Über den Ansbacher Amokläufer

Wenn die ganze Welt wie eine Schule erscheint

Schluss machen mit dem Konkurrenzkampf und trotzdem Sieger sein: Die Aufzeichnungen des Ansbacher Amokläufers plaudern die Wahrheit über den deutschen Schulalltag aus.

Jugendliche Amokläufer gelten dem von Film und Fernsehen geprägten Durchschnittsverstand als introvertierte Sonderlinge. Sie schließen sich bis tief in die Nacht in ihrem Zimmer ein, um sich dubiose »Gewaltvideos« anzuschauen, haben so gut wie keine Sozialkontakte, sind gegenüber ihren Eltern und Lehrern unzugänglich, pflegen absonderliche Hobbys und sind schlecht in der Schule, obwohl sie ihre Mitschüler an raffinierter Intelligenz überragen. Weil sie keine Freunde haben, fällt ihr krankhafter Geisteszustand niemandem auf, bis es irgendwann zu spät ist.
Mit solchen Szenarien werden regelmäßig die pädagogischen Disziplinierungsmaßnahmen begründet, nach denen immer dann gerufen wird, wenn wieder einmal ein Schüler ausgerastet ist und zu Vatis Flinte gegriffen hat. Die üblichen Forderungen nach sozialer und politischer Kon­trolle, etwa nach einem Verbot »jugendgefährdender« Computerspiele oder einer Verschärfung der Waffengesetzgebung, pflegen sich nahtlos anzuschließen.

Insofern kann der Amoklauf, der am 17. September am Carolinum-Gymnasium im bayerischen Ansbach stattgefunden hat, als durchaus untypisch gelten: Der 18jährige Täter Georg R. trug keine Feuerwaffen, sondern eine Axt, mehrere Messer sowie zwei Molotow-Cocktails bei sich, mit denen er die Schule in Brand setzen wollte, um anschließend möglichst viele der Flüchtenden zu töten. Er befand sich zwar, wie mittlerweile bekannt wurde, in psychotherapeutischer Behandlung, galt bei Lehrern und Mitschülern aber als »unauffällig«, seine Leistungen lagen über dem Durchschnitt. Auch die obligatorische Sammlung von Horrorvideos und Killerspielen scheint sich bei ihm bislang nicht gefunden zu haben.
Obwohl es ihm gelang, mehrere Brände zu entfachen und zwei Schüler der achten Klasse zu verletzen, bevor er von der Polizei angeschossen und schwer verwundet wurde, gab es in Ansbach keine Todesopfer. Mittlerweile vernehmungsfähig, ist er möglicherweise der erste Amokläufer, der nach der Tat über seine Motive sprechen kann.
Neue Informationen, die am vorvergangenen Wochenende das Nachrichtenmagazin Focus veröffentlicht hat, legen indessen nahe, dass Georg R. sich viel mehr vorgenommen hatte, als er erreichen konnte. In seinem Tagebuch, in dem sich Briefe an eine fiktive Freundin namens »Summer« finden, schwärmt er vom »Töten im dreistelligen Bereich« und träumt von einem »Sturm auf die Schule«, der ihn als »Massenmörder« berühmt machen werde. Das Tagebuch beginnt am 26. April 2009, dem siebten Jahrestag des Massakers am Erfurter Gutenberg-Gymnasium, das Georg R. sich zum Vorbild erkoren hatte.

Obwohl von den gut 80 Seiten umfassenden Aufzeichnungen, die der Gymnasiast hinterlassen hat, bislang nur Bruchstücke an die Öffentlichkeit gelangt sind, machen bereits diese deutlich, dass Georg R. weder ein Sonderling noch ein »Problemschüler« im üblichen Sinn gewesen ist, sondern weit besser als erfolgsorientierter Streber beschrieben werden kann, der sich seiner »sozialen Verantwortung« voll bewusst war: Als Ziel seiner Tat benennt er ausdrücklich, die Welt von »Unwürdigen säubern« zu wollen, zu denen er nicht nur seine Lehrer und Mitschüler, sondern alle »sozial Schwachen« rechnet. Sich nach seinem Gemetzel das Leben zu nehmen, lehnt er in vollem Einklang mit dem hierzulande üblichen Ehrenkodex als »Kapitulation« ab, stattdessen sei es seine Aufgabe als »überlegene Persönlichkeit«, möglichst viele der »Maden« auszutilgen, die sich heutzutage ohne jedes Recht an den Gymnasien tummelten. Obwohl er sich, im Gegensatz zu den Einschätzungen seines Umfelds, als »Außenseiter« fühlte, der bei »hübschen Mädchen« keine Chance habe, beschreibt er sich stolz als »klar denkenden Menschen«, der seiner Umgebung intellektuell überlegen sei.
Entsprechend monströs und minutiös scheint sein Planungseifer gewesen zu sein: Die Schule in Brand zu setzen, sollte nur der Anfang sein. Danach wollte er an strategisch günstigen Stellen auf Flüchtende warten, um sie mit den mitgebrachten Haushaltsutensilien der Reihe nach zu töten. Es wäre nicht übertrieben zu behaupten, er habe in seine Planungen ebenso viel Energie und Konzentration investiert wie ein konventioneller Streber in das exzellente Bestehen einer Klausur.
Die Tagebuchaufzeichnungen von Georg R., die das bislang ausführlichste Dokument der Planung und Selbstreflexion sein dürften, das ein Amokläufer bislang hinterlassen hat, legen einen bemerkenswerten Schluss nahe: Obschon er objektiv keineswegs zu dem Klischeebild passt, das die Öffentlichkeit vom typischen Amokläufer zeichnet, scheint er selbst sich in Übereinstimmung mit diesem Bild wahrgenommen zu haben – als ewiger Sonderling ohne gebührenden schulischen und erotischen Erfolg, dessen geistige Ausnahmefähigkeiten von niemandem erkannt, geschweige denn gewürdigt werden. Er hat sich selbst betrachtet, wie seine Umwelt einen potenziellen Amokläufer betrachten würde, obwohl er sich in seiner hybriden Mischung aus Durchschnittlichkeit und Auserwähltheitsgefühl von seinen Mitschülern nur graduell unterschieden haben dürfte.
Vom Leistungsdruck erstickt und ungerecht behandelt zu werden, sich ständig unter Wert verkaufen zu müssen und in den eigenen Qualitäten verkannt zu fühlen, ist nichts Besonderes, sondern Teil des Alltagsbewusstseins, wie zu allererst die Schule es täglich formt. Je offensichtlicher die Kluft zwischen der nun wieder ausgiebig beschworenen »Chancengleichheit« und der negativen Gleichheit wird, die in den Schulen dafür sorgt, dass kaum ein Jugendlicher je die Chance bekommt herauszufinden, wie er leben möchte, desto notwendiger nähert sich das bornierte Bewusstsein um die eigene Unvergleichlichkeit dem Größenwahn. Wer Tag für Tag zu hören bekommt, ein jeder werde gebraucht und dürfe seine besonderen Fähigkeiten entwickeln, um sogleich zu erleben, wie die schulische Wirklichkeit alles Besondere, ob es sich nun als Begabung oder Ausfallerscheinung äußert, erbarmungslos liquidiert, der verliert den Glauben daran, dass Leistung sich lohnt, gleichzeitig mit der Vernunft, die doch hätte helfen können, diesen Glauben zu korrigieren.

Gerade deshalb eignen sich Menschen wie Georg R. nicht als Beweis für die beliebte sozialpädagogische These vom Täter als eigentlichem »Opfer«, das mit seinem blutigen Rundumschlag nur gegen die Gesellschaft habe wüten wollen, unter der es gelitten habe. Vielmehr hat der Gymnasiast im Amok den besinnungslosen Glauben an die eigene Leistungsfähigkeit auf die Spitze getrieben: Nicht das Gefühl, nichts mehr zu verlieren zu haben, sondern die größenwahnsinnige Gewissheit, omnipotent und unersetzlich zu sein, durchzieht seine Aufzeichnungen.
Den schulischen Konkurrenzkampf, den er verabscheut hat, hat er wahnhaft geliebt. Weil er blind an ihn geglaubt hat und sich verpflichtet fühlte, sie alle, die ihm als Schmarotzer seiner eigenen Existenz galten, zu übertrumpfen, wollte er die Institution, die ihm diese Hoffnung eingeimpft und sie zugleich frustriert hat, niederbrennen. Zum Unhold der Schule konnte er werden, weil ihm die ganze Welt als Schule erschien.
Wer darauf angemessen reagieren will, sollte es nicht bei der Installation von schulischen »Amok-Notrufstellen« belassen, wie sie jetzt erwogen wird. Vielmehr wäre dafür zu sorgen, dass jeder Schüler irgendwann endlich wirklich sein darf, was im medialen Bild des Amokläufers zu Unrecht denunziert wird: ein Sonderling.