Die Proteste von Studierenden in Österreich

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Nach der Besetzung des Audimax in Wien hat sich der Protest der Studierenden mit Be­setzungen von Hochschulen in ganz Ös­ter­reich ausgebreitet. Es wird gefeiert, getwittert und gegen die österreichische Bildungspolitik demonstriert.

»Brecht die Macht der Banken und Konzerne«, schallt aus Lautsprechern der trotzkistischen Grup­pe »Revolution«. Um sie herum stehen Tausende Menschen am Wiener Ring. Es ist die größte Demonstration, die in Österreich seit Jahren stattgefunden hat.
Veranstaltet wurde sie am Mittwoch vergangener Woche von Studierenden der Universität Wien, die zu diesem Zeitpunkt bereits sieben Tage lang den größten Hörsaal ihrer Universität, das Audimax, besetzt hatten. Dieser Raum ist seither zum Zentrum eines selbstorganisierten und spontanen Protests gegen die österreichische Bildungspolitik geworden – und längst nicht der einzige Hörsaal in Österreich, der in diesen Tagen nicht für Vorlesungen verwendet wird. Auch in Salzburg, Graz, Innsbruck und Klagenfurt regt sich Protest.
Im Audimax selbst, in den angrenzenden Gängen und in weiteren umfunktionierten Hörsälen drängen sich Studierende aller Wiener Universitä­ten und Studiengänge. Rund um die Uhr wird gefeiert, gearbeitet, diskutiert, gekocht, geschlafen und organisiert. Der zweistöckige Hörsaal dient als Versammlungsort für Plena, Diskussionen und selbstorganisierte Vorlesungen sowie als Konzert­halle. Zusätzlich besetzte Säle um das Audimax herum halten als Presseraum, Sanitätsraum und Volksküche her. Am Eingang wird Bier verkauft, abends werden auf die stuckverzierten Wände des Universitätsgebäudes Visuals projiziert. In den Fluren werben trotzkistische Gruppen mit ihren Ständen, an einem allgemeinen »Infopoint« können sich Interessierte über die aktuellen Entwick­lungen oder den Zeitplan der Arbeitsgruppen informieren.

Eigentlich ging der Protest von der Akademie der Bildenden Künste aus. Dort nahmen bereits am 20. Oktober in Absprache mit Teilen der Universitätsleitung rund 500 Personen an einer Besetzung der Aula teil. Bereits am folgenden Tag wurde die »Bildende« besetzt, die Idee, die Besetzung auf die Universität Wien auszuweiten, wurde dabei nicht ernsthaft verfolgt. Niemand hatte erwartet, dass die Demonstration am folgenden Tag so erfolgreich werden würde. Als die Polizei die Demons­trierenden daran hinderte, bei der Universität auf die Ringstraße in Richtung Wissen­schaftsministerium abzubiegen, beschlossen die Studierenden spontan, ins Audimax auszuweichen. Daraus entstand eine der längsten durchgehenden Besetzungen der Universität Wien.
Inhaltlich bezieht sich der Protest auf einige Kernpunkte, die in der Novelle des österreichischen Universitätsgesetzes enthalten sind: den steigenden Leistungsdruck auf Studierende, die Verschulung und Arbeitsmarktorientierung der Lehrpläne und den sinkenden Stellenwert der inneruniversitären Demokratie. Eine zentrale Forderung, bei der die Demonstrierenden selbst die Rektorate auf ihrer Seite wissen, ist die bessere Finanzierung der Universitäten. Diese liegt seit Jahren sogar unter dem OECD-Durchschnitt. So werden neuerdings Seminare einfach zu teuer und müssen in Vorlesungen für weitaus mehr Studierende umgewandelt werden. Auch gegen die Strategie der Universitäten, den weitgehend freien Hochschulzugang zu untergraben, wird protestiert. Die ersten Prüfungen des Studiums werden dabei so schwer gemacht, dass sie nahezu keiner mehr bestehen kann – wie im Studiengang Biologie der Universität Wien, wo selbst nach mehreren Versuchen nur rund 30 der über 900 Studienanfänger die Aufnahmeprüfungen bestanden.
Wenige Stunden nach Beginn der Besetzung steigt im Universitätsgebäude die wohl größte Par­ty des Abends in Wien. Hunderte übernachten im Hörsaal, die meisten gehen erst gar nicht schla­fen. Auf der Bühne treten spontan Bands auf, in der Aula wird getanzt, in einem kleineren, neu be­setzten Hörsaal wird ein Fußballspiel übertragen. Am nächsten Tag wiederholen sich die Bilder: tags­über Gedrängel rund ums Audimax, Arbeitsgruppen, nachts Party im gesamten Unigelände.
Auch zwei Wochen später finden sich noch protestwillige Studierende. Per Twitter, Facebook und über die Homepage wird weiter erfolgreich mobilisiert. Den Livestream aus dem Audimax ver­folgen auch jetzt noch zwischen 1 000 und 2 000 Personen von zu Hause aus. An Möglichkeiten, sich einzubringen, mangelt es nicht. Über 80 Arbeitsgruppen haben sich mittlerweile gebildet. Alleine die Presse-Arbeitsgruppe umfasst zeitweise vermutlich mehr Mitarbeiter als die Redaktionen des öffentlich-rechtlichen Medienanbieters ORF und berichtet fast durchgehend. Ein umfassendes Rah­menprogramm ist auch im Angebot: vom »Tag der offenen Tür«, der die »Vorurteile der Bevölkerung gegenüber der Besetzung abbauen« soll, bis zum »Bildungsball – Gruseln gegen Bildungspolitik«. Viele Studenten sind begeistert, dass nach wie vor »alle da« sind, sie finden es »echt cool, dass was passiert« und freuen sich, bei »einer richtigen Bewegung dabei zu sein«, sagt eine Soziologiestudentin in einer Plenumspause.

Im Internet kann nahezu jeder Handgriff, jede Be­wegung, jede Äußerung im Rahmen der Proteste verfolgt werden. Der gläserne Mensch ist unter dem Deckmantel der »Transparenz« hier Realität geworden. Kritische Stimmen haben es schwer. So wurde eine Teilnehmerin am Plenum, die darum bat, kurzzeitig die Dokumentation im Internet aus­zusetzen, panisch unterbrochen. »Man kann doch nicht die Außenwelt einfach abschalten«, schrie jemand von der oberen Tribüne des Audimax. Dabei wollte sie lediglich darüber diskutieren, wie man damit umgehen könnte, wenn mas­kierte Personen bei der Halloween-Party unerkannt die Proteste stören würden.
Die Euphorie und die Begeisterung der Besetzer für ihre Bewegung lassen Kritik zum »kleinen Nebenwiderspruch« werden. So verwundert es we­nig, dass bei der Debatte über das Verhältnis zu Burschenschaftern keine große Berührungsängste gezeigt wurden.
Auch sexistische und antisemitische Vorfälle hat es gegeben. Ganz zu Beginn der Besetzung musste die Frauenarbeitsgruppe darum kämpfen, dass Aussprüche wie »Schleich dich, du Hure«, oder »Ihr seid sogar zu schiach, um euch zu miss­brauchen«, nicht geduldet werden. Zu sexuellen Übergriffen im Schlafsaal kam es auch.
Über dem Haupteingang des Audimax hing zwei Tage lang unkommentiert ein selbstgemaltes Plakat mit typischer antisemitischer Bildsprache: Ein dicker Mann, mit Zigarre und Anzug war darauf in der rechten oberen Ecke zu sehen. Unmissverständlich wurde ausgedrückt, dass er die gesamte Gesellschaft in der Hand habe und überhaupt der Grund sei, weswegen es keine »Bildung für eine mündige Gesellschaft« gebe. Zu einer Debatte darüber kam es erst, als ein anderes Plakat darüber geklebt wurde, das fragte: »Wo liegt der Unterschied zu antisemitischer NS-Propaganda?«
Schon seit Beginn der Besetzung versuchen trotz­kistische Gruppen wie Revolutionärsozialistische Organisation, Linkswende, Revolution oder die Sozialistische Linkspartei (SLP) die Proteste für sich zu vereinnahmen. Sie verteilen ihre Zeitungen, bestücken die Wände des Audimax mit Plakaten und werben um neue Mitglieder. Sie sind auch in den Arbeitsgruppen aktiv. »Am An­fang wurden wir von vielen Seiten gebasht«, erklärt eine Aktivistin am Stand der Linkswende. »Aber wir setzen uns durch und lenken die Proteste in gewisse Bahnen«, glaubt sie.
Anders als in Deutschland gab es in Österreich bereits seit fast acht Jahren keine Studentendemonstrationen in dieser Größenordnung mehr. Nicht zu unterschätzen sind daher auch die Medienresonanz und die Wirkung auf die Diskussion über Bildungspolitik in Österreich. Etliche Gruppen haben den Besetzern ihre Unterstützung ausgesprochen – selbst die gewählten Landtage der Bun­desländer Wien und Burgenland erklärten sich solidarisch.
Über die Frage, warum die Proteset der Studierenden gerade jetzt ein solches Ausmaß erreichten, herrscht allerdings keine Einigkeit, weder in den Medien, noch innerhalb der Bewegung. Denn die Studienbedingungen in Österreich sind seit Jahren schlecht. Manche vermuten daher, dass nicht die bildungspolitischen Inhalte den Großteil der Studierenden mobilisieren – sondern die Freude, endlich einmal selbst bei einer »Bewegung« dabei gewesen zu sein.