Über Obdachlose in Los Angeles

Leben an der Skid Row

Seit Beginn der Wirtschaftskrise hat in Los Angeles die Obdachlosigkeit stark zugenommen. Die Mieten sinken, trotzdem leben hier 43 000 Menschen auf Bürgersteigen, unter Autobahnbrücken und in Zeltstädten, die regelmäßig geräumt werden. Eine Reportage über das Amerika von Downtown Los Angeles.

»Die andere Hälfte«, so nannte der Fotojournalist Jacob Riis die Slumbewohner New Yorks, deren Leben er in seinem Buch »How the Other Half Li­ves« dokumentierte. Es waren trostlose Umstände, die er beschrieb, Tausende von Menschen, die unter unwürdigen Bedingungen ihre Existenz fristeten. Sein Buch ist fast 120 Jahre alt. Auch heu­te leidet in den USA eine große Anzahl von Menschen existenzielle Not. Die US-amerikanische Wirt­schaft ist für viele ein Spiel ohne Regeln. Armut kann jeden treffen, während eine immer kleiner werdende Mittelschicht die Schuld an der Armut den Armen zuweist: Die anderen sind arm, weil sie etwas falsch gemacht haben. Weil sie eben »anders« sind. In Los Angeles liegt die Obdachlosigkeit nach Angaben der Los Angeles Homeless Services Authority (Lahsa) weit über dem Landesdurchschnitt. Das mag unter anderem daran liegen, dass hier eine hohe Anzahl illegaler Einwanderer lebt. Trotzdem behauptet Lahsa, der Prozentsatz der Obdachlosen sei in den vergangenen zwei Jahren um 38 Prozent gesunken. Die Hilfswerke in der kalifornischen Hauptstadt können diese Zahl allerdings nicht bestätigen, ganz im Gegenteil. Gregory Scott, Leiter des Hilfswerks Weingart Center Association, sprach noch im Früh­jahr 2009 von einem Anstieg. Wie erklärt sich die­ser Widerspruch? Eine überzeugende Antwort hat offenbar niemand. Im Zuge der Wirtschaftskrise sinken zwar die Mieten ein wenig, aber gleich­zei­tig werden Arbeitsplätze abgebaut. Manche der Arbeitslosen landen erst viele Monate später, wenn sie keine Anstellung mehr finden, auf der Straße. Es wird davon ausgegangen, dass die Zahl der Ob­dachlosen in Zukunft wieder steigen wird.

Auf der so genannten Skid Row in Downtown Los Angeles leben 8000 Menschen auf engstem Raum auf der Straße. Das riesige Slumgebiet tut sich nur wenige Kilometer von den gläsernen Hoch­häusern entfernt auf. Die Skid Row ist eine trostlose Betonwüste aus verfallenen Wohnsilos und Fabrikhallen. Hier befinden sich Notunter­künf­te, Hilfswerke und reihenweise billige Männerpensionen. Auf den Straßen liegt Müll. Vorbeifahrende Autos werden mit Steinen beworfen. An den Häuserecken stehen Dixi-Klos. Hunderte von Menschen sitzen auf den Bordsteinkanten, lesen Zeitung, trinken, reden, warten, schlafen oder stehen in der Schlange vor einer der vielen Suppenküchen. Die Bürgersteige sind voll mit Pappkartons, Einkaufswagen und Zelten. Bei Nacht verwandelt sich die Gegend in eine Zeltstadt, ein Schlafzimmer unter freiem Himmel, mit Gezanke, Getobe, Geschrei, Gemurmel, mit Musik und dem Stöhnen von Liebespaaren. Der Lärm hallt in den Straßenschluchten wider.
Einer von denen, die auf der Straße wohnen, ist Tony, ein etwa 50jähriger Ex-Häftling und Drogendealer, der nach 13 Monaten aus dem Gefängnis entlassen wurde. Seinen Nachnamen will er nicht nennen. Er sei gelernter Betriebswirt, behauptet er, und er glaubt an die Verheißungen der freien Marktwirtschaft: »Auch Dealer erfüllen einen Bedarf«, sagt er. Er sieht sich als Opfer amtlicher Regulierungswut, kann nicht verstehen, was er eigentlich falsch gemacht haben soll. Die Straße ist sein Zuhause. Seinen Quadratmeter hat er sorgfältig unterteilt. »Sie sitzen gerade in mei­nem Esszimmer«, sagt er und pickt sich Ameisen von der Haut. Auch eine ziemlich große Ratte kriecht gemächlich durch sein Esszimmer.
»Die Immobilienkrise der vergangenen zwei Jah­re hat die Situation sicherlich verschlimmert«, erklärt Susan Maddela, die sich um die Öffentlich­keitsarbeit des Obdachlosenheims Good Shepard in Los Angeles kümmert. Es gibt viele solcher Hei­me und Missionen in Downtown. Auch ein kostenloses Krankenhaus, das Weingart Center, gibt es seit einigen Wochen. »Viele Menschen, die noch vor wenigen Jahren ein Eigenheim besaßen, sitzen jetzt im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße«, sagt Susan Maddela. »Man macht sich keine Vorstellung davon, wie schnell es einen erwischen kann.« Das katholische Hilfswerk Good Shepard bietet Notunterkünfte, Mahlzeiten und vorübergehende Wohnräume für Frauen und Kin­der. Ein Drittel aller Obdachlosen sind Frauen. Gegründet wurde Good Shepard 1984 von der Diözese Los Angeles. Denn gerade in den achtziger Jahren nahm die Obdachlosigkeit in Amerika dras­tisch zu. Damals wurde der Bundeshaushalt vom Kongress stark gekürzt. Von den Kürzungen betroffen waren Sozialwohnungen, so dass Menschen mit geringem Einkommen oft kein Dach mehr über dem Kopf hatten. Zudem wurden die Etats für psychiatrische Anstalten gekürzt und viele Patienten vor die Tür gesetzt. Noch heute sieht man in amerikanischen Städten eine verblüf­fende Anzahl psychisch kranker Menschen auf den Straßen. »Das ist einer der Hauptgründe für Obdachlosigkeit«, erklärt Susan Maddela. »Mir hat mal jemand gesagt: ›Wenn man nicht vorher schon verrückt ist, dann wird man es auf der Straße.‹«
Erst 1987 unterschrieb der damalige US-Präsident Ronald Reagan den so genannten McKinney-Vento Homeless Assistance Act, das bislang einzige Gesetz auf Bundesebene, das sich konkret mit Obdachlosigkeit befasst. Seit den neunziger Jahren werden in größerem Rahmen Obdachlosenheime, Suppenküchen und andere Hilfsleistungen angeboten. Doch die grundsätzlichen Probleme geht man erst in jüngster Zeit an. Das so genannte Council on Homelessness (ICH), eine Bundesagentur, die unter dem McKinney-Vento Act entstanden ist, beschäftigt sich zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte systematisch mit der Obdachlosigkeit. Dabei sollen örtliche Behörden, Bundesämter, NGO, Leistungsanbieter und Kirchen konzentriert zusammenarbeiten.

Obdachlosigkeit sei ein Syndrom, weise auf Lücken in der Infrastruktur und Mängel im sozialen Netz hin, sagt Susan Maddela. Einen der Haupt­gründe, warum Menschen ihr Haus oder ihre Wohnung verlieren, sieht sie im amerikanischen Gesundheitswesen. »Wer krank ist, kann sehr schnell entlassen werden. Viele Menschen haben keine Krankenversicherung, oder ihre Versicherung ist nicht ausreichend. Wenn das Gesparte aufgebraucht ist, landen sie auf der Straße. Und das Ge­sparte ist oft sehr schnell aufgebraucht.« Aber kann Obdachlosigkeit überwunden werden? Susan Maddela schüttelt nachdenklich den Kopf. »Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Realistisch gesehen glaube ich es kaum.«
Dabei hätte in diesem Jahr alles besser werden sollen. Vor einem Jahr gewann Barack Obama die Wahl zum Präsidenten. Er versprach tiefgreifende Änderungen. »Ich will, dass sich die Einstellung in Washington und im ganzen Land ändert«, sagte der Präsident auf einer Pressekonferenz im März. »Es ist nicht zu akzeptieren, dass Kinder und Familien in einem so reichen Land wie diesem ohne ein Dach über dem Kopf aufwachsen.« Bei seiner Amtseinführung am 20. Januar in Washing­ton war die neue Stimmung bei den Hunderttausenden von Menschen, die sich auf dem Rasen vor dem Kapitol versammelt hatten, stark spürbar.
Im Marriott-Hotel an der Pennsylvania Avenue in Washington, wo die Parade zur Amtseinführung entlangzog, fand auch ein Ball der Obdachlosen statt. Zehn Frauen aus dem Obachlosenheim N Street Village trugen teure Ballkleider und tanzten bis in die Nacht. Nur wenige hundert Meter vom Kapitol entfernt stand an diesem Abend Charles Carson, ein älterer Obdachloser aus New Orleans, der an einer eiskalten Straßenecke in Washington die Obdachlosenzeitung Street Sense verkaufte. Er war nicht unter den Feiernden. Er gehörte zu denen, die Obama in seinen Reden ger­ne erwähnte, doch seine Meinung zum neuen Präsidenten war alles andere als positiv. Er misstraute den Demokraten und befürchtete, die neue Regierung könne ihm seine Rechte wegnehmen. Er sei zwar obdachlos, so meinte er, aber er sei ein freier Bürger und kein Untertan. Er erzählte, wie er nach Washington kam. 2005 überlebte er den Hurrikan Katrina. Zusammen mit anderen hatte er sich in den zweiten Stock eines Wohnhauses im Ninth Ward zurückgezogen, knapp über der Wasserlinie. Immer mehr Menschen kamen dazu. Doch Rettung kam keine, tagelang nicht. Schließlich bot Carson sich an, nach Hilfe zu suchen. Man schrieb einen Zettel mit der Adresse und den Namen der Überlebenden und klebte ihn Carson mit mehreren Schichten durchsichtigen Packbands auf den Arm. Sollte er ertrinken, würden diejenigen, die seine Leiche finden, vielleicht die anderen retten. Ertrunken ist er nicht, aber fast wäre er erschossen worden, von Plünderern, die die Rettungsboote ausrauben wollten. Deshalb ist für ihn das Recht auf Waffenbesitz so wesentlich: damit er zurückschießen kann.
Ein Jahr nach der Wahl Obamas hat sich noch nichts merklich verbessert. Die Arbeitslosenzahl liegt dem Bureau of Labor Statistics zufolge bei fast zehn Prozent, wobei die Dunkelziffer womöglich noch viel höher ist. Zwar finden sich im »Konjunk­turpaket« der Obama-Regierung positive Ansätze zum sozialen Wohnungsbau, aber die NGO und Hilfswerke bekommen kein zusätzliches Geld. Die Wirtschaftskrise fordert noch immer Opfer.
Eines von ihnen ist Matt Houtshens. Er sieht nicht aus wie andere Obdachlose in Los Angeles. Er ist jung, gepflegt und weiß. Gerade mal 24 Jahre alt ist er. 2007 ist seine Mutter an Nierenkrebs gestorben. Geerbt hat er fast nur Schulden. Das wenige, was übrig war, nahm ihm sein Stiefvater weg. Jetzt sitzt er auf der Straße. Um einen Platz in einem Heim zu bekommen, muss er sich um sechs Uhr morgens in die Schlange stellen. Meistens ist es dann schon zu spät. Deswegen schläft er lieber unter der Freeway. Alles, was er be­sitzt, passt in zwei Koffer. Jeden Tag fährt er mit dem Bus stundenlang ins San Fernando Valley, wo er in einem Callcenter arbeitet: Telefonmarketing auf Kommissionsbasis. An machen Tagen verdient er nur fünf Dollar.
Menschen wie Matt Houtshens werden im Zuge zunehmender Gentrifizierung fast überall von der Polizei vertrieben. Sie können nirgendwohin. Also tauschen sie ihre Erfahrungen und Tipps in Internetforen wie forums.homeless.org.au aus. Das Internet hat im vergangenen Jahr zu einem enormen Wachstum der Zeltstädte beigetragen. In den Foren konnten obdachlose Familien im ganzen Land nachlesen, wo sie willkommen waren und wo nicht. Vor manchen Zeltstädten wurde sogar gewarnt, wie zum Beispiel dem Re­demp­tion Village in der Nähe von Seattle, einem Camp christlicher Missionare. Viele Zeltstädte wurden mittlerweile offiziell geschlossen, so auch die Zeltstadt in Ontario in Südkalifornien, die 2008 binnen weniger Monate von 20 Einwohnern auf 400 angewachsen war. Schließlich wurde es den Behörden zu viel. Im März und April verteilte die Polizei verschiedenfarbige Armbänder: Wer ein blau­es Armband hatte, war als Bewohner von Ontario anerkannt und durfte bleiben, wer ein wei­ßes hatte, musste weg. Doch viele Obdachlose haben keine Papiere, sind nirgendwo gemeldet und tauchen in keiner Statistik auf. Sie sind macht­los gegenüber der Polizei und den Behörden.
Auch Krankenhäuser brachten bis vor kurzem noch unerwünschte Patienten einfach mit dem Krankenwagen zur Skid Row, um sie dort abzuladen – eine Gepflogenheit, die lange Zeit so weit verbreitet war, dass sie sogar eine eigene Bezeichnung hatte: dumping, also »wegwerfen«. Nach Medienberichten hat die Polizei von Los Angeles 2006 mindestens fünf solcher Fälle bekannt gemacht. Jetzt soll Schluss damit sein. Wenn man nun einen Krankenwagen sieht, dann ist er hier, um Leute abzuholen, und nicht, um welche abzuladen. Ständig liegen leblos aussehende Menschen auf den Straßen – Betrunkene oder Süchtige. Aber auch Verletzte. Denn Obdachlose werden im­mer häufiger Opfer von Gewalt. Nach Angaben des National Law Center on Homelessness & Poverty sind Angriffe auf Obdachlose zwischen 2006 und 2008 um 65 Prozent gestiegen.
Aber auch der umgekehrte Fall gehört zur Wirk­lichkeit. Im Sommer hat Charles Samuel, ein 50jähriger, psychisch gestörter Obdachloser ein 17jähriges Mädchen, Lily Burk, überfallen und ihr die Kehle durchgeschnitten. Er wurde kurz da­rauf mit einem Bier in der Hand verhaftet. Der Fall sorgte in Los Angeles für großes Aufsehen.

Die meisten Opfer von Gewalt sind Frauen. Übrigens bleibe »häusliche Gewalt der häufigste Grund für Obdachlosigkeit unter Frauen«, meint Susan Maddela. »Viele müssen vor ihren Lebensgefährten oder Ehemännern fliehen. Aber sie können nirgendwo hin und enden auf der Straße.« Bei Good Shepard melden sich jährlich zwischen 700 und 1 000 Frauen, die Hilfe brauchen. »Im Dezember 2008 hatten wir 71 Prozent mehr obdachlose Frauen als im Jahr zuvor bei uns. Insgesamt ist die Zahl der obdachlosen Frauen in Los Angeles um 18 Prozent gestiegen«, sagt Maddela.
Eine von ihnen ist eine junge Afroamerikanerin, die nach Jahren der Obdachlosigkeit nun am Empfang eines Heims arbeitet. Sie nennt sich einfach nur Princess. Als sie 18 Jahre alt war, wurde sie von ihrer Mutter, die einen neuen Freund hatte, einfach auf die Straße gesetzt. Über ein Jahr lang war sie obdachlos. Zwischendurch zog sie bei Freunden ein, doch am Ende war sie immer wieder auf sich allein gestellt. Monatelang lag sie apathisch auf dem Bürgersteig, immer an derselben Ecke. »Die Geschäftsfrauen in ihren hochhackigen Schuhen sind an mir vorbeigestakst, ohne mich anzusehen«, sagt sie. »Einmal habe ich in einem Stehcafé einen Kaffee bestellt, den ich nicht bezahlen konnte. Er sollte nur einen Dollar und fünfzig Cent kosten, aber nicht einmal das hatte ich. Der Besitzer hat mir Tränengas ins Gesicht gesprüht, so lange, bis ich zusammenbrach und reglos auf dem Boden lag.« Kurz darauf hat sie versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Gerettet wurde sie von der Polizei, die sie in die Notaufnahme brachte. Sie bekam Medikamente und psychische Betreuung. Heute ist sie ihrem Traum ganz nahe: Sie macht eine Ausbildung zur Kosmetikerin. Obdachlos ist sie nicht mehr. Sie kann sich eine kleine Wohnung leisten, an genau der Ecke, wo sie früher auf dem Bürgersteig gelebt hat. Eine der Geschäftsfrauen, die immer an ihr vorbeikamen, hat sie neulich erst erkannt. »Sie konnte es nicht fassen«, sagt Princess. »›Sie kenne ich doch‹, hat sie gesagt. Sie hat sich für mich gefreut.«
Es sind durchaus nicht alle Schicksale so wie dieses. Für einige ist die Obdachlosigkeit die Erfüllung des amerikanischen Traums, der Inbegriff von Freiheit. So zum Beispiel Avigdor, ein 62jäh­riger Einwanderer aus Lateinamerika. Er ist stolz darauf, obdachlos zu sein. Er will weder seinen vollen Namen nennen noch fotografiert werden. Jahrzehntelang hat er sich mit allen möglichen Jobs über Wasser gehalten. Irgendwann hatte er die Nase voll. Jetzt lebt er am Strand von Santa Monica. Er wäscht sich jeden Morgen in den öffentlichen Toiletten. Wann er das letzte Mal geduscht hat, weiß er nicht mehr. Seine Kleider hat er seit zwei Jahren nicht mehr gewechselt. Er trägt einen schwarzen Pulli und ist in schwar­ze Müllsäcke gehüllt. »Falls es regnet«, sagt er. Außerdem findet er, dass die Müllsäcke farblich perfekt zu seinem Pulli passen. Von Obdachlosenheimen will er nichts wissen. »Meine Heime sind Parkhäuser. Dort schlafe ich, wenn es regnet.« Dennoch hält er sich nicht für arm, ganz im Gegenteil. »Warum?« fragt er. »Ich lebe am Strand. Es gibt viele, die das wollen. Ich sehe immer Menschen an mir vorbeilaufen, die eine Rolex am Arm tragen. Ich brauche so was nicht. Ich habe einen klaren Verstand, ich weiß, was wichtig ist und was nicht. Meine Rolex ist mein Verstand.« Und abschließend meint er: »Im Grunde bin ich reich.«