Peter W. Galbraith im Gespräch über die Wahlen in Afghanistan und die Rolle der UN

»Karzai opfert sein Land auf dem Altar der Selbstsucht«

Peter W. Galbraith wurde im März 2009 zum »stellvertretenden UN-Sonderbeauftragten für Afghanistan« ernannt. Am 15. September wurde er auf Ersuchen des UN-Sonderbeauftragten für Afghanistan, Kai Eide, nach einer Auseinandersetzung über Betrug bei den afghanischen Wahlen seines Postens enthoben.

Nach der afghanischen Präsidentenwahl wurden Vorwürfe laut, es sei zu Wahlbetrug gekommen. Welches Ausmaß hatte die Wahlfälschung aus Ihrer Perspektive?

Man kann eindeutig von massivem Wahlbetrug sprechen. Mindestens 1,5 Millionen, möglicherweise sogar zwei bis drei Millionen Stimmzettel waren gefälscht. Die allermeisten davon votierten für den amtierenden Präsidenten Hamid Karzai. Dies wurde schon am Wahltag selbst deutlich, als trotz der offensichtlich sehr geringen Wahlbetei­ligung in den südlichen Provinzen eine sehr große Anzahl von Stimmabgaben gemeldet wurde. Das verkündete Ergebnis lautete 54 Prozent für Karzai und 29 Prozent für seinen aussichtsreichsten Herausforderer Abdullah. Nachdem die Wahlkommission die Fälschungsvorwürfe untersucht und ein paar Urnen ausgeschlossen hatte, blieben noch 49 Prozent für Karzai. Ich glaube, dass sein tatsächlicher Stimmenanteil nicht höher lag als 42 Prozent und Abdullah wohl bei 35 Prozent gelegen haben wird.

Nach der Wahl wurde viel von »Geister-Wahllokalen« gesprochen. Was hat es damit auf sich?

Das waren Wahllokale in unsicheren, oftmals von den Taliban kontrollierten Gegenden, die noch nie ein Mitglied der afghanischen Regierung oder der afghanischen Wahlkommission zu Gesicht bekommen hat. Es war offensichtlich, dass diese Geisterlokale niemals öffneten, höchstwahrscheinlich nicht einmal existierten. Hier war das Potenzial für Betrug unheimlich groß, weil sich weder unabhängige Beobachter noch Wähler dorthin wagten. Ich versuchte schon im Juli erfolglos, ihre Schließung zu erwirken. Seit ich im September ohne Angabe von Gründen von meinem Posten in der UN-Afghanistan-Mission gefeuert wurde, rangen die UN-Offiziellen um Erklärungen für meine Entlassung. Nun behauptete der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon, ich sei gefeuert worden, weil ich in Verletzung demokratischer Grundrechte die Schließung von Wahllokalen erzwingen wollte. Ich dagegen sehe es eher als undemokratisch an, wenn Wähler und Beobachter um ihr Leben fürchten müssen und die abgegebenen Stimmen von Anfang an wertlos sind, weil sie sowieso gefälscht werden.

Wie war die generelle Reaktion der UN-Mission vor Ort auf die massiven Betrugsvorwürfe?

Die UN-Mitarbeiter dort sind ein sehr gutes und professionelles Team. Viele meiner Leute arbeiteten unter erheblichem Risiko teilweise 24 Stunden am Stück in den Wahllokalen und sammelten riesige Mengen an hieb- und stichfesten Beweisen für Wahlfälschung. Aber der Chef der UN-Mission, der norwegische Diplomat Kai Eide, bestand darauf, dass diese Beweise nicht verwendet werden sollten, und verbot mir sogar, die Wahlergebnisse mit den Kollegen aus der diplomatischen Community zu diskutieren. Er untersagte außerdem kategorisch die Weitergabe der Beweise an die Wahlbeschwerdekommission, ein Gremium, das im Wesentlichen von der UN selbst aufgebaut worden war. Herr Eide war im Vorfeld der Wahl in der Regel im Urlaub gewesen. Derweil machte ich große Fortschritte mit der Schließung der »Geister-Wahllokale«. Mehrere afghanische Minister legten daraufhin bei Kai Eide Beschwerde über mich ein. Welch Wunder! Sie waren natürlich die ersten, die vom Wahlbetrug profitieren würden. Doch Eide stellte sich gegen mich. Die afghanische Wahlkommission verkündete zunächst, dass sie verdächtige Stimmzettel nicht zählen wird. Als der Wahlkommision dann klar wurde, dass dies unweigerlich auf eine Stichwahl hinauslaufen würde, entdeckte sie auf wundersame Weise ihre verfassungsmäßige Verpflichtung, doch alle »abgegebenen« Stimmen zu zählen. Ich intervenierte gegen diese fadenscheinige Begründung. Daraufhin verlor Präsident Karzai die Nerven und warf mir »ausländische Einmischung in afghanische Angelegenheiten« vor. Kai Eide stellte sich wieder an Karzais Seite und verbat sich weitere »Einmischung« meinerseits.

Sie würden also sagen, dass die UN-Mission als solche gute Arbeit leistet und nur ihr Chef zweifelhafte Entscheidungen trifft?

Absolut. Noch ein Beispiel: Eines unserer Teams erstellte einen Bericht, aus dem Herr Eide die für Karzai kritischen Passagen einfach wieder herausstrich. Zum Beispiel die Tatsache, dass Karzai im Staatsfernsehen sechs mal so viel Sendezeit eingeräumt bekam wie sein Kontrahent Abdullah. Im Radio hatte Karzai 91 Prozent der Sendezeit, Abdullah weniger als ein Prozent.

Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe für diese parteiische Haltung des obersten UN-Repräsentanten in Afghanistan?

Zum einen behauptete er, eine Auseinandersetzung mit der Wahlfälschung würde im Land zu blutigen Unruhen führen. Ich konnte diese Argumentation nicht akzeptieren. Wenn die Wahlfälschung ein Fakt ist und die afghanische Bevölkerung dies weiß, verliert die UN doch jegliche Glaub­würdigkeit, wenn sie die Dinge nicht klar benennt. Zweitens ist Kai Eide der schlimmste Fall von »Klientelitis«, die mir jemals untergekommen ist. »Klientelitis« nenne ich das Phänomen, wenn Diplomaten aufhören, ihr Land oder ihre eigene Organisation gegenüber einem Staats­oberhaupt zu vertreten, und beginnen, sich die Ziele dieses Staatsoberhauptes zu eigen zu machen. Tatsächlich ist Eide viel eher Karzais Mann in der UN als der UN-Abgesandte in Afghanistan.

Aus welchen Gründen hat dann die Wahlkommission doch noch eine Stichwahl veranlasst?

Tatsächlich haben meine Entlassung und das darauf folgende große Medienecho eine große Rolle gespielt. Davor hatten die meisten noch damit gerechnet, dass die Betrugsvorwürfe früher oder später abebben würden. Mit meiner Entlassung wurde deutlich, dass es so einfach nicht ist. Der größte Druck auf die Kommission, in eine Stichwahl zu gehen, kam natürlich von Seiten der USA und vor allem von Senator John Kerry. Zwischenzeitlich gab sogar Kai Eide dem Druck nach und favorisierte öffentlich eine Interimsregierung unter Beteiligung beider Seiten.

Wäre es nicht sinnvoller gewesen, den Winter abzuwarten, als mit einer so belasteten Wahlbehörde jetzt in die Stichwahl zu gehen?

Nein, ich glaube, es ist am besten, das zu tun, was die afghanische Verfassung vorschreibt.

Welches sind aus Ihrer Sicht die größten Hindernisse für eine Demokratisierung in Afghanistan? Wie kann man damit umgehen, wenn beispielsweise ein afghanischer Mann für sich selbst und gleichzeitig für seine Frauen wählt?

Natürlich sind fehlende Frauenrechte und schlechte Bildung ein riesiges Problem in Afghanistan. Aber das stand bei dieser Wahl eher im Hintergrund. Hier ging es primär um arrogante und machtversessene Politiker, denen das Wohl ihres Landes gleichgültig ist. Die Wahlfälschung hat bei vielen afghanischen Bürgern das sowieso sehr zerbrechliche Vertrauen in die afghanische Demokratie vollends zerstört. In vielen Ländern und auf jeden Fall in den USA ist die Zustimmung zum Afghanistan-Einsatz wegen des Wahlbetrugs gesunken. Karzai und seine Clique opfern ihr Land auf dem Altar ihrer Selbstsucht.

Es hat in der Vergangenheit auch Kritik an der deutschen Rolle in Afghanistan und der Strategie der Kooperation mit regionalen Warlords gegeben. Wie beurteilen Sie die deutsche Präsenz am Hindukusch?

Äußerst positiv. Man muss sich nun mal den ­Situationen anpassen und dann versuchen, sie zu ändern. Die Warlords hinauswerfen? Hört sich natürlich gut an, aber es ist eben eine sehr westliche Art zu denken, diese Leute würden ihre Macht verlieren, wenn sie ihr Amt verlören. Die Sphären Amt und Macht sind in Afghanistan leider stark getrennt.