Die französischen Atommülltransporte nach Russland

Ab nach Sibirien!

Schon lange wird französischer und deutscher Atommüll auf dem Seeweg nach Russland transportiert, wo er unter freiem Himmel vor sich hinrottet. Dank der Verschwiegenheit der Atomindustrie wurde dies erst kürzlich bekannt.

Plötzlich änderte der Frachter die Route: Am vergangenen Donnerstag gegen 10 Uhr sollte das russische Schiff Kapitain Mironov im französischen Le Havre einlaufen. In letzter Minute änder­te es jedoch den Kurs, um in Cherbourg, weiter westlich in der Normandie, anzulegen. Denn in Le Havre warteten Mitglieder von Greenpeace, deren Schiff Arctic Sunrise am Dienstag voriger Woche dorteingetroffen war, um Atommülltransporte von Frankreich nach Russland zu verhindern. Die Kursänderung der Kapitain Mironov verhinderte die Konfrontation mit der Umweltorganisation, aber auch die geplante Verschiffung des Atommülls im Hafen von Le Havre.
Erst am vorvergangenen Samstag war das russische Frachtschiff Kholmogory von Le Havre in Richtung Westsibirien in See gestochen, beladen hatte man es am Tag zuvor mit 54 Fässern mit je 200 Litern radioaktiver, uranhaltiger Flüssigkeit. Schon jahrelang verfährt die französische Atomindustrie auf diese Weise, wenn es darum geht, einen Teil des strahlenden Atommülls außer Reichweite zu schaffen. Wozu gibt es andere Länder, die genügend Platz haben, wo der radioaktive Müll vor sich hinstrahlen kann?
Nur war die französische Öffentlichkeit von den Transporten radioaktiven Abfalls auf dem Seeweg ins Ausland bisland nicht informiert. Erst am 13. Oktober wurde durch eine Reportage des Fernsehsenders Arte unter dem Titel »Abfälle, Albtraum der Atomenergie« bekannt, dass die französische Atomwirtschaft schon lange Abfall ins Ausland verschifft. Nachdem mit der Arte-Sendung die Atommüll-Verschiebungen öffentlich geworden waren, protestierte die französische Sektion von Greenpeace gegen die Transporte. Greenpeace kündigte an, sie »mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern«, und entsandte das Schiff Arctic Sunrise Richtung Le Havre, wo es Anfang der Woche eintraf.

Bereits seit den achtziger Jahren war Russland Bestimmungsort französischen Strahlenmülls. Damals schloss Frankreich internationale Verträge ab, um seinen Abfall aus der Urananreicherung loszuwerden. Diese Vereinbarungen bestanden einerseits mit der damaligen Sowjetunion, andererseits mit dem Konsortium Urenco. Dieses betreibt unter anderem die Urananreicherungsanlage (UAA) im nordrhein-westfälischen Gronau und die wesentlich größere Anlage im niederländischen Almelo. Die Urenco ist im Besitz des britischen, des niederländischen und des deutschen Staats, die sich zum Zwecke der Erzeugung von Uran-Kernbrennstoff zusammengeschlossen hatten.
Beide Vertragspartner, die Sowjetunion und die Urenco, sollten Frankreich einen Teil seines Atomabfalls abnehmen. Dabei hatte die damalige UdSSR, so wie Russland heute, nicht gerade den besten Ruf in Sachen Sorgfalt im Umgang mit radioaktivem Material. Nachdem die Atommüll-Transporte von Frankreich nach Russland im Zu­ge der Arte-Dokumentation in Frankreich heftige Kontroversen ausgelöst hatten, beriefen sich die französischen Betreiber von Atomanlagen, das Energieunternehmen Electricité de France (EDF) und der Nuklearkonzern Areva, in den vergangenen Tagen einfach darauf, dass sich die Sowjetunion und damit das heutige Russland »nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl« im April 1986 auf dem Gebiet der Atomenergie ja »den internationalen Normen angepasst« habe.

Beim radioaktiven Material, das seit den achtziger Jahren aus Frankreich über den Seeweg nach Russland transportiert wurde,handelt es sich um so genanntes abgereichertes Uran. Dieser Stoff bleibt übrig, wenn man in einer Urananreicherungsanlage die Isotope ­Uran-235 und ­Uran-238, die im Naturzustand nur vermischt vorkommen, teilweise voneinander trennt. Das spaltbare ­Uran-235, das allein als Kernbrennstoff taugt, wird dabei teilweise aus der Gesamtmasse herausgetrennt. Übrig bleibt ein Stoff, der nur noch Reste des spaltbaren Stoffes beinhaltet und der zwar nicht mehr zur Kernspaltung taugt, aber radioaktiv strahlt – zwar relativ schwach, aber dafür ist seine Halbwertszeit sehr hoch. In diesem »abgereicherten Uran« sammeln sich zudem auch die selteneren, in der Natur nur in geringer Menge vor­kommenden Uranisotope 234 und 236. Auch deshalb ist dieser Reststoff gefährlicher und schwe­rer zu lagern als Natururan.
Einen Teil dieses in den Urananreicherungsanlagen Frankreichs produzierten abgereicherten Urans nimmt das Urenco-Konsortium ab, doch auch dieses reicht die Abfälle offenkundig zum Teil nach Russland weiter. Durch Urenco gelangte auch deutscher Atommüll aus der Anlage im nord­rhein-westfälischen Gronau nach Russland. Nach Medienberichten sind seit dem Jahr 1996 insgesamt 27 300 Tonnen Atommüll aus Gronau nach Russland geschafft worden. Allein im laufenden Jahr sollen zwei Ladungen abgeschickt worden sein, darunter 1 250 Tonnen auf einem Schiff, das im März in Rotterdam ablegte.

In Russland lagern die radioaktiven Abfälle inzwi­schen im asiatischen Teil, genauer in der westsibirischen Stadt Seversk alias »Tomsk-7«, die rund 3 000 Kilometer östlich von Moskau liegt und wegen ihrer Nuklearanlagen von der Öffentlichkeit abgeschottet wird. Dort liegen dem jüngst ausgestrahlten Arte-Film zufolge 13 Prozent der französischen Atomabfälle – unter freiem Himmel und in rostenden Fässern. Die EDF hat inzwischen dementiert, dass es sich dabei um Atommüll handle, und beruft sich dabei darauf, dass sich das »abgereicherte« Uran ja noch einmal verwenden lasse. Denn wenn man es durch Vermischung mit stärker konzentriertem Uran-235 »erneut anreichert«, dann gilt es als wieder verwendbar. In diesem Falle lässt es sich als Kernbrennstoff einsetzen. Das in Westsibirien lagernde Uranmaterial sei deshalb ein »wertvoller Rohstoff« und nicht etwa Abfall, meint die EDF. Nur stellt sich die Frage, warum man Uran erst »abreichern« und dann »wieder anreichern« sollte – und warum man den Stoff, wenn er so wertvoll ist, in Sibirien vor sich hinrotten lässt.
Der Journalisten Eric Guéret und Laure Noualhat hatten zusammen für den Arte-Film in der verbotenen Stadt »Tomsk-7« recherchiert. Statt der offiziell angegeben Rate von 96 Prozent Wiederverwertung des dort gelagerten Urans französischer Herkunft, so fanden die Journalisten heraus, würden »unter zehn Prozent« nochmals eingesetzt. Der Rest strahlt unter freiem Himmel vor sich hin. Inzwischen hat eine Reportage des Deutsch­landfunks hinsichtlich des Abfalls aus Gro­nau bestätigt, dass auch bei diesem die angebliche Wiederverwendung fiktiv sei und allein als Vorwand für eine unerklärte »Entsorgung« auf Kosten Russlands diene.

Der französische Politiker und frühere Präsidentschaftskandidat Noël Mamère (Grüne) hatte auf die Arte-Dokumentation mit den Worten reagiert, die französische Atomindus­trie habe ihre »Ganovenmethoden« offen gelegt: »EDF und Areva führen sich wie Ökologie-Kriminelle auf.« Doch wer glaubt, dass mit ihrer Aufdeckung diese »kriminellen« Methoden nunmehr auch ein Ende hätten, täuscht sich, wie die aktuelle Auseinander­setzung um die Schiffstransporte von Le Havre nach Sibirien belegt. »Es ist nicht hinnehmbar, dass die Atomfirmen EDF und Areva in aller Ungestraftheit ihr schmutziges Geschäft fortsetzen«, sagt Yannick Rousselet, Sprecher der Anti-Atom-Kampagne von Greenpeace Frankreich. Doch ob Greenpeace die Forderung nach einem sofortigen Moratorium für solche Transporte durchsetzen kann, ist ungewiss.
Der französischen Nuklearindustrie steht indessen weiteres Ungemach ins Haus. Denn nicht nur in Westsibirien nimmt man es beim Umgang mit strahlendem Müll nicht so genau. Ungefähr zum Zeitpunkt des Bekanntwerdens der Lieferun­gen von Atomabfällen nach Tomsk wurde Mitte Oktober ein weiterer Skandal publik: In der Atom­anlage Cadarache in Südostfrankreich ereignete sich ein »Störfall der Stufe 2« – also schon eine Störung ziemlich ernsthafter Natur.
Zudem wurde erst jüngst bekannt, dass beim Abriss eines Labors auf dem Gelände der Anlage eine nicht im Plan vorgesehen Menge Plutonium aufgetaucht war. Der Betreiber – das staatliche Atomenergiekommissariat (CEA) – wusste dies schon seit Juni. Aber bis zur Stunde ist offenbar noch nicht einmal die genaue Masse des dort aufgetauchten Plutoniums geklärt. Die dort entdeckten »Handschuhfächer« – spezielle Kästen, in denen mit metallenen Greifern in Form von Handschuhen an hochradioaktiven Substanzen hantiert wird – sollten theoretisch neun Kilogramm Plutonium enthalten. Beim Auseinandernehmen des Labors tauchten aber mindestens 22 Kilogramm Plutonium auf. Mittlerweile halten die Behörden es für möglich, dass die Gesamtmenge 39 Kilogramm betragen könnte. Die Ankündigung sorgte für Panik, ab einer Menge von elf Kilogramm des extrem giftigen Spaltstoffs kann eine unkontrollierbare Kettenreaktion eintreten. Zum Glück war das Material offenbar über mehrere Stellen innerhalb des Labors verteilt.
Kurz darauf kam heraus, dass dort ebenfalls mehr Uran aufgetaucht ist als zuvor angenommen. Aber dass in einem Depot auf dem Gelände der Atomfabrik zehn Kilo gefunden wurden, wo nach Vorschrift höchstens vier Kilo Uran zugelassen sind, verwundert vielleicht schon niemanden mehr. Vielleicht hofft die französische Atom­in­dus­trie auf einen Gewöhnungseffekt. Darauf, dass sich auch in Frankreich ein unbeschwerterer Umgang mit radioaktivem Material durchsetzen lässt.