Stadtplanung und Hausbesetzungen in den achtziger Jahren

Der kurze Winter der Anarchie

Aus dem heruntergekommenen Westberlin wollten Stadtplaner in den achtziger Jahren eine moderne Stadt machen. Da kamen ihnen die Hausbesetzer in die Quere. Zur Geschichte einer glücklichen Insel mitten im roten Meer.

In den Fenstern fehlten die Scheiben, die Kachelöfen waren zertrümmert. Der durch das löchrige Dach tropfende Regen fiel durch das Treppenhaus bis in den Flur. So präsentierten sich Ende der siebziger Jahre Hunderte von Häusern in Westberlin, insbesondere in Kreuzberg. Dort standen zum Teil ganze Straßenzüge leer, in denen alliierte Soldaten Häuserkampf übten. Spekulanten träumten vom baldigen Abriss und hochsubventionierten Neubau. Wo sie diesen nicht schnell genug genehmigt bekamen, halfen sie auch schon mal mit einem Bautrupp bei der Zerstörung des Hauses nach.
Zwar nicht vom schnellen Geld, aber von der autogerechten Stadt träumten damals sozialdemokratische Stadtplaner. Ihr Ideal war die komplette Trennung von Wohnen und Arbeiten, ihre Traumwelten erbauten sie sich im Märkischen Viertel und in Gropiusstadt. Am Oranienplatz in Kreuzberg sollte ein Autobahnkreuz entstehen. Andere Häuser aus der Gründerzeit, die nicht zum Abriss freigegeben waren, sollten zumindest luxussaniert und die Hinterhöfe sollten entkernt werden.

Nur etwas hatten sie bei ihren Planungen völlig übersehen: Jugendliche aus der westdeutschen Provinz, die keine Lust auf zwei Jahre Bundeswehr hatten und lieber »Bürger der selbständigen politischen Einheit Westberlin« werden wollten. In der Stadt herrschten zwar, falls es mal wirklich hart auf hart gekommen wäre, die drei westlichen alliierten Stadtkommandanten und das Standrecht, doch es gab eine begrenzte bürgerliche Selbstverwaltung, ein Leben ohne Wehrpflicht, acht Prozent Berlin-Zulage auf den Lohn und keine abendliche Sperrstunde in den Kneipen. Eine glückliche Insel mitten im roten Meer.
Deshalb entwickelte Westberlin eine immer größere Ausstrahlung auf jugendliche Aussteiger, und spätestens im Sommer 1980 kam in mehreren Stadtteilen eine interessante Mischung zusammen. Berühmt wurde Kreuzberg, doch ähnliche Konflikte um die städtische Abrisspolitik gab es rund um den Winterfeldtplatz in Schöneberg genauso wie in Charlottenburg südlich des Schlosses. In Kreuzberg hatte in jenen Jahren auch das alteingesessene Bürgertum begonnen, sich gegen die Abrisspolitik und die damit einhergehende Vertreibung zu wehren. Sein bekanntester Exponent ist Werner Orlowsky, Betreiber einer kleinen Drogerie in der Dresdener Straße, dem das vor die Nase gesetzte Neue Kreuzberger Zen­trum die wirtschaftliche Existenz zerstörte. Wenige Jahre später wurde er als Kandidat einer Vorläuferpartei der Grünen Baustadtrat von Kreuzberg. Dazu kam die entstehende Alternativbewegung, die damals mit dem Anspruch antrat, »lieber instandzubesetzen als kaputtzusanieren«. Heute stellt sie die auch bei Wahlen sehr erfolgreiche solide Mehrheit des Kreuzberger Bürgertums.

Im Sommer 1980 begannen nun Punks, Alternative und empörte Bürger, ein leerstehendes Haus nach dem anderen zu besetzen, sei es als Zen­trum für alternatives Leben und Arbeiten wie zum Beispiel in der Cuvrystraße, sei es als ein »Brückenkopf der Weltrevolution« wie die Häuser am Fraenkelufer. Bis zum Herbst wurden rund 20 Häuser besetzt, der Senat schaute zu. Denn einerseits versank die regierende SPD immer mehr in einem Bauskandal rund um den Steglitzer Kreisel, dem so genannten Garski-Skandal, zum anderen waren die Spekulation mit Häusern und die Wohnungsnot in Westberlin offensichtlich. Jeden Samstagabend bildeten sich lange Schlangen vor den Verkaufsstellen, wenn die Sonntagsblätter mit den Wohnungsanzeigen erschienen.
So löste der Versuch des Senats, den Besetzungen »endlich« Einhalt zu gebieten, eine Eskalation aus. Am 12. Dezember 1980 wurde ein weiteres Haus am Fraenkelufer besetzt, die Polizei räumte es, doch alsbald brannten rund um die Admiralbrücke und das Kottbusser Tor die Barrikaden. Innerhalb weniger Stunden flogen Tausende von Pflastersteinen der völlig überraschten Polizei um die Ohren, und am Kottbusser Tor plünderte die Bevölkerung die Supermärkte. In den folgenden Tagen verlagerten sich die Auseinandersetzungen an den Ku’damm. Zweimal gingen dort fast sämtliche Scheiben zu Bruch. Die Bilder von Pflastersteinen in den zertrümmerten Schaufenstern der Edelboutiquen gingen um die Welt.

Politisch hatte die Bewegung der Hausbesetzer erst mal gewonnen. Polizeipräsident Klaus Hübner erklärte, dass »politische Probleme sich nicht polizeilich lösen lassen«. Innerhalb weniger Wochen wurden im gesamten Stadtgebiet rund 200 Häuser besetzt, davon etwa 160 dauerhaft. Manche Häuser waren extrem heruntergekommen. Einige Besetzer zogen in eine leerstehende Villa mit Swimmingpool in der Zehlendorfer Limastraße, nicht weit von der Freien Universität entfernt.
Es war ein kurzer Winter der Anarchie. Die Bewegung der Hausbesetzer spaltete sich bald in die Fraktionen der so genannten Verhandler und der Nichtverhandler. Während die einen auf Miet- bzw. Kaufverträge und eine selbstorganisierte Instandsetzung ihrer Häuser zielten, erklärte der militante Flügel der Bewegung die Häuser für »enteignet« und »basta«. Für sie sollten die Häuser vor allem Ausgangspunkte auf dem Weg zur »sozialen Revolution« sein.
Auch das Berliner Bürgertum konsolidierte sich. Die CDU flog als liberalen Frontmann Richard von Weizsäcker ein, der Spitzenkandidat für die nun anstehenden Neuwahlen wurde. Weizsäcker wurde Bürgermeister und der rechtskonservative Heinrich Lummer sein Innensenator. Zwar schaffte es die Vorläuferpartei der Grünen, die Alternative Liste, ins Abgeordnetenhaus, doch eine deutliche Mehrheit der Westberliner hatte sich für »Sicherheit und Ordnung« entschieden.
Seit dem Sommer 1981 drängten die Sicherheitspolitiker die Hausbesetzerbewegung immer mehr zurück. Die Häuser der lautstärksten Militanten am Fraenkelufer 46 bis 50 wurden mit Hilfe von Panzerspähwagen geräumt, gleichzeitig bekamen andere Häuser konkrete Vertragsangebote, insbesondere in Kreuzberg. Viel wichtiger als die konkreten Eigentumsverhältnisse war die Lage der Häuser. So ließ der Senat im Herbst 1981 fast ein Dutzend besetzte Häuser in Schöneberg räumen, während vor allem im Winter 1982/83 in Kreuzberg monatelang verhandelte Verträge unterschrieben wurden. Rund die Hälfte der besetzten Häuser wurde in eine Vielzahl von Vertragsverhältnissen überführt. Die Abrisspolitik wurde beendet und in die mit Millionenbeträgen subventionierte »behutsame Stadterneuerung« umgewandelt, deren Ergebnis das heutige Kreuzberg ist.
Im Rahmen der Internationalen Bauausstellungen 1984 und 1987 verwirklichten neue Stadtplaner ihre bereits Ende der siebziger Jahre formulierten »Strategien für Kreuzberg« . Rund 7 000 Wohnungen wurden allein in Kreuzberg saniert, in den Bombentrümmer-Landschaften rund um das Axel-Springer-Hochhaus entstanden rund 2 500 neue Wohnungen. Erstmals in der Geschichte der Bauausstellung war das zentrale Anliegen die Erneuerung der Altbaubestände und das Einfügen von Neubauten in den Bestand – also die Reparatur der Stadt. Bis heute gelten diese Leitlinien, und nach dem Mauerfall setzten sie sich auch in Ostberlin durch.
Im Rahmen dieser Neubebauung der alten Blockkanten entstand in den vergangenen Monaten auf dem ehemaligen Todesstreifen an der Grenze zwischen Mitte und Kreuzberg ein Neubau mit Luxus-Lofts nach dem anderen. Gleichzeitig wurde vor zwei Jahren in der nahegelegenen Waldemarstraße die letzte graue Fassade mit Einschusslöchern aus dem Zweiten Weltkrieg neu verputzt und gestrichen.