Über die Bürgerlichkeit der Grünen

Nicht links, nicht rechts – koalitionsfähig!

Für Liebhaber pathetischer Geschichtsschreibung könnte der 11. Oktober 2009 das historische Datum einer spezifisch bundesrepublikanischen Wiedervereinigung markieren. Denn nach dem Urteil führender Leitartikler findet seit der Ankündigung schwarz-gelb-grüner Koalitionsgespräche im Saarland das politisch getrennte »bürgerliche« Lager wieder ­zusammen. Aber was heißt da eigentlich bürgerlich?

Die Grünen sind dabei, zum Prototypen des künftigen Polit-Patchworks der deutschen Parteien zu werden. Zum einen erweitern sich ihre Koalitionsoptionen durch die bundesweite Ausdehnung der Partei »Die Linke« und den historischen Absturz der SPD. Zum anderen können sich die grünen Funktionäre doch wahlweise als »moderne Linke«, Wertekonservative oder Repräsentanten eines alternativen Bürgertums apostrophieren – so bieten die Grünen Anschlussmöglichkeiten nach allen Seiten. Dass die saarländischen Grünen nun tatsächlich mit CDU und FDP koalieren, bezeugt den endgültigen Wandel der Grünen von einer Projekt- zu einer Optionspartei. Die Koalition aus Christdemokraten, Liberalen und Grünen besiegelt die reale Abkehr vom gesellschaftspolitischen Entwurf des »rot-grünen Projekts«, das 2009 ja nur gemeinsam mit beiden sozialdemokratischen Parteien zu verwirklichen wäre.
Der Jamaika-Albtraum, der eine sich als »links« verstehende Minderheit an der sagenumwobenen grünen Basis noch plagt, ist bei der Mehrheit der Mitglieder bereits ausgestanden. Auch ist »Jamaika« kein bloßer landesspezifischer Sonderfall mit Experimentalcharakter, wie die Parteispitze immer wieder behauptet, sondern die Zuspitzung einer langjährigen Entwicklung: Bündnis 90/Die Grünen sind kein Fundament einer »strukturellen linken Mehrheit«. Die Grünen sind eine Funktionspartei für divergierende Lager.
Im Bund steht die Partei nach den Worten ihrer Vorsitzenden Claudia Roth für »knallgrüne« Opposition, in Hamburg dürfen die einstigen Schmuddelkinder unter der Ägide von Ole von Beust längst schon wieder in die Oberstadt. Die einstige »Anti-Parteien-Partei« ist oder wird Koalitionspartner wahlweise von SPD, FDP oder Union wie keine andere Partei nehmen die »Alternativen« eine Scharnierfunktion zwischen Konservativen, Liberalen und Sozialdemokraten ein. Vor dem Rostocker Parteitag ähneln die noch widerstreitenden Verlautbarungen grüner Vordenker und Politiker ein wenig dem Selbstverständnis der Horst-Schlämmer-Partei (HSP): »Wir sind konservativ, wir sind liberal, wir sind links.« Prädikat: besonders koalitionsfähig.

Die Einordnung der Grünen als genuin linke Kraft beruht traditionell auf einem interessierten Missverständnis. Schon als die Öko-Partei noch der »parlamentarische Arm der Bewegung« sein wollte, war sie nicht nur von progressiven Idealen geprägt. Für die Inszenierung jenseits der etablierten Lager wählten die Alternativen die Losung, sie seien »nicht rechts, nicht links, sondern vorne«. Ein Slogan, der heute wieder in der Piratenpartei beliebt ist, die bei den Bundestagswahlen jüngst mit zwei Prozent Wählerstimmen an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte, aber bereits in mehrere Kommunalparlamente einzog. Und dieser Achtungserfolg ist durchaus mit dem Start der Grünen Anfang der Achtziger Jahre vergleichbar. Die Piraten zeigen, dass zahlreiche Blogger und Internet-Aktivisten von einer eigenen Partei der Netz-Bewegten repräsentiert werden wollen – und von den etablierten Grünen nicht viel erwarten. Und sei es nur, weil sich die Grünen als Anti-Partei seit Jahren überlebt haben.
Auch wenn bei der grünen Partei Linke zeitweilig führende Positionen einnehmen konnten, war sie wie heute die Piratenpartei stets ein Patchwork-Projekt. In ihrer Gründungsphase gingen in den Reihen der Bunten und Grün-Alternativen Listen Linksradikale mit rechtskonservativen Ökobauern, nationalrevolutionären Antiamerikanern oder libertär gewendeten Ex-Maoisten scheinbar antagonistische Allianzen ein. Für die Anhänger des reaktionären »Weltbundes zum Schutz des Lebens« oder militante Strommastensäger waren die Grünen eine beliebte Projektionsfläche und bevorzugtes politisches Projekt, das sich erbittert stritt, spaltete und neu formierte. Aufgefangen wurden die breiten programmatischen und personellen Differenzen durch das Leitthema »Ökologie«, das unterschiedlichste Anschlussmöglichkeiten bot, auch für postmaterialistische Citoyens und gewerkschaftlich orientierte Reformer.

Als das »rot-grüne Projekt« dann 1998 bundespolitisch mit Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine und Joschka Fischer an die Regierung gelangte, war das Bündnis zwischen gewerkschaftlich orientierten Linken und den bürgerlichen Postma­terialisten bereits obsolet. Emphatisch wurde die »Neue Mitte« beschworen. Was die Parteienforschung schon seit Jahren sagt: Sozialstrukturell sind die Grünen die Partei der Besserverdienenden, deren Status der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter bereits nach der Bundestagswahl 2005 in »Träume von Jamaika« griffig beschrieben hat: »Die Grünen bilden mittlerweile die bürgerliche Partei schlechthin.« Dem Chronisten der jüngsten deutschen Parteingeschichte zufolge sind die Grünen schlicht »die Partei der Beamten und Angestellten im höheren öffentlichen Dienst«. Nicht Hartz IV, sondern BAT IIa prägt die grün-alternative Lebensrealität.
Pointiert formuliert sind die Grünen eine Partei der Transferleistungsempfänger, die Interessenvertretung einer durch Beamtenbezüge oder Pensionen versorgten Staatsklasse. Doch nicht minder wichtig ist die ökologisch orientierte Mittelschicht, der grüne Sektor der Selbständigen. Das Prekariat dagegen ist in der Partei kaum vertreten. Sozialen Bewegungen wie den Montagsdemons­trationen begegneten die Grünen mit Ignoranz. Auch dass Hartz IV nicht nur der Logik einer Politik der materiellen Zumutungen folgt, sondern durch die soziale Kontrolle qua Residenzpflicht für Arbeitslose auch ein Bürgerrechtsthema ist, findet nur bei einer Minderheit in der Partei Gehör. Kein Wunder, dass die zwischen Neuen Sozialen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen (NGO) changierenden Globalisierungskritiker von Attac sich parteipolitisch eher an Lafontaines »Linker« orientieren.

Der von den Grünen nostalgisch gepflegte Mythos der eigenen Bewegungsgeschichte dient vor allem dazu, die affirmativen Aspekte »alternativer« Visionen vom Bürgergeld bis hin zur Forderung nach einem nachhaltigen Konsumstil zu verdecken. Gerade die Proteste gegen das fordistische Arbeitsregime ließen sich in einer passiven Revolution für die neoliberale Wende nutzbar machen: »Kreative« und freie Existenzen jenseits der Diktatur der Stechuhr waren das Credo der Neuen Mitte. Die von Alternativmilieus postulierte Forderung nach Freiheit vom sozialstaatlichen Paternalismus verkehrte sich als rot-grüne Agenda 2010 in die Akklamation der Deregulierung. Wie nahe sich hier Bürgerlich-Liberale und Grüne sind, zeigt auch das Konzept des »Bürgergelds«, das nun unter der schwarz-gelben Regierung tatsächlich eingeführt werden könnte: Hermann Otto Solms propagiert die freiheitlich-liberale Variante des grünen Vorschlags in Form einer rabiaten Kürzung der Bezüge.
Affirmativ an der Programmatik der Grünen sind vor allem aber die scheinkritischen Forderungen nach nachhaltigem Konsumstil und der Stärkung der Rechte der Konsumenten: Die realen Produzenten der Güter und Dienstleistungen – die Lohnabhängigen – erscheinen am Ende der Herstellungskette als deren bloß konsumierende Nutznießer; die realen Konsumenten der Ware Arbeitskraft erscheinen in der kapitalistischen Arbeitsteilung in der Rolle des Produzenten. Verkehrte Konsumwelt. Bereits Friedrich Engels spottete, dass die Arbeitnehmer die eigentlichen Arbeitgeber seien.

Damit wäre zur Bürgerlichkeit der Grünen, die derzeit allerorten diskutiert wird, eigentlich schon alles gesagt. Aber aus dieser Perspektive gibt es außerhalb der Welt der politischen Winzlinge keine anti-bürgerliche Partei. Um also noch über die Bürgerlichkeit der Grünen diskutieren zu können, wird vorzugsweise auf die Liberalisierung der Lebensstile und die berufliche Arriviertheit der Parteimitglieder hingewiesen. Mit dem Etikett »bürgerlich« konfrontiert, entgegnete dann Jürgen Trittin trocken, dass auch Oskar Lafontaine nicht im sozialen Wohnungsbau lebe. Was überhaupt bürgerlich heißen soll, fragt sich aber auch, wenn man sich etwa in Erinnerung ruft, dass 1968 linksbürgerliche Intellektuelle die Alliierten der aufbegehrenden Studenten waren, während der DGB seine lohnabhängigen Mitglieder gegen die Revolte auf der Straße mobilisierte. Und wenn man bedenkt, dass die Union als Volkspartei zahllose Lohnabhängige und Transferleistungsempfänger vertritt. Was heißt da bürgerlich? In der Tagespolitik klärt der Begriff jedenfalls weder einen spezifischen Wertekanon noch gar eine klassenpolitische Verortung.
Was bürgerlich allenfalls noch bedeuten könnte, zeigte jüngst übrigens nicht etwa ein Christdemokrat oder ein Grüner. Es war der Sozialdemokrat Thilo Sarrazin, der in Lettre International die Ideologie des survival of the fittest gegen die unproduktiven Kostgänger und Kassenpatienten Berlins in Stellung brachte. »Bürgerlich«, das war einst liberaler Selbstadel durch Leistungsbereitschaft und Abwehr der aufbegehrenden Massen.
Für die Grünen ist die positive Rekurs auf den Begriff »bürgerlich« aber schlicht das Signalwort für Koalitionsfähigkeit. Nicht die Herkunft der Protagonisten, sondern allein die politischen Wahlverwandtschaften während vergangener Jahrzehnte trennten die schwarz-gelb-grünen Partner. Dass sie heute diese Trennung überwinden, liegt nicht zuletzt daran, das ihr früheres Alleinstellungsmerkmal – die Ökologie – längst Allgemeingut in der Programmatik aller Parteien geworden ist. Mit Jamaika sind die Grünen während ihres langen Lauf zu sich selbst dort angelangt, wo sie hingehören: im bürgerlichen Lager. Dort, wo (fast) alle anderen auch sind.