Über »Loslabern« von Rainald Goetz

Irre und Lücken

»Loslabern« von Rainald Goetz

Keine Wende, keine Kehre, kein Zurück. Der symbolische Kampf der Kultur geht weiter. Und Rainald Goetz ist wieder dabei. Mit »Loslabern« hat er gerade den zweiten Band seines Buchprojekts »Schlucht« vorgelegt. Man merkt dem Text das Vergnügen an, das das Schreiben dem Autor bereitet hat. Nach den langen Nullerjahren, in denen Goetz kaum etwas öffentlich Vorzeigbares gelungen ist, hat er endlich wieder ein Buch gemacht, das er selbst für kritikwürdig hält.
Das Vergnügen bleibt dabei nicht einseitig. Man liest die Sachen schnell weg, zumindest als Goetz-Leser.
Man hatte »Loslabern« bereits zweimal gelesen, als einen der Auftrag zur Rezension dazu drängte, beim dritten Mal zumindest ein paar Zettel auf die Seiten zu kleben und sich ein paar Notizen zu machen. Erst da fiel einem ein großer Schnitt im Werk so richtig auf. Man hat­te sich schon bei der Lektüre von »Klage«, dem Buch zum Internet-Blog von Goetz bei der deutschen Vanity Fair, oft gefragt, wann jetzt endlich Harald Schmidt und Oliver Pocher mal auftauchen, die Verlustanzeige dann aber wieder vergessen über die Auftritte von Claus Peymann, Daniel Richter und Horst Seehofer in »Klage«.
Jetzt aber, in »Loslabern«, wurde es offensichtlich: Goetz hat seit ein paar Jahren den Fernseher abgeschaltet. An die Stelle des Fernsehens ist das Lesen getreten. Von sieben Uhr abends bis ein Uhr nachts liest er jetzt Bücher, Werke der Literatur. Wo vorher Fernsehen und noch der entlegenste Luhmann-Aufsatz waren, sind jetzt dicke Bücher. Drei davon tauchen an poetologisch wichtigen Passagen von »Loslabern« auf: Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, Alfred Döblins »November 1918« und Uwe Tellkamps »Der Turm«.
Döblin dient Goetz dazu aufzuzeigen, wie man es nicht macht. Goetz kommt auf Döblin zu sprechen, nachdem er München mit Berlin verglichen hat. Die Münchner Stressverlogenheit im Ton sei fast noch schlimmer als die Berliner Rohheitsverherrlichung, meint er und folgert: »Falsch ist beides.« Die Namen der Orte, die topografische Achse München-Berlin, werden bei Goetz zu einem pneumapathologischen Syndrom, zu einer Kette von Symptomen der Fehler, die die Lage dieser Gesellschaft besonders grell in ihrer Scheußlichkeit illustrieren.
Die Finanzkrise, so schreibt er, habe noch einmal gezeigt, dass sich die ganzen Chefordinärheiten auch an der Unterschichtenordinärheit geschult haben »und es genossen, dass beidem, ihrer Chefblödheit und dem in Proletarien aktiv affirmiertem Proletendeppismus, von intellektueller Seite kaum mehr richtig Widerspruch und Widerstand entgegengekommen ist«.
In der Finanzkrise, die das durchgängige Thema von »Loslabern« ist, hat sich die »Niedrigkeit und Trottelhaftigkeit der Werktätigen« genauso gezeigt wie der Schwachsinn der Finanz­weltvertreter. »Was Leute, die gedanklich dauernd mit Geld und Kapital beschäftigt sind, sich unter einem Ich vorstellen, ist echt ein Witz, kein Ich«, heißt es. Unsere Aufgabe, also die Aufgabe der Intellektuellen und Schreiber, wäre es, denkt Goetz angesichts der sich gegenseitig spiegelnden Dumm- und Rohheiten von Herr und Knecht, im Widerspruch ein bisschen Wahrheit in die Welt zu setzen. Und Döblin kann dabei nur die Negativfolie liefern, weil er mit seinem »Zilletum und seiner Kleine-Leute-Feier« nur verlogene Kitschgemälde geliefert habe und die Wahrheit durch seine Parteilichkeit auf der Strecke geblieben sei.
Aber wie soll man, wenn einen die Tage andauernd zwischen allen möglichen Positionen hin- und herreißen, die auch, wenn man sie nur mitschreibt, doch ihre Spuren in einem hinterlassen, da noch wissen, wo Bartel den Most holt?
Helfen kann vielleicht ein Schluchtenspaziergang.
Zu den Merkmalen von Schluchten gehört ja, dass man rechts und links nur Wände sieht und, wenn überhaupt, der Ausblick nur nach vorn oder hinten gewährt wird. Man kann sich in Schluchten nicht seitlich in die Büsche schlagen. Genauso ist der Himmel über Schluchten klein. Der Himmel kann in Schluchten nicht so mächtig sein wie über Feldern und Wiesen.
Und die Schluchten in Goetz’ Bericht aus dem Herbst 2008 sind der »Betrieb«. Nach Jahren der Abstinenz ist er im Herbst 2008 wieder zur Buchmesse nach Frankfurt gefahren, hat im November den Herbstempfang der FAZ im Berliner Hotel de Rome besucht und an einem Abendessen der Galerie Max Hetzler zu Ehren von Albert Oehlen teilgenommen. Die drei Orte, Buchmesse in Frankfurt, FAZ-Empfang im Hotel de Rome und die Hetzlerschen Galerieräume im Berliner Wedding, stellen die räumlichen Zentren der drei Kapitel von »Loslabern«, die sich aber sofort in Richtung aller nur denkbaren Untiefen öffnen.
Mit Albert Oehlen ist auch der Künstlerfreund vertreten, der seit »Irre« von 1983 in Goetz’ Geschichten malt, denkt und spricht, und damit ist ein Bogen gespannt, der den Leser sofort nach den anderen alten Bekannten von Goetz’ Welten fragen lässt. Was macht eigentlich der Lyriker Ee, der am Ende von »Irre« als »der brillanteste BrillantSepp Deutschlands« in seiner windigen, ewigen, damals schon 50jährigen Jugendlichkeit vorgeführt wurde? Der ist immer noch 38 und steht als Hans Magnus Enzensberger – natürlich – mit den neuen Chefs des neuen Spiegel am FAZ-Empfang am Tisch. Und da erklärt er den jungen Revolutionären um Mathias Matussek, »wie die Revolution heuer, im 68er Gedächtnisjahr 08 ausfallen würde, ausfallen würde sie, ha, ja«. Und was dann folgt, schließt zwar keinen Kreis, aber »Loslabern« an »Irre« an und zum Lyriker Ee auf: »Enzensberger musste selber über seine eigene Spritzigkeit und Witzischkeit seines eigenen Geistes schmunzeln und lächelte mit schrägem Mund freundlich in die Runde.«
Es gibt kaum eine Idee, die Goetz über die Jahre mit mehr Verachtung übergossen hat als den Entwicklungsgedanken. An Enzensberger kann man sehr genau sehen, was er damit nicht meint: in ewiger Jugendlichkeit untergehende Nichtannahme der eigenen Geschichte. Und die eigene Geschichte handelt bei Goetz auch immer von seiner abgründigen inneren Boshaftigkeit, mit der er es, wie er sagt, mit »jedem realen Weltbösewicht aufnehmen kann«. Goetz wendet sie aber nicht nur nach außen, gegen Kollegen wie Daniel Kehlmann, Christian Kracht oder Joachim Lottmann, die im Herbst 2008 zum Personal der Literatur gehören wie Döblin, nur eben auch leibhaftig. Leibhaftig erzählt Goetz aber auch von seinem Scheitern. Die schlechtesten Texte, die er je geschrieben habe, seien die für die gedruckte, mittlerweile eingestellte deutsche Vanity Fair gewesen, schreibt er und erzählt auch noch in knappen Worten von seiner misslungenen Bewerbung beim Spiegel-Hauptstadt-Ressortleiter Dirk Kurbjuweit als Reporter. Ganz sachlich und höflich habe ihm Kurbjuweit da erklärt, wie man Adjektive im Journalismus einsetze, und er, Goetz, habe eingesehen, dass er das nicht könne. Sein Nicht-Können verbindet Goetz aber gleich mit der Erwähnung des Könnens von Benjamin von Stuckrad-Barre. Stuckrad-Barres Porträt von Guido Westerwelle sei gut, rundherum gelungen, und das Lob steht neben Aussagen in »Klage«, in denen Goetz jede Bosheit, die man in fünf Zeilen unterbringen kann, auf Stuckrad-Barre anwendet. So wird alles, was Goetz an Lektüren, Begegnungen, Enttäuschungen und Glücksmomenten angesammelt hat, auch wieder abgetragen im Text, damit die Welt ins Buch kommt. Die Welt im Buch hat aber immer das Problem, dass die Worte die antisprachliche Dimension der Wirklichkeit nicht darstellen können. Deshalb sind Bücher immer aus Worten und Schweigen gemacht, und die Bücher von Goetz arbeiten auf eine manchmal erschreckend selbst-reflexive und darin undialektische Art mit dem Spiel von Schweigen und Wort. Es gibt bei Goetz keine Regel, wann sich das Wort Bahn bricht aus dem Schweigen in den Text und wann es wieder zurückgenommen wird aus der Notiz ins Schweigen.
Das Buch ist unreiner Anti-Hegel und legt den bohrenden Finger andauernd auf die schmerzende Stelle eines jeden Subjekts: sein Begehren nach Anerkennung. In der Anerkennung aber, davon handelt Goetz wie kein anderer Schriftsteller unserer Tage hierzulande, wird der Begehrende bloß zum Objekt. Anerkannt werde ich bloß als Objekt. Deshalb liegt so viel Falsches im Lob, deshalb sagt der Apostel Paulus, wenn er sich selbst lobt: Ich rede wie ein Narr. Deshalb preist Paulus nicht sich, sondern seine Arbeit und sagt: Ich will mein Amt preisen.
Und das Amt, das Rainald Goetz preist, ist das des mitschreibenden Mönchs. Und der Held dieses Amtes heißt im Herbst 2008 Uwe Tellkamp. Sein »Turm« hat die stimmungsmäßige Klaus­trophobie der späten DDR so deprimierend wirklich vorgeführt, wie es nur Literatur kann. Dieser »Scheißstaat« (Goetz) ist in seinem Horror noch gar nicht richtig erfasst, aber hier hat die Literatur eine Aufgabe, und das erzeugt in Goetz’ Lobpreisung des Amtes der Literatur eine so gute Laune, dass man sich gleich den »Turm« kaufen will.
Und die Revolution besingen, wie Goetz es in einem Gedicht namens »Staat und Revolution« tut, in dem zu lesen ist: »mein Lenin heißt Proust/mein Stalin Adorno«. Und dabei geht der proustianische Leninist so wach durch die Schlucht der Buchmesse, dass ihm das schönste Geschenk der Wirklichkeit, die Todesfahrt des Jörg Haider, zu dem »Realkunstwerk des Jahres 2008« wird. Die Passage zum Haider-Crash ist sprachlich Auge in Auge mit Thomas Bernhard, eine der schönsten des Buches und dabei ohne Häme. »Besonders dieser eine Stein am Straßenrand hatte es mir angetan, der dafür gesorgt hatte, dass der Haider diesen einfachen Überschlag in seinem an sich ja todsicheren Phaeton nicht überlebt hatte, weil dieser Stein exakt an der Stelle am Straßenrand gestanden hatte, wo der haidersche Phaeton ausgerechnet mit der Windschutzscheibe, also ohne jeden Schutz, aufgeschlagen und eingeschlagen war«, steht da geschrieben, und der Satz ist damit noch lange nicht zu Ende. Die Pointe aber überdeutlich: Gegen Heidegger muss man sich den Stein denkend denken.
Es gibt aber noch eine andere Stelle in »Loslabern«, die dem Tod nachgeht. Es ist Rainald Goetz’ Würdigung der 2002 durch eigenen Entschluss aus dem Leben getretenen Merve-Verlegerin Heidi Paris. Und es ist keine geringe Leistung, die Sprachkunst, die Goetz um den Tod des Haider entfaltet, hier beim Künstleressen für Albert Oehlen, wo er einen Toast auf die wunderbare Heidi Paris ausspricht, komplett zu vermeiden und einer großen Leserin, die Heidi Paris war, über den Tod hinaus eine geistige Begleitung angedeihen zu lassen. »Die Lücke die wir hinterlassen ersetzt uns vollkommen«, hatte Heidi Paris in ihren letzten Aufzeichnungen geschrieben. Goetz setzt das Zitat an den Anfang einer mit »Suizidvorbereitungsgang« überschriebenen Passage.
In der Hektik und dem Horror, den Goetz auf der Buchmesse und dem FAZ-Empfang in Gesprächen und Begegenungen einfängt und entfaltet, schafft diese Lücke im Buch einen Platz für den Leser, der darin weit über das Buch hinaus gehen kann, wenn er denn will.

Rainald Goetz: Loslabern. Bericht. Herbst 2008. ­Suhrkamp, Frankfurt/M. 2009, 187 Seiten, 17,90 Euro