Die DDR-Opposition wollte die Wiedervereinigung nicht

Wie die Lok der Geschichte entgleiste

Im Gedenkjahr zum »Mauerfall« wird die Geschichte so umgeschrieben, als wäre das Ziel der DDR-Opposition von Anfang an die Wiedervereinigung gewesen.

»Friedliche Revolution«, »friedliche Revolution und Mauerfall«, »ein glücklicher Ausgang eines schrecklichen Jahrhunderts der Diktaturen«. In solchen Worten wird Jahr für Jahr der revolutionären Ereignisse von 1989/90 in der DDR gedacht, und Jahr um Jahr fällt es schwerer, dies zu ertragen. Vor gut 20 Jahren waren in der DDR die Begriffe »Wende«, »Oktoberrevolution« oder einfach »Revolution« für das gebräuchlich, was Ende der achtziger Jahre geschehen war. Jetzt tendiert die offizielle Sprachregelung, wie etwa die der Bundes­stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, zum Begriff der »friedlichen Revolution«, der dabei mit deutsch-deutscher Symbolik wie dem »Mauerfall«, der »Deutschen Einheit«, dem Brandenburger Tor oder der Deutschland-Karte in Schwarz-Rot-Gold verknüpft wird. Die Revolution in der DDR als ein rein ostdeutsches Ereignis tritt ab. An ihre Stelle rückt der Mythos von der nationalen Revolution.
20 Jahre nach den Ereignissen von 1989 wird heute vielerorts der Eindruck vermittelt, der zweite Aufstand gegen die SED in der Geschichte der DDR sei eine Revolution gegen die »kommunistische Diktatur« mit dem ausschließlichen Ziel gewesen, die deutsche Wiedervereinigung herbeizudemonstrieren. Wem die Stasi nicht das Gehirn geklaut hat, weiß, dass die Gesellschaft, in der man Ende der achtziger Jahre in der DDR lebte, kein Kommunismus, nicht einmal Sozialismus gewesen sein kann. Kommunisten oder Sozialisten musste man in der DDR immer mit der Lupe suchen. Die meisten Parteibonzen, denen man begegnete, waren Karrieristen. Der Dramatiker Heiner Müller sagte damals: »Es ist unsinnig, von einem Scheitern des Sozialismus zu reden, denn den Sozialismus hat es bisher nur in den Köpfen von Intellektuellen gegeben. Und vielleicht als Traum von ein paar Millionen Leuten. Aber die Realität des Sozialismus war der Stalinismus, und das heißt: die Kolonisierung der eigenen Bevölkerung.«

Eine der wirksamsten Strategien, die SED zu kritisieren, war es, von links her zu argumentieren. So ordneten sich denn auch die meisten Gruppen und Aktivisten der DDR-Opposition politisch irgendwo in das eher alternative, sozialistische oder anarchistische Spektrum ein. Man argumentierte mit Luxemburg und Marx gegen die SED, sprach von gesellschaftlicher Verantwortung und wollte keine kapitalistischen Verhältnisse in der DDR, sondern einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«. Im Herbst 1989 war es dann so weit: Die oben konnten nicht mehr und die unten wollten nicht mehr. Die »Revolution als Lokomotive der Geschichte« nahm Fahrt auf. Die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt schrieb damals in einem Aufruf für einen Volksentscheid: »Wir meinen: Sozialismus sollte auf dem Mehrheitswillen der Bürgerinnen und Bürger und nicht auf der festgeschriebenen Führungsrolle der SED beruhen. Sozialismus hört mit dem Ende solcher Vorherrschaft nicht auf. Er fängt mit lebendiger Demokratie erst richtig an.«

Die Menschen organisierten sich selbst in Bürgerkomitees, Betriebs- und Soldatenräten, unabhängigen Gewerkschaften. Sie besetzten Häuser und gründeten Zeitungen. Diese Ereignisse trugen alle klar die Merkmale einer echten Revolution – leider nur gerade so lange, wie sie nicht von Forderungen nach der deutschen Einheit dominiert wurden. In den ersten Monaten dieser Revolution sah man auf den zahlreichen Demons­trationen in Berlin so gut wie keine Deutschland-Flaggen, das Brandenburger Tor oder die Mauer waren nie das Ziel, obwohl es für die Tausende Teilnehmer kein Problem gewesen wäre, dorthin zu gelangen. So traf die Maueröffnung im November alle Protagonisten völlig unvorbereitet. Der damalige Aktivist Bernd Gehrke bemerkte treffend: »Für die Machtclique um Krenz war die Maueröffnung kein Akt der Befreiung der Bevölkerung, sondern ein Akt der Gegenrevolution, der ihre Macht durch Dampfablassen aus dem revolutionären Druckkessel verlängern sollte. (…) So wurde die Maueröffnung nicht der krönende Akt einer revolutionären Demokratie, sondern der Reaktion, der die stalinistischen Herrscher im Osten vor der Volkswut rettete und den Konservativen im Westen die Mittel in die Hand gab, die Wiedervereinigung zu ihren Bedingungen zu diktieren und die Ausbreitung der Demokratiebewegung in den Westen zu verhindern.«

Als die Forderungen spätestens ab Dezember 1989 immer deutschnationaler wurden, war auch die Bewegung nicht mehr revolutionär, sondern fremdbestimmt. Im Dezember 1989 ist während des Kohl-Besuchs in Dresden das entscheidende Signal für einen radikalen Wechsel der politischen Ziele gegeben worden. Aus dem Ruf »Wir sind das Volk« wurde der Ruf »Wir sind ein Volk«. Kein anderes Ereignis symbolisiert so treffend die Wende in der Wende wie die Modifika­tion dieser simplen Parole. Der Westen hatte sich erfolgreich der Bewegung bemächtigt, der Schritt von der Revolution zur Gegenrevolution war vollbracht.

Wie dieser Massenspruch in der DDR gedreht wurde, erzählte der Spin-Doctor Peter Radunski, damals Chef der Öffentlichkeitsarbeit der West-CDU, vor einigen Jahren im Deutschlandradio Berlin: »Wir haben festgestellt, das war auch stark diskutiert worden im Bundesvorstand und Präsidium, dass eigentlich die Selbstbestimmung nicht das sein kann, womit das Volk zufrieden gestellt werden kann.« In der Woche vom 11. bis 17. November schmiedete die Bundes-CDU einen Aktionsplan, Ziel war offenbar, die Meinungsführerschaft im Osten zu übernehmen. Radunski berichtet: »Eine Sitzung war am 16. November abends im Adenauerhaus, eine so genannte Kommunikationsrunde. Und bei dieser Kommunikationsrunde (…) ist gesagt worden: Kinder, wir machen ein Plakat ›Wir sind ein Volk‹. Das heißt, in Weiterentwicklung des Slogans, der in der damaligen DDR skandiert wurde: ›Wir sind das Volk‹. (…) Wir haben das nicht zentral gemacht, aber wir haben sehr frühzeitig gewissermaßen die Aufgaben aufgeteilt: Ihr Hessen, ihr kümmert euch um Thüringen beispielsweise, ihr Württemberger um Sachsen. Wir haben sie alle gebeten, helft. Und dabei sind sicher auch Leute der Jungen Union in die einzelnen Teile der DDR gekommen und haben sicher da auch die Wandzeitung oder das Plakat ›Wir sind ein Volk‹ hochgehalten.« Aus einem schriftlichen Vermerk der CDU-Bundesgeschäftsstelle geht nach Informationen des Deutschlandradios hervor: »Versand an die Kreisverbände/Plakate ›Wir sind ein Volk‹ – Erste Auflage 12 800 Stück. Aufkleber ›Wir sind ein Volk‹ – Erste Auflage: 100 000 Exemplare. Zweite Auflage: 300 000 Exemplare.«

Aber nicht nur der Westen und seine gegenrevolutionären Anhänger in der DDR haben die Revolution von 1989 letztlich zum Scheitern gebracht, sondern auch die SED-Führung, die den Traum der Arbeiterbewegung hoffnungslos diskreditiert hatte. Dazu kam wohl auch die Unentschlossenheit und Unfähigkeit der DDR-Opposition, breite Bündnisse zu schmieden und zur richtigen Zeit die Machtfrage zu stellen. Die Bevölkerung sagte irgendwann basta, keine sozialistischen Experimente. Die DDR hätte aber, wenn überhaupt, nur als demokratisch-sozialistische Alternative zum Westen eine Daseinsberechtigung gehabt. Mit der Abwesenheit von Privateigentum an Banken und den wichtigsten Produktionsmitteln waren die Voraussetzungen dafür gegeben.
Aber ein wichtiges Merkmal jeder vollendeten Revolution fehlte fast vollständig. In einer Revolution wird normalerweise die Macht der überkommenen Herrschaft gestürzt und durch die der Revolutionäre ersetzt. Der Osten aber bekam Kohl. Der emanzipatorische Charakter, den eine vollendete Revolution gehabt haben müsste, wurde 1990 durch westdeutsches Recht und, wie im Falle der Räumung der besetzten Häuser in der Mainzer Straße in Ostberlin, auch durch massive westdeutsche Polizeigewalt eingedämmt. Ein wirklich revolutionärer, qualitativer gesellschaftlicher Sprung wurde erfolgreich verhindert.
Nicht nur gemessen an den erreichten Zielen der DDR-Opposition muss die Revolution von 1989 als gescheitert gelten. Damit bewegt sich unsere Revolution in der Tradition aller deutschen, bekanntlich allesamt gescheiterten Revolutionen. Dass aber das Ende der Geschichte, wie nach dem Zusammenbruch des Ostblocks oft prophezeit, keineswegs in Sicht ist, zeigt uns die aktuelle schwere Krise des Kapitalismus. Vielleicht gibt es, sagen wir einmal, in fünf Jahren, bei der nächsten großen Systemkrise erneut die Gelegenheit, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Und der Zusammenbruch des Ostens wäre am Ende nur der Prolog für den Zusammenbruch des Westens. Zeit wär’s.

Andreas Schreier engagierte sich in der DDR in der Friedens-, Umwelt- und Antifabewegung. Er war Mitarbeiter am Zentralen Runden Tisch und in dessen Arbeitsgruppe Sicherheit zur Auflösung des MfS. Der Text ist die gekürzte Version eines längeren Artikels aus der Zeitschtift »Telegraph« ().