Über den Roman »Das Beste, was wir hatten« von Jochen Schimmang

Schön war die Zeit

Jochen Schimmangs Roman »Das Beste, was wir hatten« ist ein Bewusstseinsstrom, der durch vier Jahrzehnte Bundesrepublik rauscht.

Berlin ist keine Stadt, wo man hingeht, wenn man von seinen Eltern fortzieht. Dafür kommt nur London in Frage. Oder Liverpool! Die beiden Kumpels Gregor und Nott, die Jungs in Jochen Schimmangs hochinteressantem Roman »Das Beste, was wir hatten«, wissen schon ganz früh, wie und wo die Hasen laufen. Christine Keeler ist ihre Projektionsfläche, und der englische Minister Profumo ihr Held: Das Model und der Politiker haben gerade hochdramatisch deutlich gemacht, dass Erwachsene Sex haben – und zwar total versauten und politisch verbotenen. Denn diese Affäre wird zum Spionageskandal. Sowas hätten sie auch gern.
Man merkt: Um die beiden Jungs herum befinden sich die sechziger Jahre. Sie leben in der westdeutschen Hauptstadt Bonn. Da müssen Entwürfe gemacht werden. So hocken sie in ihrem Schuppen und entwerfen die Wirklichkeit neu – in den Grenzen, die der Kalte Krieg ihnen setzt.
Als Jugendlicher muss man wenigstens Sänger bei Led Zeppelin werden oder auch Anführer einer marxistischen Gruppe. Schimmangs Leute finden den Weg nach London nicht und müssen sich, wie dazu verdammt, in den kalten Westberliner Wohnungen herumtreiben. Sie tun, was man heute auch tut. Sie studieren, trinken und spielen mit den anderen Spinnern Fußball. Beim Männerballett werden dann auch die beiden Protagonisten Gregor und Leo einander begegnen.
Ihr Ziel ist es, Frauen kennen zu lernen. Ganz typisch bauen sie dafür den Maoismus in Westeuropa auf, gern mit radikalfeministischer Fußnote. Manche von ihren Freunden schnüffeln gar für die Stasi. Die Frauen sowieso!
Gregor und Leo werden sich, das nennt man Generationenporträt, gegen ihre Träume und für die Wirklichkeit entscheiden. Ganz schnell landet der eine als Privatdozent an der Fachhochschule für Verwaltung in Speyer. Und später natürlich, welch glückliche Fügung, als Berater beim Minister.
Der andere geht gleich zum Amt für Verfassungsschutz in Köln. Spezialgebiet linke Aufklärung. Am Feierabend kann man ja immer noch Platten sammeln. Da sitzen sie dann, die Bau-auf-Kommunisten und schauen hoffnungsfroh aufs Alter. Jetzt kann gescheitert werden, bei Rotwein und Zigarren. Und das war’s noch lange nicht.
Schimmang ist gewiss auf kein Lob mehr angewiesen, er hat in 30 Jahren mehr als genug Romane geschrieben. Der Autor ist 61 Jahre alt. Er studierte Politische Wissenschaften und Philosophie an der Freien Universität Berlin und arbeitete als Dozent, bis er Anfang der neunziger Jahre Schriftsteller wurde, ein preisgekrönter. Es mag auf der Hand liegen, dass er über seine Weggefährten schreibt.
Für potenzielle Leser kann man aber ruhig erwähnen, dass »Das Beste, was wir hatten« eine sehr lustige, dicke Hausnummer ist, stilistisch reich an Zuspitzungen und schönen Be­obachtungen im Stil des klassischen Bildungsromans. Gleichsam komprimiert, breitet sich das Leben im Buch aus, reiht sich Schlüsselszene an Schlüsselszene. »Ein bisschen warteten sie darauf, dass das Leben anfing, aber nicht ungeduldig«, beschreibt der Autor zu Beginn seine zwei Protagonisten Gregor und Nott, die sich mit Masturbation und Beckett bei Laune halten.
Bonn, wenngleich im Zentrum eines zu erwartenden Atomkriegs, der die ganze Welt in Schutt und Asche legen würde, ist nicht gerade das Studio 54: »Das Leben, das ohnehin nicht gern in ihre kleine Stadt zu kommen schien, war an den Sonntagen ganz daraus verschwunden, und Nott und Gregor gestanden sich auf einem ihrer kleinen Gänge gegenseitig, dass sie den Montag und die Schule herbeisehnten.« Das Leben geht lieber woanders hin.
Aber selbst die Langeweile in Bonn kann noch zu viel der Unterhaltung sein: »In diesem ersten Schuljahr erfuhr Gregor, der zugezogene Junge, zum ersten Mal, was ein Fremder ist, und sehnte sich in sein Städtchen am Vorharz zurück.«
Die Schule will überlebt sein. Die wichtigen Dinge kommen. Das Studium. Das ganze Jahrzehnt ist politisch. Und das ist gut für Leute, die zwar dazugehören wollen, aber auch zu gern auf die Kultur als den ungefährlichen Ersatzschauplatz ausweichen: »Man winkte entfernt zu Joseph Beuys und Günter Netzer hinüber und wandte sich schließlich entschlossen nach Westen.«
Besser, man macht was Ordentliches. Dann fällt auch der Germanistik-Studiengang zugunsten der Politikwissenschaft weg. Schimmang zitiert die berühmte Kritik linker Studenten an Roland Barthes: »Die Strukturen gehen nicht demonstrieren.«
Besser, man versteht sich gut mit ihnen.
Gregor und Leo lernen sich in Berlin kennen. Alsbald wird ihnen klar: »Wenn du rundum eingesperrt bist und den Knast nur dann und wann in Richtung Griechenland, Italien oder ­Eltern verlässt, wirst du leicht irre.« Die Folgen tragen alle: »Selbst der Klempner, übrigens zu­gezogen aus Neuss und ein exzellenter Libero, war nicht normal.«
In diesem Fluidum kann ein lebenstauglicher Zynismus entstehen. Unsere Jungs zertrümmern sukzessive ihre Selbstbilder. Denn nun rückt das Berufsleben näher, da ist es gut, wenn man, bis es da ist, den letzten Irrtum aufgebraucht hat: »Plötzlich ging es nicht mehr um die Bauformen des Erzählens. Um das Signifikat und den Signifikanten. Es ging um kryptische Schriften aus dem Jahr 1905 oder 1949, um den his­torischen und dialektischen Materialismus. Da war Gregor plötzlich gelandet, beim Großen Vorsitzenden, beim Genossen Lenin und bei Väterchen Stalin.« Da sind alle mal gewesen. Die anderen kommen da nie hin.
Es gibt die neue schönste Studentin und das Notizbuch. Und es gibt das typische Zuspätkommen, weil man immer nur zweite Reihe ist: »Als Gregor im Innersten der Organisation ankam, die ihn adoptiert hatte, war Lea schon fast weg.«
Gregor und Leo, das ist so ein bisschen die Generation Grün. Man kennt alles, beteiligt sich aber nicht so sehr daran, dass man die weiteren Möglichkeiten nicht sähe. Die Zeit und die Wende werden ganz neue Möglichkeiten der Reichtumsakkumulation auftun. Diese neue Generation wird in Deutschland ankommen: »Ganz scheu begann Gregor, sein Land zu lieben.«
Soweit ist es geschafft. Jetzt kommt die Midlife-Crisis, dann der Alkoholismus und zum Schluss der Krebs. Gefühle der Echtheit, wenn man klinisch tot ist, weil man immer auf der sicheren Seite stand – das ist für Schimmangs Personal der Gang zum Bob-Dylan-Konzert: »Gregor spürte Wellen von Rührung neben sich und bei sich selber. Die meisten Tränen indes blieben versteckt hinter Sonnenbrillen.«
Nun sage noch einer, die vergangenen 40 Jahre wären nicht interessant gewesen. Durch Schimmangs Erzählkunst schimmert der ganz alte Kerngedanke der Literatur und eine ihrer Grundfunktionen: Wissen, gern auch überflüssiges – wer will das schon bewerten –, zu überliefern.
Das treibt wilde Blüten, und wer fände die nicht schön. Schön wie in »schöne Literatur«.

Jochen Schimmang: Das Beste, was wir hatten. Edition Nautilus, Hamburg 2009. 320 Seiten, 19,90 Euro