Zypern Beatet Bestes

Der verbotene Ohrwurm

ta kalytera tou berolinou: Marinella, Pou Pane Ekeina Ta Paidia (1973).

Natürlich wird auf den Redaktionsreisen der Jungle World auch immer viel gefeiert, getrunken und geraucht. Am Morgen nach einer dieser langen Nächte wachte ich spät auf, das Frühstück war schon abgeräumt, die meisten Redaktionsmitglieder waren ausgeschwärmt, um ihre Themen zu recherchieren, und ich ging erst einmal ins Büro. Da saßen nur zwei Kollegen vor den Computern, und die Zigaretten gingen auch langsam zur Neige.
Aus einem unerfindlichen Grund machte ich mich kurz entschlossen auf den Weg, um in der größten Mittagshitze Nachschub zu besorgen. Immer noch betrunken, ungewaschen und unbefrühstückt stapfte ich an der staubigen und menschenleereren Landstraße entlang. Fast alle Läden waren geschlossen. Nach einer einstün­digen Wanderung kam ich endlich an ein kleines Geschäft und kaufte die von den Kollegen verlangten Zigaretten. Auf dem Rückweg stieß ich auf einen kleinen Laden: »The Old Curiosity Shop«.
Vielleicht könnte ich hier griechische Singles finden. Alte Möbel und Dekorationsobjekte für die Besitzer der zahllosen Apartements und Bungalows, die sich in den Neubaugebieten an der Küste aneinanderreihen, füllten die Räume. Im hinteren Teil begrüßten mich eine Griechin und eine blonde Engländerin mittleren Alters. Auf meine Frage nach den Singles wurde ich in einen weiteren Raum geführt, das Licht wurde angeschaltet, und tatsächlich befanden sich in einem Schrank rund 50 LPs und 100 Singles, darunter auch einige griechische.
Der israelische Manager des Shops, ein kräftiger Mann Mitte 60, der wenig später eintraf, verlangte pro Platte drei bis fünf Euro. Außerhalb der Saison müssen offensichtlich die wenigen Kunden, die den Laden besuchen, den Verlust ausgleichen: Drei bis fünf Euro für alte Singles ohne Raritäten-Wert ist einfach etwas viel. Normalerweise wäre ich jetzt gegangen, aber ich war im Urlaub und hatte nichts zu tun.
Ohne Griechisch-Kenntnisse ist es schwer zu entscheiden, welche Platte gut ist und welche nicht. Ich kaufte also hebräischen Tango, eine Single mit einem Cover des französischen Comic-Zeichners Yves Chaland und israelische Pressungen amerikanischer Rock’n’Roll-Platten. Auf gut Glück nahm ich noch eine griechische Single mit, auf der zumindest die Jahreszahl 1973 und die übersetzten Titel zu entziffern waren.
Beim ersten Anhören der Platte war ich enttäuscht: Es war der befürchtete Bouzouki-Pop. »Pou Pane Ekeina Ta Paidia« ist zwar ein Ohrwurm, rockt aber überhaupt nicht. Die Interpretin der Nummer, Marinella, ist eine der bedeutendsten Sängerinnen Griechenlands. Sie veröffentlicht seit den fünfziger Jahren Schallplatten. Klingt erstmal langweilig. Dann fiel jedoch unserem mitgereisten griechischen Korrespondenten Harry Ladis die textliche Brisanz des Liedes auf. In einer Textzeile heißt es: »Wo sind jene Jungs geblieben, die Jungs des Sturms und des Nordwinds, die für die Freiheit gestorben sind? Wo sind sie denn?
Wo sind denn die Adler geblieben, die lächelnd Faschisten, Mörder und Räuber bekämpft haben? Wo sind sie denn?«
Ein patriotisches Lied? Ein Unabhängigkeitslied? Erstaunlicherweise ergab Harrys Recherche, dass der zitierte Song einer von zwei Marinella-Titeln ist, die von der griechischen Militärjunta 1973 verboten wurden. Der Verweis auf die Freiheit war offensichtlich gefährlich genug, um selbst eine so populäre Sängerin zu zensieren.