Über die schwarz-gelbe Sozialpolitik

Kasse nach Klasse

Die schwarz-gelbe Koalition führt fort, was die rot-grüne Koalition begann – den Umbau der Sozialversicherungen zu Gunsten der Unternehmer.

Von einer schwarz-gelben Koalition erwarten Anhänger wie Gegner eine Umverteilung von unten nach oben. Wie diese Umverteilung bei der Steuerpolitik aussehen wird, lässt sich noch nicht genau ausmachen. Die geäußerten Vorstellungen sind zwar noch ziemlich vage, und angesichts der jetzt schon niedrigen Steuereinnahmen könnten die angekündigten Steuersenkungen geringer ausfallen als gewünscht. Bei den verschiedenen Sozialversicherungen ist das Bild dagegen schon deutlicher.
Zur gesetzlichen Krankenversicherung heißt es im Koalitionsvertrag in aller Klarheit: »Weil wir eine weitgehende Entkoppelung der Gesundheitskosten von den Lohnzusatzkosten wollen, bleibt der Arbeitgeberanteil fest.« Man könnte meinen, die »paritätische« Finanzierung, also die Finanzierung der Krankenkassen durch gleich große Beitragsanteile für Unternehmen und Beschäftigte, sei damit am Ende, doch eigentlich gibt es die schon seit Jahren nicht mehr. Von dem in diesem Jahr eingeführten einheitlichen Beitragssatz von 14,9 Prozent des Bruttolohns bezahlen die Unternehmen sieben Prozentpunkte, die Beschäftigten dagegen 7,9. Zusätzlich tragen die Versicherten als Patienten zur Finanzierung der Gesundheitskosten bei: durch die »Praxisgebühr« von zehn Euro, durch die »Zuzahlungen« zu Medikamenten, Behandlungen und Krankenhauskosten. Beträge, die sich bei einem Krankenhausaufenthalt mit anschließenden Rehabilitationsmaßnahmen leicht zu mehreren hundert Euro summieren können. Indem Leistungen wie etwa Zahnersatz von den Krankenkassen nur noch minimal bezuschusst werden, wurden auch diese Kosten den Versicherten aufgebürdet. Dagegen können sie sich zwar durch private Zusatzversicherungen absichern – diese müssen sie dann aber zu 100 Prozent selbst zahlen.
Wird nun der Arbeitgeberanteil zur gesetzlichen Krankenversicherung festgeschrieben, dann heißt das, dass alle künftigen Kostensteigerungen allein von den Versicherten getragen werden müssen. Damit ist aber nicht nur für eine Umverteilung von unten nach oben gesorgt. Gleichzeitig wird ein innerkapitalistischer Widerspruch beseitigt: die enormen Profite der Pharmaindustrie führten über die Erhöhung der Krankenkassenbeiträge zu höheren Kosten bei anderen Unternehmen. Abgesehen von der Pharmaindustrie waren insofern bisher auch Unternehmen an einer Begrenzung der Kosten des Gesundheitswesens und damit auch der Profite der Pharmaindustrie interessiert. Dies wird sich in Zukunft ändern. Denn mit einer Festschreibung des Arbeitgeberanteils müssen schließlich nur noch die Versicherten für die steigenden Profite der Pharmaindustrie zahlen.
Selbstverständlich soll auch der »Wettbewerb« – das Allheilmittel bürgerlicher Politiker – gestärkt werden, aber nicht generell. Apotheker und große Pharmakonzerne sollen vor zu viel Wettbewerb geschützt werden. Explizit heißt es im Koalitionsvertrag, dass man »die Auswüchse des Versandhandels« von Medikamenten bekämpfen wolle. Man will zwar niedrigere Kosten im Gesundheitswesen, aber nicht etwa dadurch, dass sich die Patienten billigere Generika (wirkstoffgleiche Medikamente) aus dem Ausland bestellen, was dann gleichermaßen die Gewinne der großen Pharmakonzerne und der Apotheken schmälern würde.
Ganz allgemein heißt es über die Krankenkassenbeiträge: »Beitrag und Leistung müssen in einem adäquaten Verhältnis stehen.« Das hört sich harmlos an, birgt aber jede Menge Gefahren. Menschen mit höherem Einkommen führen denselben Prozentsatz ihres Gehalts als Beitrag ab, sie zahlen absolut einen höheren Beitrag als Geringverdiener oder mitversicherte Familienangehörige, die überhaupt keine zusätzlichen Beiträge zahlen müssen. Während also die Beitragszahlungen höchst unterschiedlich ausfallen, hat jeder gesetzlich Versicherte Anspruch auf dieselben Leistungen. Nur privat Versicherte haben Anspruch auf höhere Leistungen, dafür zahlen sie prozentual von ihrem (hohen) Einkommen in der Regel weniger als Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen.

Soll die im Koalitionsvertrag geforderte Entsprechung von Beitrag und Leistung tatsächlich realisiert werden, dann gibt es in der gesetzlichen Krankenversicherung nur zwei Möglichkeiten. Entweder bleiben die Beiträge ungleich, und die Leistungen gleichen sich dieser Ungleichheit an; das hieße weniger medizinische Versorgung für Geringverdiener mit niedrigen Beiträgen. Oder die Beitragssätze werden dem einheitlichen Leistungsniveau angeglichen. Womit wir wieder bei der einkommensunabhängigen Kopfpauschale wären, die von der CDU im Wahlkampf 2005 noch offensiv vertreten wurde und die mit dazu beigetragen hat, den schon fast sicheren Wahlsieg von CDU und FDP zu verhindern. Diesmal war im Wahlkampf von dieser Kopfpauschale zwar nicht mehr die Rede, dafür aber bei den Koalitionsverhandlungen. Dass sie im Koalitionsvertrag nicht explizit erwähnt wird, muss kein Erfolg ihrer CDU-internen Gegner sein. Viel wahrscheinlicher ist es, dass vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2010 die dortigen Wähler nicht verunsichert werden sollen, denn mit der CDU-geführten Landesregierung wäre die Mehrheit im Bundesrat gefährdet. Vielleicht wird die Kopf­pauschale im Sommer 2010 durchgesetzt, auch wenn sie dann vermutlich anders heißt.

Auch die paritätische Finanzierung der erst 1995 eingeführten Pflegeversicherung ist schon bisher rein formal. De facto wurde sie von Anfang an komplett von den Lohnabhängigen finanziert. Denn als Ausgleich für den Arbeitergeberbeitrag wurde ein gesetzlicher Feiertag gestrichen, die Beschäftigten arbeiten also bei gleichem Lohn einen Tag länger. Da die Bevölkerung immer älter wird, sind auch bei der Pflegeversicherung erhebliche Kostensteigerungen zu erwarten. Steigende Beiträge können für die Arbeitgeber aber nicht dauernd durch die Streichung von Feiertagen ausgeglichen werden, dieser Trick lässt sich nicht beliebig oft wiederholen. Der Koalitionsvertrag spricht sich deshalb dafür aus, das bisherige Umlageverfahren durch »Kapitaldeckung« – also durch Privatversicherung – zu ergänzen, die aber »verpflichtend« und »individualisiert« sein soll. Mit anderen Worten: Den Lohnabhängigen wird die Pflicht auferlegt, sich eine private Zusatzpflegeversicherung zuzulegen, die sie sich alleine aussuchen dürfen, die sie aber auch allein bezahlen müssen.
Auch bei der Rentenversicherung ist von einer »Stärkung der kapitalgedeckten Altersvorsorge« die Rede. Durch die Veränderungen der Rentenformel werden die künftigen Leistungen abgesenkt, sodass in den kommenden Jahrzehnten die Renten der meisten Beitragszahler nicht mehr viel höher sein werden als die Hartz-IV-Sätze. Die rot-grüne Koalition hat mit der Riester-Rente bereits den Umbau des Rentensystems begonnen: Damit im Interesse der Unternehmen die Beiträge zur gesetzlichen Versicherung stabil bleiben können, sollen sich die Lohnabhängigen zusätzlich privat versichern. Damit können sie ihre späteren Renten erhöhen – sofern die Pensionsfonds beim letzten Aktiencrash nicht gerade pleite gegangen sind. Für die Beiträge zu dieser Privatversicherung müssen die Beschäftigten aber wieder alleine aufkommen.
Für die Arbeitslosenversicherung gibt es noch keine konkreten Pläne: Nachdem die Beiträge noch von der Großen Koalition gesenkt wurden, wird in diesem und im nächsten Jahr ein erhebliches Defizit erwartet. Im laufenden Jahr kann es noch aus den Rücklagen finanziert werden, im kommenden Jahr soll das Defizit durch einen Zuschuss aus dem Bundeshaushalt ausgeglichen werden. Aber spätestens 2012 wird dann entweder eine Beitragserhöhung oder – was wahrscheinlicher ist – eine Leistungskürzung anstehen.

Mit ihren Vorhaben steht die neue Regierung durchaus in Kontinuität sowohl zur Politik der rot-grünen als auch der Großen Koalition. Es geht keineswegs darum, das System der sozialen Sicherung zu zerschlagen, wie von Kritikern zuweilen etwas voreilig behauptet wurde. Die Sozialversicherungen erleichtern zwar das finanzielle Überleben der Lohnabhängigen; sie bieten einen gewissen Schutz vor den ökonomischen Folgen von Arbeitslosigkeit, Krankheit und Altersarmut. Aber deshalb sind sie keineswegs so eindeutige »Errungenschaften der Arbeiterbewegung«, wie mancherorts gerne behauptet wird. Die Sozialversicherungen stoßen zwar immer wieder auf die Kritik der Unternehmerseite, aber einfach deshalb, weil es sich um einen Kostenfaktor handelt. Zumindest in einem entwickelten kapitalistischen Land, das qualifizierte Arbeitskräfte benötigt, ist die Existenz eines Systems der sozialen Sicherung durchaus im langfristigen Interesse des Kapitals.
Im Laufe der konjunkturellen Entwicklung ist der Arbeitskräftebedarf der Unternehmen schwankend. Durch eine Arbeitslosen- und eine Krankenversicherung wird dafür gesorgt, dass die arbeitslose oder kranke Arbeitskraft nicht einfach vor die Hunde geht, sondern dass sie erhalten bleibt und dem Kapital auch weiterhin zur Verfügung steht. Insofern ist die in den Sozialwissenschaften verbreitete Rede von einer insbesondere mit der Arbeitslosenversicherung verbundenen »Dekommodifizierung der Arbeitskraft« – also der Verringerung des Warencharakters der Arbeitskraft – irreführend. Durch Arbeitslosenunterstützung kommt der Arbeitskraft ihr Warencharakter genauso wenig abhanden wie der Limonade, die der Kioskbetreiber über Nacht in den Kühlschrank stellt. Im Gegenteil, beide sollen ihren Gebrauchswert behalten, damit sie auch morgen noch als Ware verkauft werden können. Daher ist die Zahlung von Arbeitslosengeld auch daran geknüpft, dass die arbeitslose Person weiterhin »dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht« und sich aktiv um eine neue Beschäftigung bemüht. Passivität wird mit Kürzung der Zahlungen bestraft. Durchaus nützlich für das Kapital ist auch die Rentenversicherung. Da die Rente von der Dauer der Lohnarbeit abhängt, ist der disziplinierende Effekt der Rentenversicherung nicht zu unterschätzen. Eine mehrjährige Arbeitslosigkeit bedeutet eben auch eine empfindliche Einbuße bei der Rente.

Auch wenn das Sozialversicherungssystem durchaus Vorteile für das Kapital mit sich bringt, ist damit seine finanzielle Organisation noch längst nicht festgelegt. Die paritätische Finanzierung geriet nicht zufällig seit den neunziger Jahren verstärkt in die Kritik von Arbeitgeberverbänden und neoliberalen Ökonomen. Durch die Massenarbeitslosigkeit waren die Gewerkschaften so ge­schwächt, dass sie in vielen Lohnrunden nicht einmal einen Inflationsausgleich durchsetzen konnten, die Reallöhne stagnierten oder sanken. Die Gewerkschaften konnten aber noch so schwach sein, dies änderte nichts daran, dass Krankenkassen und Rentenversicherung ihre Beitragssätze erhöhten, wenn ihre Ausgaben stiegen, und an diesen Kosten war die Unternehmensseite automatisch beteiligt. Daher das Gejammer über die hohen »Lohnnebenkosten«. Also wird seit der Zeit der rot-grünen Regierung verstärkt am Umbau des Sozialversicherungssystems gearbeitet: Einerseits wird die paritätische Finanzierung an immer mehr Stellen zugunsten der Kapitalseite aufgebrochen, andererseits werden die Leistungen der Pflichtversicherungen eingeschränkt, um die Gesamtbeiträge stabil zu halten. Angela Merkel und Guido Westerwelle stehen da durchaus in der Tradition von Gerhard Schröder und Franz Müntefering.
Für die Versicherten heißt dies, dass sie einen immer größeren Anteil der Kosten für die Pflichtversicherungen zu tragen haben, aber immer weniger Leistungen bekommen, sodass sie auf private Zusatzversicherungen angewiesen sind. De facto läuft diese Politik auf eine erhebliche Senkung der tatsächlich zur Verfügung stehenden Löhne (Bruttolohn minus Steuern und Versicherungsabgaben) hinaus, bei gleichzeitiger Steigerung der Gewinne für die Unternehmen, wobei diese Steigerung noch zusätzlich durch eine immer weitere Senkung der Unternehmenssteuern verstärkt wird. In Abwandlung der CSU-Wahlkampfphrase »Mehr Netto vom Brutto« könnte man hier sagen: weniger Netto vom Brutto für die Lohnabhängigen – mehr Brutto und noch mehr Netto für die Unternehmen.
Aber das ist noch längst nicht alles: Die immer wichtiger werdenden privaten Zusatzversicherungen für Pflege, Gesundheit und Altersrente haben bereits in der Vergangenheit einen riesigen Markt eröffnet, der auch in Zukunft noch weiter wachsen wird und eine profitträchtige Sphäre der Akkumulation darstellt. Diese »moderne Sozialpolitik« verspricht in der Tat goldene Zeiten, zumindest für die Versicherungsbranche. Und auch der Finanzmarktkapitalismus ist noch lange nicht am Ende, denn in irgendwelchen Wertpapieren müssen die vielen Beiträge der Versicherten ja auch angelegt werden – bis sie dann beim nächsten Crash wieder entwertet werden.