Die Linke und der Mauerfall – über Freiheit und Individualismus

Aufstand fürs Kollektiv

Was 1989 in der DDR mit Demonstrationen für Freiheit und Luxus begann, endete im kollektiven Wahn. Anstatt das sich damals auch artikulierende freiheitliche Anliegen zu würdigen, posaunen Linke heute mit antikapitalistischem Getöse ihre Feindschaft gegen das individuelle Glück aus.

Seit »dem Wahlsieg der NSDAP im Januar 1933 sind demokratische Aufbrüche deutscher Bürger mehr zu fürchten als ihre Entpolitisierung oder Entmündigung durch den Apparat«. Diese Diagnose Wolfgang Pohrts gilt allemal für den demokratischen Aufbruch – so auch der Name einer DDR-Oppositionsgruppe – der Ostdeutschen, der mit der Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts aller Deutschen seinen Endpunkt fand.
Andreas Schreier (Jungle World 43/09) will jenen Volksaufstand für das Recht auf nationale Selbstbestimmung als »rein ostdeutsches Ereignis« behandelt wissen. Kapitalistische Verhältnisse oder die Wiedervereinigung, was keineswegs das Gleiche ist, standen seiner Ansicht nach zunächst nicht auf der Agenda. Dass die Demons­trationen, die mit durchaus sympathischen Forderungen nach Reisefreiheit und Konsum – für ein besseres Leben also – begannen, letztlich im Einheitstaumel endeten, kann Schreier zufolge keineswegs das Resultat des freien Willens der Ostdeutschen sein. Schuld sind die anderen – und hier erweist er sich als echter Zoni, der sich beständig um die Früchte seiner Anstrengungen betrogen wähnt. In dem Fall sind es die Westdeutschen, die bereits kurz nach Ausbruch der Revolte Morgenluft witterten, um den Raubzug gegen die Brüder und Schwestern im Osten zu beginnen.
»Die Bewegung war nicht mehr revolutionär, sondern fremdbestimmt«, denn der Westen habe sich ihrer bemächtigt, so Schreiers Diagnose. Dies entspricht der Argumentation, nach der die nationalen Sozialisten im Osten, die ihre Scholle bis heute erfolgreich gegenüber Fremden abschotten, keineswegs aus einer bewussten Entscheidung handelten und handeln, sondern mindestens von westdeutschen Nazikadern verleitet werden. Oder aber das viel beschworene System lasse ihnen keine andere Wahl, als jenen nach dem Leben zu trachten, die nicht zum Kollektiv der bekennenden Ossis gehören.

Schreier beendet seinen Beitrag mit einem Gedanken, der für sich spricht: »Vielleicht gibt es, sagen wir einmal, in fünf Jahren, bei der nächsten großen Systemkrise erneut die Gelegenheit, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Und der Zusammenbruch des Ostens wäre am Ende nur der Prolog für den Zusammenbruch des Westens.« Zum Ausdruck kommt hier die apokalyptische Sehnsucht nach einem Ausnahmezustand, der die ohnehin prekären Lebenslagen von Menschen noch verschlechtert und der zum handfesten Hauen und Stechen aller gegen alle führt.
Unfreiwillig outet sich Schreier zugleich als Repräsentant eines Denkens, das zutiefst deutsch ist. Deutsche aller Schattierungen und unter Vernachlässigung aller vermeintlichen politischen Gegensätze finden immer dann zusammen, wenn es um den Hass auf den Westen geht. Dabei wäre doch gerade der Westen zu verteidigen, und nichts wäre sympathischer gewesen, als dass die Ostdeutschen tatsächlich und vordergründig für das demonstriert hätten, wofür er letztlich steht: für eine Zivilisation, die diesen Namen verdient; für das Streben nach Freiheit und individuellem Glück. Herausgekommen ist jedoch der Staat des ganzen deutschen Volkes, den bereits Walter Ulbricht als Ziel ausgab: »Wir sind für die Einheit Deutschlands, weil die Deutschen im Westen unsere Brüder sind! Weil wir unser Vaterland lieben!« Bislang gibt es jedoch keine Hinweise darauf, dass Ulbricht eine Marionette der Bundesregierung gewesen wäre.

So harmonisch, wie sich Ulbricht und dann 1989 die anfangs euphorisierten Demonstranten die zu schaffende Einheit des Vaterlandes vorstellten, verlief diese dann doch nicht. Im Osten hat sich im Verlauf des Transformationsprozesses, der einem weitestgehend bankrotten Staatskapitalismus seine Überflüssigkeit für den Fortgang des Weltlaufes demonstrierte, unter Rückgriff auf DDR-Traditionen ein gesellschaftliches Klima etabliert, welches sich anschickt, direkt an das anzuknüpfen, was unter anderem konstituierend für den Nationalsozialismus war. So bezieht man sich in Ostdeutschland gerne offensiv auf seine Scholle, auf Tradition, Gemeinschaft und Arbeitsethos. Vervollständigt wird diese Konstellation durch den Rückgriff auf das bewährte deutsche Krisenbewusstsein, das in der DDR konserviert wurde und welches sich seit der Wende Bahn bricht. Demnach ist der Staat nicht nur Garant der Ordnung, sondern die Anklageinstanz für eine krisenfreie Akkumulation. Da die Sehnsucht nach volksstaatlicher Alimentierung unerfüllt blieb, entwickelte sich der Osten zu einer Art Trutzburg, wo kollektiv die eigene Opferrolle beschworen und reproduziert wird; wo man sich beständig verfolgt oder betrogen wähnt; wo jedes individuelle Unglück als Angriff einer äußeren Macht auf das eigene Kollektiv halluziniert wird.
Die Tatsache, dass der Kapitalismus unter Umständen auch Perspektiven für das persönliche Fortkommen aus den Fängen der Gemeinschaft bietet, gilt so manchem Ostdeutschen, der entweder an seinen Arbeitsplatz gebunden ist oder der von diesem Job als Grundlage der lieb gewonnenen Produktionssippe nicht lassen will, als besonders verwerflich. Noch dazu, wenn sich aus der Mobilität Jüngerer für diese ein finanzieller Vorteil ergibt, der unter den gegebenen Umständen Garant für ein besseres Leben ist, an das die Alten nicht mehr glauben.
Der historische Gebrauchswert des Kapitalismus besteht ja nach Marx darin, die Menschen aus ihren »kleinen, halb barbarischen, halb zivilisierten Gemeinwesen« zu befreien: aus Gemeinwesen, die die Menschen in Unmündigkeit, Aberglaube und despotischer und persönlicher Abhängigkeit verkümmern ließen; aus Zuständen, die den Menschen »unter das Joch äußerer Umstände zwangen, statt den Menschen zum Beherrscher der Umstände zu erheben«. Doch diese »radikale Revolutionierung der sozialen Verhältnisse« gilt dem Ossi als einzige Zumutung.
Wäre all das ein auf wenige ostdeutsche Provinzen reduzierbares Phänomen, man könnte sich getrost zurücklehnen. Doch es ist durchaus zu befürchten, dass die originär ostdeutsche Mentalität eine anziehende Wirkung auf Gesamtdeutschland entfaltet. Gerade in Zeiten der Krise wird die Vorstellung, nach der der Staat die eigene potenzielle Überflüssigkeit abzufedern habe und man bereit sein müsse, dafür individuelle Freiheiten preiszugeben, zum Allgemeinplatz.

In letzter Konsequenz hat auch die Gruppe TOP Berlin ihre Probleme mit Freiheit und Individualismus (Jungle World 40–41/09). Zunächst verweisen die Autoren des Diskussionsbeitrages richtigerweise auf den ideologischen Gehalt des bürgerlichen Freiheitsbegriffs, der in der Tat von der politischen Ökonomie etwa in Form des Rechts und der Freiheit zur allgemeinen Konkurrenz nicht zu trennen ist. Die Würdigung des gewaltigen zivilisatorischen Überschusses, dass nämlich erst mit der Durchsetzung des Kapitalismus überhaupt vom Individuum gesprochen werden kann, kommt ihnen jedoch nicht in den Sinn. Auch wenn dieses Individuum in die Form des Rechtssubjekts gebannt ist, das sich der produktiven Verwertung zu unterwerfen hat, so ist dieser Status der vorbürgerlichen personalen Abhängigkeit ganz bestimmt vorzuziehen.
TOP empfiehlt, nicht die »allgemein-systemische Bestimmung des Nationalismus gegen die jeweils aktuelle, das heißt historisch-spezifische, Gestalt auszuspielen«. Hinter diesem Gedanken dürfte die Vorstellung stehen, alle kapitalistischen Gesellschaften über einen Kamm scheren zu können. Tatsächlich homogenisiert jeder Staat die Einzelnen zum Volk der Verwertbaren und setzt sich in Konkurrenz zu anderen Staaten. Dass jedoch Kapitalismus nicht zwangsläufig zum Nazismus führt; dass Auschwitz als Gründungsvoraussetzung der Bundesrepublik eben einer »historisch-spezifischen« Form von nachbürgerlicher Gesellschaft geschuldet ist, einer ganz speziellen polit-ökonomischen Situation, wie sie in Deutschland zu Anfang des 20. Jahrhunderts bestand, das gehört der Gruppe TOP ausdrücklich ins Stammbuch geschrieben.
Gleichwohl ist eine Kritik an Deutschland schlichtweg falsch, die die Transformation des Post-Nazismus nicht wahrnimmt und stattdessen Erscheinungen in den Fokus des Protestes rückt, deren gesellschaftliche Relevanz derzeit mindestens fragwürdig ist. Das trifft insbesondere für die Aufrufenden und Unterstützer der Demonstration (»Still not lovin’ Germany«) in Leipzig am 10. Oktober zu. Kein Wort fiel da zum Kulturrelativismus des deutschen Antirassismus. Keinen Anlass zur Kritik bot die ausgeprägte Friedenssehnsucht Deutschlands gegenüber allen Feinden Israels und des Westens, die das nationalsozialistische Vernichtungsprogramm, das nur von außen militärisch beendet wurde, allzu gern zu Ende brächten. Und so passt es dann auch, dass die Flaggen Israels und der Alliierten als nicht vermittelbar – so eine Lieblingsfloskel des linken Politikkartells – galten. Eine Kritik an Deutschland und an dem, was als deutsch zu charakterisieren wäre, ist aber nur dann auf der Höhe der Zeit, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass die Jahre 1990 ff. Geschichte sind und dass sich die Zentren der Exekutoren deutscher Ideologie längst außerhalb Deutschlands befinden.