Polizeigewalt auf Zypern

Kanei pion! Es reicht!

In Nikosia läuft derzeit ein Verfahren gegen zehn Polizisten, denen vorgeworfen wird, zwei Jugendliche auf offener Straße misshandelt zu haben. Der Prozess hat in den Medien und in der Gesellschaft eine Diskussion über Polizeigewalt ausgelöst, die nicht ohne Folgen bleiben wird.

Nicht selten dient ein traumatisches Erlebnis als Auslöser für eine Bewegung. Vor allem, wenn sich angesichts von Gewalt, Willkür oder Ungerechtigkeit des Staates über Jahre Unmut in der Gesellschaft aufgestaut hat. Dann reagiert die Bevölkerung in den meisten Fällen mit einer Parole: »Es reicht!«
Der Anlass für die Unruhen in Los Angeles im Jahr 1992 war die dokumentierte Misshandlung eines afroamerikanischen US-Bürgers durch die Polizei. Auf ähnliche Weise löste im Herbst 2005 der Unfalltod zweier Jugendlicher, die auf der Flucht vor der Polizei waren, Ausschreitungen in den Banlieues von Paris aus. Ein weiterer Fall ereignete sich im vergangenen Jahr in Athen, als die Erschießung des 16jährigen Schülers Alexis Grigoropoulos durch einen Polizisten die »Dezember-Unruhen« in ganz Griechenland provozierte.

»Kanei pion!«, »Es reicht!«, fand auch die griechisch-zyprische Öffentlichkeit im März dieses Jahres nach dem Freispruch von zehn Polizisten, die vor vier Jahren in Nikosia zwei Jugendliche auf offener Straße misshandelt hatten. Nach dem Freispruch formierte sich eine Protestbewegung gegen die Polizeigewalt auf Zypern.
Begonnen hatte alles im Dezember 2005. Die Jugendlichen Markos Papageorgiou und Giannos Nikolaou fuhren nach einem Kneipenbesuch nach Hause, jeder in seinem Auto. Die beiden berichteten, in einer Gasse kurz angehalten zu haben, um sich voneinander zu verabschieden, was einem Streifenwagen der Zivilpolizei offenbar verdächtig vorkam. Die Beamten stoppten ebenso, um die zwei Freunde zu kontrollieren. Auf die Forderung der jungen Männer, sich als Polizisten auszuweisen, hätten diese mit Gewalt geantwortet. Die beiden Freunde seien aus ihren Autos herausgezerrt worden, und nachdem ihnen Handschellen angelegt worden waren, seien sie anschließend eine Stunde lang auf offener Straße misshandelt worden. Fünf Polizisten hätten zugeschlagen, fünf weitere hätten dabei zugesehen, ohne einzugreifen. Was den Fall besonders brisant macht, ist die Tatsache, dass nach griechisch-zyprischem Recht Misshandlungen durch die Polizei, sobald Handschellen angelegt sind, grundsätzlich als Folter gelten.
Die Betroffenen berichteten außerdem, auf dem Polizeirevier weiter geschlagen worden zu sein. Erst zwölf Stunden später wurden sie wieder auf freien Fuß gesetzt. Sie waren so schwer verletzt, dass sie stationär behandelt werden mussten.

Ein Vorfall von vielen, könnte man denken, Anzeige bei der Polizei erstatten hätte wenig Sinn gehabt, denn das Verfahren wäre schnell eingestellt worden. Aber die zwei Jugendlichen wollten sich das nicht gefallen lassen. Sie wandten sich an den Ombudsmann und machten die Geschichte publik. Zwei Wochen später wurde ihnen ein Amateurvideo zugeschickt, das den Vorfall dokumentierte und ihre Version bestätigte. Kopien dieses Videos wurde daraufhin von der linksliberalen griechisch-zyprischen Tageszeitung O Politis verbreitet, da­rauf begann eine öffentliche Debatte über die Gewaltbereitsschaft der Polizei. Gegen die zehn Polizisten erhob die Staatsanwaltschaft Anklage, doch im Frühjahr wurden sie von einem Geschworenengericht in Nikosia wider Erwarten freigesprochen. Das Gericht begründete dies damit, dass die Urheber des Videos sich nicht dazu bereit erklärt hatten, vor Gericht auszusagen. Die Authentizität der aufgenommenen Bilder wurde daher in Frage gestellt, obwohl zwei Gutachter die Echtheit des Videos bestätigten. Doch das reichte dem Gericht für eine Verurteilung der Polizisten nicht aus.
Der Freispruch war für die zyprisch-griechische Gesellschaft ein Schock. Ein Großteil der Presse skandalisierte das Urteil, und am Tag der Urteilsverkündung versammelten sich 200 Leute, die sich zum Bündnis Alert zusammenschlossen. Alert schaffte es in den folgenden Wochen, viele Demonstrationen, teilweise mit über 1 000 Beteiligten, gegen Polizeigewalt auf Zypern zu organisieren, was für zyprische Verhältnisse einmalig war. Wegen des starken gesellschaftlichen Drucks legte der Bundesstaatsanwalt Petros Kleridis vor dem Obersten Gerichtshof Rechtsmittel gegen den Freispruch ein und beantragte eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Eine Entscheidung wurde für Mitte September angekündigt, dann aber verschoben.
Am Donnerstag vergangener Woche kam dann der positive Bescheid des Obersten Gerichts: Der Prozess kann jetzt neu aufgerollt werden. Sie hätten befürchtet, dass es den Anwälten der Polizisten gelingen könnte, ein Urteil verzögern, erklärte Eugenia von der Gegeninformationsgruppe »Falies« im Gespräch mit der Jungle World, das sei ihnen jedoch nicht gelungen. »Falies« sind im zy­prischen Dialekt die Sprenglöcher, in die man früher im Bergwerk das Dynamit steckte. »Falies öffnen« heißt in der Umgangsssprache, das festgefügte Denken aufzusprengen, und genau das will die Gruppe auch. Sie hat sich dem Bündnis Alert angeschlossen und erhofft sich jetzt am Ende des Prozesses ein faires oder zumindest akzeptables Urteil. Am 14. November soll der nächste Prozesstermin stattfinden.

»Die Polizei auf Zypern genießt eine unausgesprochene Immunität«, erzählt Marios von Falies. Der Polizeiapparat untersteht nicht dem Innenministerium, sondern dem Ministerium für Justiz und öffentliche Ordnung. Dieser scheinbar ziemlich freie Umgang mit der Gewaltenteilung hat seinen Ursprung in den Erfahrungen der sechziger und siebziger Jahre, als die griechisch-zyprische Polizei unter dem damaligen Innenminister Polikarpos Yorgacis zu einem mörderischen System mutierte. Yorgacis hatte damals eine grundlegende Umstrukturierung der Polizeibehörden durchgesetzt, den Geheimdienst KYP gegründet und mit der Ausspionierung der kommunistischen Partei Akel begonnen, die heute die Regierung führt. Nach Yorgacis Abgang war die Polizei aus dem Innenministrium ausgegliedert und dem Justizminister unterstellt worden. Die Kontinuität von nationalistischem und gewalttätigem Gedankengut in polizeilichen Kreisen ist jedoch auf die bereits seit den fünfziger Jahren bestehende enge Zusammenarbeit der Polizei mit der Organisation Eoka und der Kirche zurückzuführen. Die Eoka war eine ultranationalistische Organisation, die von dem griechischen General Georgios Grivas, anfangs mit Unterstützung des Erzbischofs und späteren zy­prischen Präsidenten Makarios, gegründet worden war. Die Gruppe verübte Anschläge gegen die britische Kolonialmacht, vor allem jedoch gegen türkische Zyprer und griechisch-zyprische Linke.
Nach 1974 wurde die Polizei zwar teilweise entpolitisiert, bestimmte Machtstrukturen blieben jedoch unangetastet, wie der kritische Journalist und Autor Makarios Drousiotis Ende August in O Politis berichtete. Mittlerweile, so Drousiotis weiter, könne man davon ausgehen, dass die griechisch-zyprische Polizei weniger in der Politik, dafür eher in Mafia-Angelegenheiten mitmische.
Die Verteidigung der zehn angeklagten Polizisten plädiert auf unschuldig. Das gesamte Video sei manipuliert und zusammengeschnitten worden. Die Beamten hätten nach einem Vergewaltiger gesucht, die zwei Jugendlichen hätten heftigen Widerstand geleistet und somit das Leben der Beamten einer akuten Gefahr ausgesetzt, lautet ihre Version. Der Verteidiger der beiden Hauptangeklagten, Georgios Georgiou, ein prominenter zyprischer Anwalt und ehemaliger Trotzkist, hat im Juni den Antrag gestellt, das Verfahren vorläufig auszusetzen. Er forderte, dass der Bundesstaatsanwalt Petros Kleridis zunächst seinen Kommentar zurücknehmen müsse, wonach der Freispruch der Polizisten »eine Ermutigung zum Staatsterrorismus« sei, und die Presse dürfe dieses Urteil nicht mehr als »inakzeptabel« bezeichnen, weil sie damit die Öffentlichkeit gegen die Polizei aufhetze und somit einen fairen Prozess verhindere.
Offenbar ist sein Antrag an der lautstarken Forderung der zyprisch-griechischen Gesellschaft nach Gerechtigkeit gescheitert. Dass Polizisten wegen Folter verurteilt werden könnten, war hier bis vor kurzer Zeit undenkbar. Nun ist das zumindest im Bereich des Möglichen angekommen.

Das Video ist hier zu sehen: