Eurozentrismus und Geschichtsschreibung

Was Zahlen nicht zählen

Haben die Italiener den Zweiten Weltkrieg angefangen? Erklärt der Kolonialismus, warum deutsche Panzer an der Wolga standen? Taugen 1 600 tote Dänen zum Sinnbild des Eurozentrismus? Und wie eurozentrisch ist eigentlich die Fixierung auf den Holocaust?

Ein bekannter Vertreter postkolonialen Gedan­ken­guts hat jüngst in mehreren Interviews seine Forderung erneuert, die westlichen Medien sollten ihren Fokus erweitern und den Opfern des Holocaust nicht mehr länger gesonderte Aufmerksamkeit beimessen. »Da gibt es so viele historische Ereignisse, sehr ähnliche historische Ereignisse. Warum soll gerade dieses eine so besonders wichtig sein? Im Zweiten Weltkrieg wurden 60 Millionen Menschen getötet, warum konzen­trieren wir uns auf diese eine spezielle Gruppe?«
Wenn er den Holocaust gerade einmal nicht gänzlich leugnet, dann stellt Mahmoud Ahmadinejad also die Frage nach der Relativität und Relevanz der Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg. Und nicht nur er: Als im November 2008 bei einem »Festival des Europäischen Kinos« in Tunis der französische Film »Ein Geheimnis« vorgeführt wurde – eine verschlungene Filmstory, basierend auf den Erlebnissen und Traumata einer jüdischen Familie im von den Deutschen besetzten Frankreich – protestierten Teile des Publikums wie der tunesischen Presse. Die Tageszeitung al-Sabah kommentierte: »Der Film versucht die Juden so darzustellen, als ob sie das einzige Volk in der Geschichte seien, das Ungerechtigkeit erleiden musste und gegen das Straftaten und Massaker verübt wurde. Deshalb beschlossen einige der Filmbesucher, den Kinosaal zu verlassen.«

Die Frage nach der Privilegierung wie dem entsprechenden Vergessen von Opfergruppen stellt auch die vom Rheinischen Journalistenbüro verfasste Dokumentation über die »Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg«. Hier sind es allerdings nicht wie in obigen Fällen »Juden« versus Palästinenser, deren vermeintlich ähnliches Schicksal nun gegeneinander aufgerechnet werden soll. Im Gegenteil, über Antisemitismus und Kollaboration auch im Nahen Osten schweigt das Projekt gerade nicht – was dann ja zu den bekannten Protesten gegen die Ausstellung in Berlin geführt hat. Es geht den Ausstellungsmachern dagegen um die vergessenen Opfer des Krieges, die Kolonialsoldaten, und die Hekatomben umgekommener chinesischer, philippinischer oder ozeanischer Zivilisten. Und es ist ein zentrales und wichtiges Verdienst der Ausstellung wie des vorangegangenen Buchs, diese Seite des Zweiten Weltkriegs für ein deutschsprachiges Publikum zum ersten Mal erschlossen zu haben.
Aber dann beginnt das Aufrechnen. 1 600 akribisch erfasste und in der Literatur angeführte dänische Kriegsopfer wurden so in Karl Rössels Rede zur Ausstellungseröffnung zum vermeintlichen Beweis eines »eurozentristischen und damit rassistischen Geschichtsdiskurses« angesichts der anderen »verschwiegenen« Opfer. Aber ist es wirklich Ausdruck von Rassismus, dass in Dänemark die Kriegsopfer aufgrund der vergleichsweise geringen Kriegsschäden und einer sehr ausgeprägten Zivilgesellschaft so genau erfasst worden sind? Und muss man damit beeindrucken wollen, dass mit den 100 000 Toten bei der Befreiung Manilas Dresden natürlich nicht mithalten kann? Wobei die ungeheure Masse der nie genau gezählten chinesischen Kriegstoten quantitativ sowieso jeden Vergleich gewinnt – nicht nur den mit Auschwitz.
Qualitativ sieht es dagegen anders aus: Wenn schon 1 600 tote Dänen so privilegiert erscheinen, weil sie zumindest in exakten Zahlen erfasst werden, wie steht es dann doch erst um die Toten der Shoah, denen so viel Gedenken, so viel Forschung, so viel Literatur gewidmet wird? Kein Wunder also, dass ein Hereroführer in Hinblick auf den Holocaust monierte, man selbst werde von Deutschland bloß nicht entschädigt, weil man schwarz sei? Von Auschwitz nicht schweigen zu wollen, ist das mittlerweile also eurozen­trisch – oder gar rassistisch?
Es ist daher so eine Sache mit dem »Eurozen­trismus«. Die Macher der Ausstellung tragen den Begriff wie ein mahnendes Banner vor sich her, als müsste seine bloße Erwähnung automatisch Scham auslösen. Eurozentrisch soll bereits die zeitliche Begrenzung des Weltkriegs auf die Jahre 1939 bis 1945 sein. In Afrika nämlich habe der Zweite Weltkrieg bereits 1935 mit dem Einmarsch der Italiener in Äthiopien begonnen, 1937 in Asien mit dem Vordringen der Japaner in China. Nun ist es eigentlich eine Banalität, darauf hinzuweisen, dass es kaum skandalös ist, wenn zentraleuropäische Geschichtsschreibung eher auf Ereignisse fokussiert, die auch auf eben diesem einen Hauptschauplatz des Weltkriegs geschehen sind. Genauso wie es naheliegt, dass für einen Chinesen der Zwischenfall an der Marco-Polo-Brücke 1937 – wer nun erst nachschlagen muss, ist vermutlich Eurozentrist – eher ein Begriff sein dürfte als der inszenierte Überfall auf den Sender Gleiwitz 1939. Das eine Ereignis kann man mit guten Gründen ebenso als Beginn des Zweiten Weltkriegs sehen wie das andere. Aber macht das aus der chinesischen Sicht der Dinge automatisch eine eingeengte »sinozentristische« Weltsicht? Wenn nein, wieso eigentlich nicht?

Es gibt übrigens auch ein paar gute Argumente für eine eurozentrische Blickrichtung auf den Zweiten Weltkrieg. Denn das imperiale Ausgreifen Japans nach China begann keineswegs erst 1937, sondern reicht über den russisch-japanischen Krieg von 1904/05 mit der japanischen Besetzung der Mandschurei bis zum japanisch-chinesischen Krieg von 1894/95 zurück. Auch die Besetzung des äthiopischen Kaiserreichs durch Mussolinis Italien hat eine entsprechend lange Vorgeschichte. Es sind beides also Konflikte, die sich aus der »imperialistischen« Dekade vor dem Ersten Weltkrieg und dem damals herrschenden kolonialen Denken herleiteten, wenn sie auch ihre Verschärfung in den dreißiger Jahren durch den Faschismus erfahren haben.
Kann man aber das Projekt des Nationalsozialismus, das eben noch etwas anderes war als bloß ein »deutscher Faschismus«, und seinen Vernichtungskrieg im Osten ebenso kontinuierlich aus dem Kolonialismus herleiten? Es gibt Historiker, die glauben, im deutschen Kolonialkrieg gegen die Hereros einen Vorläufer für den Krieg im Osten gefunden zu haben. Das ist aber zu Recht nicht unumstritten.
Und wäre es nicht die erste Konsequenz eines anti-eurozentrischen Blickes auf den Zweiten Weltkrieg zu konstatieren, dass ihn also die Italiener und Japaner angefangen haben? Womit die Deutschen, die dann ja erst Jahre später dazugekommen wären, seltsam in den Hintergrund rücken würden, zumal sie im Vergleich mit den anderen kriegführenden Hauptmächten relativ wenige Nichteuropäer in ihren Reihen hatten und ihre Kriegsführung sich (gezwungenermaßen) im wesentlichen auf Europa konzentrierte?
Und wenn es außerdem, so legt es »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg« nahe, ganz besonders eurozentrisch sein soll, den Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 als Beginn des weltumfassenden Krieges anzusehen, dann gibt es auch für diese »eurozentristische« Interpretation gute Gründe. Denn die USA verbanden gewissermaßen die beiden Kriegsschauplätze in Asien wie in Europa. Und auf beiden Seiten war es der Einsatz der USA, der kriegsentscheidend war. Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs wird man also nicht umschreiben müssen. Zu den Opfern wie den Akteuren muss man allerdings tatsächlich viele Vergessene hinzuaddieren.

Und wie war das nun mit dem Holocaust? In einem akademischen Sammelband über postkoloniale Perspektiven »Jenseits des Eurozentrismus« heißt es im Vorwort, »das zentrale Ereignis des Holocausts« habe »im Vergleich andere Fluchtlinien der deutschen Geschichte als marginal erscheinen lassen«. Aber welche, das bleibt offen. Und »erscheinen« diese »Fluchtlinien« nur marginal, oder sind sie nicht vielmehr tatsächlich marginal angesichts der Realität von Auschwitz?
Manchmal kann man schon auf den Gedanken kommen, für so manche Vertreter der diversen postcolonial studies wie etwa der »Kritischen Weißseinsforschung« wäre es einfacher und praktischer, wenn es keinen Holocaust gegeben hätte und Deutschlands Kolonialerfahrungen im internationalen Vergleich nicht eher bescheiden geblieben wären. Dann hätte die Welt antirassistisch gesehen auch in Deutschland so richtig in Ordnung sein können.
Wie man scheinbar sehr unterschiedliche Dinge zusammendenken kann, ohne einer unseligen Opferkonkurrenz zu huldigen und ohne sich in den Fallstricken fataler Revisionismen zu verfangen, dahin weist eine Bemerkung des irakischen Publizisten Basem Muhammad Habib aus dem Frühjahr. Er hat aus den Begriffen Geschichte, Juden, Araber, Opfer, Israel, Holocaust und Naher Osten einen positiven Absatz gebildet. Also etwas nahezu Unglaubliches geschafft. »Anstatt die Geschichtlichkeit des Holocausts anzuzweifeln, sollten wir die jüdischen politischen Führer für ihr Interesse an den jüdischen Holocaust-Opfern und an der fortwährenden Erinnerung an diese Schreckenstaten bewundern. Sie widmen der Erinnerung an die Opfer viel Zeit und Mühe, dokumentieren deren Strapazen und kämpfen für die Rechte der Überlebenden, wo immer sie sich auch aufhalten mögen. Das ist etwas, was wir äußerst selten in unserer Region beobachten, wo Menschen wegen den trivialsten Gründen getötet werden und ihr Leiden und ihr Schmerz dann schnell in Vergessenheit geraten. Im Irak, zum Beispiel, wurden Hunderttausende von Menschen unter Saddam Husseins Regime umgebracht. Dennoch haben wir noch nie von einem Vorhaben gehört, das anstrebt, dieser Opfer zu gedenken.«

Und so beantwortet sich die eingangs zitierte Frage eines von der Geschichte verfolgten nahöstlichen Staatsmanns nach dem Besonderen der Judenvernichtung. Es geht dabei weder um absolute Zahlen noch um abgelaufene Zeitspannen. Es geht vielleicht nicht einmal um die Frage, was die Täter eigentlich wollten. Es geht darum, dass der Umgang mit dem Holocaust auch und gerade jenseits von Europa den Rahmen bestimmt und bestimmen wird, wie man in Zukunft mit einem solchen Morden umgehen wird. Und der Umgang mit dem Holocaust steht exemplarisch dafür, wie sehr man sich auch noch um die Toten kümmern muss und zumindest hypothetisch um jeden einzelnen der Toten – gerade, wenn es unüberschaubar viele sind. Aber das ist vermutlich auch schon wieder eine sehr eurozentrische Idee.