Über den Koalitionsvertrag

Besser mehr verdienen

Am Wochenende hat die neue Bundesregierung ihren Koalitionsvertrag vorgestellt. Die Reformvorschläge verstärken soziale Unterschiede.

Horst Seehofer und Angela Merkel wirkten einigermaßen erschöpft, als sie vor der Bundespressekonferenz den Koalitionsvertrag vorstellten. Vielleicht lag es an dem Tumult, den der geplante Schattenhaushalt im Vorfeld ausgelöst hatte. Verstärkt wurde dieser Eindruck vor allem durch den hyperaktiven Partner von der FDP, der zwischen ihnen Platz genommen hatte. Guido Westerwelle gönnte sich eine Pause vom staatstragenden Habitus, den er sich in den vergangenen Wochen antrainiert hatte, und drehte auf wie in schönsten Big-Brother-Besuchszeiten mit 18-Prozent-Schuhen. Die Euphorie des designierten Vizekanzlers nahm auch am Tag danach kein Ende, als er auf dem Absegnungsparteitag im Flughafen Tempelhof den Mitgliedern der FDP verkündete, dass man bei den Koalitionsverhandlungen alles erreicht habe. Noch nicht, könnte man nach der Lektüre der 124 Seiten mit seinem beunruhigend biegsamen neoliberalen Vokabular, einwenden. In einem Kommentar auf Süddeutsche.de wurde der Entwurf der schwarz-gelben Regierung als »Manifest der Hornissen« bezeichnet, Verniedlichungen in Richtung Biene Maja oder Tigerenten scheinen nicht mehr angebracht. Unter dem Titel »Wachstum Bildung Zusammenhalt« finden sich zahlreiche Optionen für den endgültigen Schnitt zwischen den Gutsituierten und denjenigen, die wenig oder gar nichts haben.

Paradigmatisch lässt sich das an den geplanten Reformen des defizitären Gesundheitswesen demonstrieren. Bei der Krankenversicherung soll der Arbeitgeberanteil eingefroren werden, mit der Folge, dass die Arbeitnehmer sehr viel höhere Beiträge zahlen werden. Die steigenden Kosten des Gesundheitssystems sollen sie zukünftig alleine tragen, und zwar einkommensunabhängig. Denn die schwarz-gelbe Koalition plant die Umwandlung der Kassenbeiträge in eine Pauschale. Für völlig ungleiche Beitragszahler soll der gleiche Betrag festgesetzt werden.
Der Ausstieg aus der solidarischen Sozialversicherung betrifft natürlich auch die Pflegeversicherung. Geplant ist eine verpflichtende private Pflegevorsorge ohne staatliche Förderung. Eine Realisierung der Reformen wird für das Jahr 2011 anvisiert. Nach Überprüfungen und Evaluationen, die auch noch für mehr als 120 weitere Punkte des Koalitionsvertrags anstehen. Die bisherigen gesetzlichen Regelungen zum Mindestlohn sollen beispielsweise darauf geprüft werden, ob sie Arbeitsplätze gefährden. Für die von SPD und Grünen eingeführte »Agenda 2010« fand Angela Merkel schon in ihrer ersten Amtszeit warme Dankesworte. Der von CDU/CSU und FDP vorgelegte Koalitionsvertrag legt wegen der Unabgeschlossenheit und Vagheit in den Formulierungen die Vermutung nahe, dass die neue Regierung da noch einige sozialunverträgliche Maßnahmen hinzufügen wird. Begriffe wie »Eigenverantwortung«, »Gestaltungsspielräume« oder »Anreize« finden sich auf jeder Seite des Entwurfs.
Das Wahlversprechen der Steuersenkung wird trotz der aktuellen Rekordverschuldung berücksichtigt werden. Es wird »faire Regeln« für die Wirtschaft geben, also Entlastungen bei der Unternehmenssteuer. Besserverdiener können sich ebenfalls über Steuervergünstigungen freuen, und gutsituierte Familien dürfen schon kommendes Sylvester auf eine Anhebung des Kinderfreibetrags auf 7 008 Euro anstoßen. Die stetig wachsende Gruppe der Geringverdiener profitiert nicht von diesen Entlastungen, die erst bei einem höheren Jahreseinkommen wirksam werden. Krankenkassen- und Pflegeversicherungsbeiträge müssen hingegen alle sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zahlen. Ab 2013 werden Eltern mit dem von der CSU durchgesetzten Betreuungsgeld von 150 Euro belohnt, vorausgesetzt sie verzichten dafür auf einen Platz in der staatlichen Kita und betreuen ihr Kind daheim. Kritiker sehen in dieser Form staatlicher Unterstützung die Gefahr weiter sinkender Chancen für Kinder mit Migrationshintergrund oder aus bildungsfernen Familien.

Mit den »Sachzwängen« durch die Finanzkrise werden weitere Belastungen begründet, die selbstverständlich auch unabhängig vom Einkommen bemessen werden. Das Wohnen wird teurer durch höhere Gebühren für die Müll- und Abwasserentsorgung. Nach Angaben des Mieterbunds drohen pro Haushalt jährlich Mehrkosten von 150 Euro. Dafür wird der Urlaub günstiger, allerdings nur für Hotelgäste. Geringverdiener können sich also schon mal überlegen, wo sie die private Schuldenbremse anlegen oder einen zusätzlichen Mini-Job finden, dieses Arbeitsmarktinstrument soll übrigens weiter ausgebaut werden.
Auf gar keinen Fall sei die neue Regierung eine Koalition der »sozialen Kälte«, findet Guido Westerwelle. Ja, sie beweist eine gewisse Empathie und gibt sich dabei geradezu visionär. Explizit in den Koalitionsvertrag aufgenommen wurde der »Kampf gegen Altersarmut«. In 20 Jahren dürfte das ein großes Problem sein, derzeit ist die Armut bei der Gruppe der Pensionäre vergleichsweise gering. Unter dem Stichwort »Kinderarmut« findet man im Koalitionsvertrag keinen Eintrag, dafür plant die Regierung eine Überprüfung möglicher Einsparungen in der Kinder- und Jugendhilfe. Als Reaktion auf Jugendgewalt und die sich häufenden Amokläufe an Schulen wird das Jugendstrafrecht verschärft. An einer anderen Stelle des Vertrags fragt sich die schwarz-gelbe Koalition, ob »es derzeit unzumutbare Belastungen für Waffenbesitzer gibt«.

Die Fähigkeit zur irritierenden Verknüpfung von Widersprüchen beherrscht das Personal jedenfalls. Das konnte man schon bei der Zusammensetzung des Kabinetts beobachten, die am Tag vor dem Abschluss der Koalitionsverhandlungen bekannt wurde. Zur Förderung von Frauen in Spitzenpositionen gibt es ganze drei Ministerinnen, da geht die Politik mit gutem Beispiel voran und hofft auf eine Signalwirkung für die Wirtschaft. Ein wirklicher Überraschungscoup gelang mit Dirk Niebel als Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Teil des Wahlprogramms der FDP war die Auflösung des Entwicklungsministeriums, und ganz linientreu hatte Niebel vor der Wahl genau das Ministerium für überflüssig erklärt, das er jetzt übernehmen wird. Machtpolitisch interessant waren die Personalentscheidungen im Verteidigungs- und Gesundheitsressort. Dort sitzen zwei Politiker, die den Altersdurchschnitt des Regierungsteams nach unten drücken, auf Posten, die sicherstellen, dass auch die eigenen Beliebtheitswerte rapide sinken. Als bekannt gegeben wurde, dass Franz Josef Jung der neue Arbeitsminister wird, kehrten Erinnerungen an die preisgekrönte Simpsons-Folge »Trash of the Titans« zurück. In dieser wird Homer zum Müllsenator von Springfield gewählt, mit dem Wahlslogan: »Kann das nicht jemand anderes machen?« . Vielleicht möchte die CDU mit dieser Personalentscheidung ihre Wähler vorsichtig zu der Erkenntnis bringen, dass im Arbeitssektor erstmal nicht mit Erfolgsmeldungen zu rechnen ist. Als ehemaliges Aufsichtsratsmitglied von Eintracht Frankfurt ist Jung für diesen Ministerposten durchaus qualifiziert. Klassenerhalt und Abstiegskampf sind für ihn vertraute Disziplinen.