Über die Proteste gegen die »Ökonomisierung« der Universitäten

Der Staat forscht mit

Mit dem Beginn des Wintersemesters finden auch die Aktionen des bundesweiten Bildungsstreiks eine Fortsetzung. Die Proteste gegen die »Ökonomisierung« der Universitäten verkennen, was sich im Windschatten der Reformen tatsächlich abspielt: die Verwandlung der Universitäten in outgesourcte Staatsagenturen.

Ob sie nun zum »Bildungsstreik« aufrufen oder empfehlen, den Kapitalismus Geschichte werden zu lassen, die Wortführer der jüngeren studentischen Proteste greifen bei ihren Bemühungen, sich eine Massenbasis zu schaffen, stets auf das populäre Schreckbild einer »Ökonomisierung« des Bildungswesens zurück, die den Geist in eine Ware und den Akademiker in eine Charaktermaske des Kapitals verwandele. Als hätten die Universitäten je außerhalb des ökonomischen Verwertungszusammenhangs gestanden und als wäre nicht jeder Staatsbürger qua Staatsbürgerschaft als Agent des Kapitals gesetzt, werden insbesondere die Geisteswissenschaften als Gralshüter eines Bildungsbegriffs beschworen, der gegen den Zugriff der »Wirtschaft« samt ihres Konkurrenzdenkens um jeden Preis zu verteidigen sei. Dass die »geistige Autonomie«, die in diesem Zusammenhang bemüht wird, längst jede Substanz eingebüßt hat und nicht einmal als Ideologie, sondern allenfalls als taktisches Argument taugt, beweisen dieselben Protestler, wenn sie verlangen, ihre geistige Investition möge sich künftig wieder rentieren: Wer zum »Bildungsstreik« aufruft, für den ist Bildung, aller idealistischen Rhetorik zum Trotz, nichts als Kapital, dessen Realisierung verweigert wird, um der Gegenseite Zugeständnisse abzupressen. Entsprechend defensiv sehen die einschlägigen Aktionen aus. Ihre Appellationsinstanz sind weder die Universitäten noch die bürgerliche Öffentlichkeit, sondern der Staat, der gezwungen werden soll, die Universitäten gegen den Markt abzuschotten, um ihre »Autonomie« zu wahren.

Mögen die Studentenproteste der letzten Zeit mit ihrem Feindbild der »Ökonomisierung« partiell der studentischen Protestbewegung der 68er ähneln, unterscheiden sie sich von dieser doch grundlegend durch ihren unkritischen Bezug auf den Staat. Werden dessen Repräsentanten, etwa in Gestalt diverser Bildungsminister, auch attackiert, wird der Staat selbst weiterhin ganz naiv als Schutzmacht gegen die kalte Logik des Wettbewerbs angerufen. Dass Einrichtungen wie die Volkswagen- oder Thyssen-Stiftung bei ihrer Entscheidung über die Vergabe von Stipendien oder Förderung von Projekten womöglich eine weniger handfeste Interessenpolitik verfolgen könnten als staatliche Institutionen, weil ihr ökonomischer und rechtlicher Status ihnen erlaubt, auch das der Unternehmenspolitik Inkommensurable zu honorieren, kommt solchen Kapitalismuskritikern nicht in den Sinn. Dass derselbe Prozess, der sich ihnen als »Ökonomisierung« und »Privatisierung« darstellt, sogar den Zugriff des Staats auf die Bildungsanstalten begünstigen könnte, verstehen sie erst recht nicht. Tatsächlich aber ist genau das der Fall.

Obwohl die Unis immer großzügiger von unmittelbaren staatlichen Direktiven entlastet und zu privatwirtschaftlicher »Eigeninitiative« animiert werden, hat es wohl seit Gründung der Bundes­republik nie eine so dreiste Zusammenarbeit zwischen Universität und Staat gegeben. Zu deren wichtigsten Betätigungsfeldern gehören nicht zufällig die traditionell als »links« geltenden Politik- und Erziehungswissenschaften. Das Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität Berlin etwa, in den späten Sechzigern eine Hochburg zur Rekrutierung linksradikaler Kadergruppen, betreibt mittlerweile fast ausschließlich eine theoretisch sublimierte Form von Politikberatung. Illustrieren läßt sich dies an der Arbeitsstelle Europäische Integration des OSI, die seit 2007 die »Berliner Arbeitspapiere zur Europäischen Integration« herausgibt, in denen die Forschungsergebnisse des Instituts unmittelbar auf ihre Nutzanwendung im Sinne deutscher Außenpolitik hin aufbereitet werden. Zu den Themen der Dossiers gehören Stellungnahmen zum aktuellen Stand des »European Governance«, aber auch Untersuchungen über den »Beitrag des Airbusprojekts zur europäischen Identität«. Tanja Börzel, Leiterin der Arbeitsstelle, ist Inhaberin des vom Europäischen Universitätsrats ausgeschriebenen Jean-Monnet-Lehrstuhls für Europa-Politik, ihr Fachbereich kooperiert in Forschung, Lehre und Berufsausbildung mit Think Tanks wie der Hertie School of Governance oder dem Institut für Europäische Politik, die die Leitlinien der deutschen Außenpolitik zumindest indirekt mitbestimmen und keineswegs »staatsferne« Kooperationspartner sind.
Der Legitimationszwang, unter den die Geistes- und Sozialwissenschaften seit Einführung des Bachelor- und Mastersystems geraten sind, scheint selbst an einem Institut wie dem OSI, das noch immer mit seiner progressiven Vergangenheit wirbt, jede Diskussion darüber zu verhindern, ob eine derartige »Praxisorientierung« des Studienbetriebs nicht die Freiheit von Forschung und Lehre zu ersticken droht. Themen wie Politische Theorie, Staatstheorie oder Politische Philosophie spielen konsequent nur noch eine Nebenrolle – als »Unterfütterung« einer Ausbildung, die den Unterschied von politischem Denken und Public Relations nahezu annulliert hat. Kritiker dieses Prozesses dürfen sich, anders als »linke« Akademiker der 68er-Zeit, mittlerweile sogar vorwerfen lassen, sie seien strukturkonservativ und blind für die gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten der Wissenschaft. Sind es doch großartige Projekte, für die sich die Universitäten im Namen ihrer »Autonomie« zu prospektiven Staatsagenten mausern sollen.
Besonders beliebt ist seit einigen Jahren die Entwicklungshilfe, die nicht mehr politikwissenschaftlich analysiert, sondern als lukrativer Arbeitsmarkt für den akademischen Nachwuchs erschlossen wird. In diesem Semester geht eine von allen drei Berliner Unis ausgerichtete, ausdrücklich auch auf ein außerakademisches Publikum zielende Ringvorlesung zur Entwicklungspolitik in die 17. Runde, die unter dem Titel »Menschliche Sicherheit« nicht etwa den Begriff der Sicherheit kritisiert, sondern diese zum expandierenden Marktsegment erklärt. Mit Schlagworten wie »Ernährungssicherheit«, »Umweltsicherheit«, »Frauensicherheit« usw. wird hier, in distanzloser Übereinstimmung mit den Kampagnen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), Entwicklungshilfe als Strategem einer neuen Welt­innenpolitik gefeiert, zu der auch Frauenrechtlerinnen, Umwelt- und Verbraucherschützer »Ja« sagen sollen. Partner sind unter anderem der Deutsche Entwicklungsdienst (DED), der mit dem BMZ den Freiwilligendienst »Weltwärts« ins Leben gerufen hat (Jungle World 38/09), und die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), ein privatwirtschaftlicher Entwicklungshilfedienst, dessen wichtigster Auftraggeber wiederum das BMZ ist. Die »praxisnahe« Kooperation mit privaten Organisationen, die bei solchen Anlässen regelmäßig als Beweis für die neugewonnene Autonomie der Universitäten gepriesen wird, ist nichts als eine euphemistische Formel für deren Verwandlung in outgesourcte Staatsagenturen.

Ein brisantes Gebiet künftiger Kooperationen zwischen Universität und Staat dürfte der Islam-Unterricht an deutschen Schulen werden, den die Institute für Islamwissenschaft und Islamische Religionspädagogik, die in den vergangenen Jahren in Frankfurt am Main, Osnabrück, Münster, Erlangen und andernorts florieren, bereits als künftigen Arbeitsmarkt ihrer Studenten ausgemacht haben. Nachdem Hessen sich zum Vorreiter bei der Einführung des Islam-Unterrichts erklärt hatte, haben islamische Dachverbände für eine Zusammenarbeit mit der Frankfurter Goethe-Universität bei der religionspädagogischen Ausbildung votiert, um ihre Offenheit gegenüber »säkularen« Bildungsinstitutionen zu signalisieren. Tatsächlich ist die neue Professur für Islamische Religion in Frankfurt aus einer Stiftungsprofessur hervorgegangen, die in Kooperation mit dem Türkischen Präsidium für Religiöse Angelegenheiten finanziert und eingerichtet worden ist – und damit in Abhängigkeit vom türkischen Staat steht. Finanziell unterstützt wird sie von der Gesellschaft zur Förderung der Islamstudien (GEFIS), einem weiteren islamischen Racket, das auch andere deutsche Institute für Islamwissenschaft unterstützt.
Wenn die Entscheidung über die Ausgestaltung des religionspädagogischen Studiums ansteht, wird sich zeigen, wie viele Akademiker bereit sind, über den Wahrheitsgehalt der Formel von der »geistigen Autonomie« überhaupt noch konkret zu streiten. Während Humboldt, in dessen Zeit jene Formel mehr gewesen ist als die Phrase, zu der sie werden sollte, seine radikalen bildungspolitischen Schriften mit »Ew. Exzellenz« und »Königliche Hoheit« adressierte und sich emphatisch als Staatsdiener empfand, fühlen sich die akademischen Existenzgründer, die sich heute in Clustern und Modulen tummeln, über derlei Staatsbeamtentum erhaben und sehen keinen Sinn mehr in solchem Streit. In Wahrheit sind sie mit dem Staat, dem Humboldt nur diente, leibhaft eins geworden. Nicht wer erneut den Staat als Schutzmacht anruft, wird ihnen widerstehen können, sondern nur, wer sie an die Verpflichtung erinnert, die ihnen von keinerlei Auftraggeber, sondern aus dem Gegenstand ihrer Erkenntnis selbst erwächst.