Eine Analyse der Ergebnisse der Bundestagswahl

Im Land der Leistungsträger

Sinkende Wahlbeteiligung, das Ende der Volksparteien und scheinbar klare Kampflinien: Das sind die Ergebnisse der Bundestagswahl. Wird aus der »Linken« die neue SPD? Formiert sich unter Schwarz-Gelb eine geschlossene Gesellschaft der Mittel- und Oberschicht?

Es hatte den Anschein, als habe es auf Seiten der radikalen Linken in den Wochen vor der Wahl eine breitere Wahlboykott- und Antiparlamentarismus-Kampagne gegeben. Mag sein, dass Blogs und Web-Radios einfach nur eine schnellere Verbreitung der üblichen »Wählen ist verkehrt«-Aufrufe ermöglicht haben. Wahrscheinlicher aber ist es, dass tatsächlich vermehrt Debatten um den Sinn von Wahlen und den Gehalt der Demokratie stattfanden. Wohl deshalb, weil die radikale Linke den absehbaren Wahlerfolg der Linkspartei an fünf Fingern abzählen konnte und sie sich in ihrer chronischen Schwäche fast neurotisch auf diese Partei bezieht. Einerseits ist die Linkspartei für viele Aktivisten und Intellektuelle Objekt der Begierde, sie verheißt Jobs im Parteiapparat und zahllose Promotionsstipendien. Sie suggeriert, dass man durch sie Zugriff auf »die Massen«, die Prekarisierten und Arbeitslosen, bekommen könne. Andererseits gilt sie den Radikalen genau deswegen als besonders perfide Inkarnation der schlechten, alten Sozialdemokratie.
Man kann aus den Aufrufen zum Wahlboykott und den in den Blogs tobenden Diskussionen über die Wahl des kleineren Übels durchaus herauslesen, dass eine insgesamt zerstreute linksradikale Szene noch nicht von der Linkspartei loskommt.

Auf das »noch« kommt es an. Denn wir dürften zum letzten Mal die »Linke« als eine Partei erlebt haben, die sich als verlängerter Arm der außerparlamentarischen sozialen Bewegungen versteht, die also ganz bewusst Politik-Angebote für Szeneaktivisten offeriert. Am Wahlabend vor vier Jahren sprach Oskar Lafontaine in jedes Mikrofon, man werde außerhalb der Parlamente seine Bündnispartner finden. Das ist vorbei, die Bündnisse werden wieder im Herzen des Staats geschmiedet. Mit Hilfe von rot-rot-grünen Landesregierungen (Thüringen! Saarland! Brandenburg!) soll Schwarz-Gelb im Bundesrat unter Druck gesetzt werden.
So hörte man denn auch am Wahlabend von Lafontaine, Gregor Gysi oder Katja Kipping besonders häufig den Satz, die SPD müsse sich »resozialdemokratisieren«. Es ist der offensichtliche Sinn dieses Satzes, der übrigens keinem Kommentator aufgefallen ist, dass sich die SPD gefälligst wieder dorthin zu bewegen habe, wo die »Linke« schon sei. Mithin ist die »Linke« die aktuelle Fahnenträgerin des sozialdemokratischen Prinzips. Wer die »Linke« gewählt hat, um sich an der SPD zu »rächen«, muss sich getäuscht sehen. Er hat die SPD bekommen. Nirgendwo steht geschrieben, dass eine »Linke«, die 2013 zur Regierungspartei aufsteigt, nicht doch, zwar zähneknirschend, aber ganz selbstverständlich der Staatsräson wegen, neue Bundeswehreinsätze und weitere Sozialkürzungen mittragen würde.

In den Wehklagen über das Ende der SPD in der Bundesrepublik, die in den elf Jahren seit 1998 über zehn Millionen Wählerstimmen eingebüßt und sich folglich halbiert hat, ist eben dies untergegangen. Es ist ja nur das Ende der alten SPD. Das sozialdemokratische Spektrum ist dank Lafontaine, Gysi und Bodo Ramelow stabil. Und so wird es in den parlamentarischen Auseinandersetzungen der nächsten vier Jahre das geben, was es in den vergangenen elf Jahren nicht gegeben hat. Zwei Lager – hier Rot-Rot, dort Schwarz-Gelb. Es stimmt, dass die Grünen in dieser Rechnung den Unsicherheitsfaktor spielen, können sie doch schon seit längerem mit der CDU. Die FDP mit ihrem bedingungslosen Votum für Schwarz-Gelb ist ihnen allerdings zuvor gekommen und hat eine schwächelnde CDU in die babylonische Gefangenschaft genommen, sodass die Grünen vorerst, min­destens bis 2013, im linken Spektrum verharren.
Interessant ist in den kommenden Jahren nicht die Antwort auf die Fragen, ob sich Schwarz-Gelb besonders »neoliberal« gibt oder das linke Spek­trum »soziale Antworten auf die Globalisierung« findet, die auch einem Redakteur des Spiegel gefallen würden. Es kommt ja doch alles anders, wer hätte denn vor elf Jahren daran gedacht, dass Gerhard Schröder und Joschka Fischer Helmut Kohl außen- und sozialpolitisch »rechts« überholten? Interessanter ist folgende Frage: Wie werden die Parteien in den nächsten Jahren die Bevölkerung organisieren, um in der internationalen Standortkonkurrenz voranzukommen?
Die »Linke« ist die stärkste Partei bei den Arbeitslosen geworden. Während sie im Osten mittlerweile an ihre Grenzen stößt, hier und da sogar schrumpft, gewinnt sie im Westen dort, wo sie sich als Partei der Prekarisierten gibt. Die »Linke« steht als letzte Partei offensiv für das Modell der gesellschaftlichen (und nicht nur betrieblichen) Sozialpartnerschaft. »Reichtum für alle« las man auf ihren Plakaten. Der andere Wahlslogan, »Reichtum besteuern«, steht dazu nicht im Widerspruch. Jeder gibt was, alle bekommen was, und es ist verboten, unter Brücken zu schlafen. Ein bisschen Umverteilung, ein bisschen Regulierung, so geht Sozialstaat. Die Chancen stehen gut, dass die Linkspartei für dieses Projekt die SPD wieder und die Grünen noch einmal begeistern könnte. Es ist ein inklusionistisches Projekt, das heutzutage illusionsfrei daherkommt. Es stoppt keinen deutschen Krieg am Hindukusch, und es wird auch kein Comeback der Goldenen Siebziger Jahre einläuten. Was aber bleibt, ist, dass die Linke auch in Zukunft darauf beharren wird, den Erfolg der Nation an der Integration der Schwächsten in einen möglichst einheitlichen Arbeitsmarkt zu messen.

Vor allem der FDP dürfte das egal sein. Ihr Erfolg ist gerade kein Ausdruck der Schizophrenie, dass in der größten Krise ausgerechnet die neoliberalen Apologeten am meisten dazu gewinnen. Wenn die FDP »Leistung muss sich wieder lohnen« und »Mehr Netto vom Brutto« fordert, dann will sie ihrer Klientel die Abgaben ersparen, die zur Aufrechterhaltung des klassischen Systems des Sozialstaats flossen. Mitten in der Krise behauptet sie äußerst erfolgreich, dass nur die Leistungswilligen sich selber aus dem Sumpf ziehen können. Eben diese Leute müssten durch Steuersenkungen gefördert werden. Die FDP akzeptiert die zunehmende Zersetzung des Sozialstaats und die Zersplitterung des Arbeitsmarktes. Wer sich in dieser Welt nicht mehr zurechtfindet, wer seine Chance des Self-Empowerment nicht genutzt hat, der verspielt im Prinzip das Recht, weiter Angehöriger dieser Gesellschaft zu sein. Er wandert ab ins Prekariat – ins finstere Reich der Abgehängten. Spricht nicht die sinkende Wahlbeteiligung, die Erosion auch der CDU für diese Sicht auf eine zunehmend atomisierte Gesellschaft, in der allein die Leistungsträger sich noch zu gemeinsamen politischen Koalitionen und Visionen aufschwingen können?
Viel spricht dafür, dass die FDP die CDU/CSU von dieser Sichtweise überzeugt haben dürfte. Nicht weil Angela Merkel insgeheim doch neoliberal ist. Ein Blick auf die Zahlen dürfte ihr genügen: Die Union hat ein grottenschlechtes Wahlergebnis eingefahren, zwei Millionen Stimmen hat sie im Vergleich zu 2005 verloren. Die CSU hat ihren Nimbus als identische Volks- und Staatspartei bereits verloren. Um die CDU, die seit Jahren bei Landtagswahlen stark verliert und nur von der noch schwächeren SPD profitiert, stünde es mittelfristig nicht besser. Als Volkspartei kann sie sich zukünftig nur behaupten, wenn sie »das Volk« enger definiert – als Volkspartei der Mittel- und Oberschichten. Der »Rest« geht sowieso nicht mehr wählen oder bleibt bei der »Linken«.
Man wird in den kommenden Jahren wohl ­einen weiteren inszenierten Kampf zweier Linien erleben. Ein aufgefrischter Kult um »den Leistungsträger« gegen Sozialintegration auf niedrigem Niveau. Es wäre ja schon ein kleiner Fortschritt, wenn die Linkspartei dabei ohne Unterstützung der Szeneaktivisten auskommen müsste.