraer die Flugzeuge in Lizenz bauen und vertreiben könnte. Das technologische Wissen soll dabei an die brasilianische Firma weitergegeben werden. Nun versuchen Boeing und Saab, sich mit noch attraktiveren Angeboten zu überbieten. Saab bot bereits zwei Gripen zum Preis von einem an. »Bald kriegen wir die Flugzeuge noch umsonst«, witzelte Lula. Eigentlich wollte sich seine Regierung am vorvergangenen Montag entschieden haben, nun wurde die Frist bis zum 2. Oktober verlängert.
Brasilien will in den Kreis der Weltmächte aufsteigen. Wer einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat anstrebe, brauche auch eine moderne und starke Armee, sagte der brasilianische Verteidigungsminister Nelson Jobim. Für Brasilien ist der Vertrag mit Frankreich das größte Rüstungsvorhaben seit dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg 1942. Doch Lula betonte wie Chávez den rein defensiven Charakter. Er bekannte sich zur »Friedens­zone« Südamerika, nannte aber auch die 4. US-Flotte als mögliche Bedrohung für die Ölfelder.

Viele Linke in Lateinamerika begrüßen die Aufrüstung als Emanzipation von den USA, obwohl die Rivalität zwischen Venezuela und Brasilien um die Stellung als vorherrschende Regionalmacht bei den Waffenkäufen sicherlich auch eine Rolle spielte. Doch derartige Überlegungen werden gerne ignoriert. So kommentiert Raul Zibechi, Mitherausgeber der linken uruguayischen Wochenzeitung Brecha, auf der chavistischen Internetplattform Aporrea, dass die jüngsten Waffenkäufe in Lateinamerika das Ende der US-Hegemonie über den Subkontinent bedeuteten. Mit der Autonomie in der Rüstung höre die Region endlich auf, »der Hinterhof der USA« zu sein. Dass es in der »Friedenszone Südamerika« immer mehr Waffen gibt, scheint nicht zu stören, sofern sie nicht aus den USA kommen.