Über die Relevanzdebatte bei Wikipedia

Die Unordnung der Dinge

In der Relevanzdebatte um Wikipedia wird übersehen, dass sich Relevanz nur gesellschaftlich wie historisch bestimmen ließe. Im Web 2.0 wird derweil das Sinnlose immer relevanter.

Das letzte Wort in der Debatte um Relevanzkriterien, wie sie derzeit in der so genannten Wikipedia-Gemeinde – zu allem Überfluss auch noch der deutschen – geführt wird, ist eigentlich längst gesprochen worden: Jemand hat den Eintrag »Bedeutsamkeit« zur Löschung vorgeschlagen.
Auf diesen Eintrag stößt, wer auf der Seite »Wikipedia: Relevanzkriterien« dem Link zu »Relevanz« folgt. Und auch das ist ein Hinweis auf die letztlich doch abstruse Quintessenz der Diskussion: Zu den Relevanzkriterien gibt es keinen allgemeinen Wikipedia-Eintrag, sondern nur einen im Bereich »Richtlinien«, zu dem man über das »Autorenportal« gelangt. Bemerkenswert an der Auseinandersetzung ist zudem, dass über »Kriterien« gestritten wird, nicht über das »Wissen« und eigentlich auch nicht über die Bedeutung, oder, wie man hier im ontologisierenden Jargon sagt, Bedeutsamkeit des Wissens. Damit bleibt die gesamte Debatte durch eine Art hermeneutischen Zirkel begrenzt, in dem alle eingeschlossen sind, deren Welt ohnehin schon durch die Ideologie des Web 2.0 definiert ist.

Und das verweist nicht nur auf das Niveau der Debatte, sondern auch auf das wirkliche Problem, nämlich die Frage: Wer entscheidet über welches Wissen? Und die Frage ist nur emphatisch als gesellschaftliche Frage ernst zu nehmen – nicht aber in der Form, wie sie in der deutschen Web-2.0-User-Community kursiert. Denn dort versucht man, sie pseudokonkret und pseudoabstrakt zu beantworten. Pseudokonkret fing alles an mit einzelnen Einträgen – etwa zu irgendwelchen Hunden (mit Hitlers Blondi als relevantem Schäferhund). Pseudokonkret beschwerte man sich über Einzelne, die sich anmaßen würden, darüber entscheiden zu dürfen, was in die Wikipedia hineinkommt und was nicht. Von »Lösch-Nazis« ist die Rede; und einer wollte »Wikiprawda« als ironisches Schmähwort eintragen.
Daraufhin wird nun seit einigen Wochen pseudoabstrakt versucht, die Angelegenheit eben über »Kriterien« zu klären, wobei die Diskussion über die Kriterien weitgehend der Wikipedia-Privatlogik folgt: Jeder darf irgendwie mitmachen und seinen Senf auf dem »Ich-finde-aber«-Niveau dazugeben. Diskutiert wird über die Relevanzkriterien als internes Problem von Wikipedia, bei dem man hofft, es auch intern lösen zu können. Am besten demokratisch, was im Internet, vor allem in der deutschen Netz-Gemeinde, kaum eine politische, das heißt wirklich gesellschaftliche Frage ist, sondern eine technische.
Es verwundert übrigens nicht, worauf auch in der Debatte gelegentlich verwiesen wird, dass a) die englischsprachigen Wikipedia-Einträge allgemein von wesentlich besserer Qualität sind und dass b) die Diskussion um Relevanzkriterien weitgehend auf die deutschsprachige Wikipedia-Gemeinde beschränkt bleibt. Deutsch ist die Debatte da, wo das Web 2.0 zum Existenzial wird und man Innerlichkeit technisch begründen möchte, wo Gemeinschaft gegen Gesellschaft verteidigt wird beziehungsweise das globale Dorf gegen die reale Weltgesellschaft.
Auch die eher klügeren Vorschläge in der Diskussion haben eine deutsche Tradition, wenn auch wenigstens eine liberal-sozialdemokratische: Quasi an Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns orientiert, versucht man, Geltungsansprüche einzulösen (Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Richtigkeit), um so eine digitale Variante der idealen Sprechsituation oder gar der idealen Kommunikationsgemeinschaft zu gewährleisten. Und wie bei Habermas, wenn auch freilich nicht in derselben argumentativen Dichte, verdreht sich die Diskussion ins Moralische, wird zur Suche nach netzkompatibler Konsens- und Diskursethik.
Als merkwürdiges Schlagwort in der Relevanzkriterien-Debatte taucht dabei »Löschen« auf, was nicht nur dem rein technischen Verfahren geschuldet sein dürfte. Löschen wird gerade dann, wenn das Internet, das Web 2.0, die Wikipedia-Struktur existenzialontologisch verbrämt wird, zum schlimmsten, gewalttätigsten Eingriff in die virtuelle Realität. Als wenn über die Einträge in Wikipedia Wissen überhaupt erst erzeugt würde, und vor allem als wenn durch eine Eintragslöschung Wissen auf ewig verschwinden würde. Gerade weil aber das Wissen selbst gar nicht als Problem zur Disposition steht, erscheint die Debatte um die Relevanzkriterien immer irrelevanter.

Dass es dabei um Relevanz-Kriterien geht, verweist einmal mehr auf ein grundsätzliches Problem. »Relevanz« und das ältere Adjektiv »relevant« kommen vom Lateinischen »re-levare«, wörtlich »in die Höhe heben«; gemeint sind beweiskräftige Argumente im Rechtsstreit – das In-die-Höhe-Heben folgt dem Bild der juristischen Waagschalen. Das etymologische Lexikon verweist auf »Relief« mit derselben Wortherkunft; das Internet ist aber kein Relief. In der nivellierten Ordnung der digitalen Informationstechnologie gibt es diese Art der Höhenunterschiede gar nicht: Es hat keinen Sinn, Hitlers Blondi mit irgendeinem Waldi oder Bello zu vergleichen oder Goethes Pudel mit Moshammers Daisy. Die Relevanz der einen Sache verweist immer auf eine Relevanzschwächung der anderen Sache; alleine, weil es sich bei der Relevanz um Bedeutung im Sinne der Bewertung handelt und also um einen bewertbaren Vergleich.
Dieser Vergleich beziehungsweise die Vergleichsmöglichkeit fehlt aber grundsätzlich der Struktur, die das Internet bietet, in welcher Web-Version auch immer. Alle Relevanz ist ein gesellschaftliches Verhältnis und nur als solches zu bestimmen. Mehr noch: Was in der gesamten Debatte aufscheint und vielleicht auch gerade an den Beispiel-Einträgen, an denen sich die Diskussion entzündete, deutlich wird, ist eben nicht die Bedeutung des durch Wikipedia-Einträge verbreiteten Wissens, sondern die tendenzielle Bedeutungslosigkeit digitaler Informationen und damit die fortschreitende Absurdität des Wissens.

Das hat bereits vor 30 Jahren der französische Philosoph Jean-François Lyotard antizipiert. 1979, also in derselben Zeit, in der Habermas seine »Theorie des kommunikativen Handels« als seinen Beitrag zur Fortsetzung des unvollendeten Projekts der Moderne präsentierte, veröffentlichte Lyotard eine kleine Schrift mit dem Titel »La condition postmoderne« (zu deutsch »Das postmoderne Wissen«), die schließlich deshalb berühmt und berüchtigt wurde, weil hier erstmals philosophisch allgemein und bündig von der Postmoderne die Rede war, und zwar in Hinblick auf das sprichwörtlich gewordene Ende der Großen Erzählungen. Eine solche Große Erzählung oder Metageschichte ist die Moderne selber – in ihrer wissenschaftlichen Selbstrepräsentation, kurzum: in der Struktur ihres Wissens und der Wissensordnung.
Lyotard hat sein Büchlein als Auftragsarbeit für das Bildungsministerium der kanadischen Regierung verfasst, welche die Frage geklärt haben wollte, wie sich angesichts der Entwicklungen der Computertechnologie Lern- und Bildungsprozesse verändern werden. Obwohl Lyotards Antworten auf diese Frage heute mehr als selbstverständlich erscheinen, haben sie dennoch an Brisanz – oder sagen wir Relevanz – nichts eingebüßt: Es wird sich durch die Mikroelektronik eine völlig neue Struktur des Wissens ergeben; Wissen wird nicht mehr hierarchisch organisiert sein, und es wird in Zukunft, so Lyotard 1979, um Informationszugang und Entscheidungsvermögen gehen, um auf diese neue Wissensstruktur angemessen reagieren zu können. Keineswegs nebensächlich für Lyotards Befund ist die Tatsache, dass zur damaligen Zeit sich die Entwicklung des so genannten Personal Computers gerade erst in den ersten Anfängen befand und selbst IT-Experten noch davon ausgingen, dass es längerfristig weltweit höchstens sechs Großrechner geben würde.

Was Lyotard damals fast beiläufig bemerkte, verweist nicht nur auf die Struktur des Wissens, sondern schließlich auf die Bedeutung und den Begriff des Wissens selbst. Es ist ein altes Pro­blem, das schon zu Beginn der Neuzeit äußerst virulent war. Wenn man von den argumentativen Niveauunterschieden absieht, lässt sich sagen, dass das, was derzeit mit dem Stichwort der Relevanzkriterien diskutiert wird, nichts anderes ist als der wegweisende Entwurf einer »Großen Didaktik«, die Johann Amos Comenius um 1630 vorlegte, die er selbst noch durch seinen Bildatlas »Orbis sensualium pictus« 1658 ergänzte. Hiermit entwickelte sich, was Michel Foucault für den Zeitraum des 17. und 18. Jahrhunderts als »Die Ordnung der Dinge« beschrieben hat: eine neue Ordnung des Wissens, die, so Foucault, Ähnlichkeiten zwischen den Dingen entdeckt und sie danach sortiert und systematisiert, wodurch schließlich ein epistemisches Modell entsteht, das noch heute die Grundlage unseres Wissenschaftsverständnisses darstellt.
Es ist eine Ordnung des Wissens, die sich im Selbstverständnis des Zeitalters der Aufklärung wiederfindet und grundlegend für die so genannten Enzyklopädisten wird. So nannten sich die Autoren der 35-bändigen »Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers«, erschienen zwischen 1751 und 1780. Das Schema ist wegweisend für jedes Universallexikon und jeden Weltatlas; »Zyklus«, also »Kreis«, »Kreislauf« etc., steckt in dem Wort »Enzyklopädie«. Die Idee ist, dass das Wissen der Welt und damit die Welt selbst als hermetisch abgeschlossenes System, als Einheit und Ganzes dargestellt werden kann. Das konvergiert mit dem Begriff der objektiven Wahrheit, wie er gleichsam für die Moderne grundlegend wurde. Wikipedia repräsentiert eine gegenteilige Wissensstruktur. Insofern ist es Unsinn, wenn sich Wikipedia im Untertitel eine »freie Enzyklopädie« nennt – denn die Struktur des Wikipedia-Wissens ist nicht nur offen (also keineswegs enzyklopädisch), sondern zudem auch unfrei in der Weise, dass sich Freiheit immer nur auf Ordnung beziehen kann, Wikipedia allerdings eine Unordnung des Wissens präsentiert.
Die scheinbare Systematik der Inhalte von Wikipedia, nach der dann bestenfalls irgendwelche Relevanzkriterien bestimmt werden, folgt objektiv allein der technischen Apparatur; die Inhalte selbst sind durch keine Logik verbunden und deshalb auch durch keine Logik systematisierbar. Es ist, übertrieben gesagt, als würde Hegels philosophischer Idealismus rückwärts gewendet. Während Hegels System aus der systematischen Logik heraus im absoluten Wissen im vollends begriffenen Selbstbewusstsein kulminiert, ist das Wissen bei Wikipedia immer schon als absolut vorausgesetzt, ebenso wie das Selbstbewusstsein der Wikipedia-Autoren immer schon als begriffen unterstellt wird.

In einer Enzyklopädie ergibt sich die Relevanz eines Eintrags aus der logischen Konsistenz, mit der der behandelte Gegenstand mit der Welt verbunden ist; die Ähnlichkeit zwischen den Dingen verweist auf die Logik der Identität. Solche Identität lässt sich aber allein aus den Dingen nicht ableiten, zumal wenn die Dinge selbst ohne ihr soziales Verhältnis bedeutungslos bleiben; deshalb kann die Relevanz über irgendwelche Einträge bei Wikipedia schließlich nicht durch wie auch immer definierte Kriterien geklärt werden, sondern nur in der wirklichen Bewegung des Wissens. Auch hier ist die Praxis das Kriterium der Wahrheit – eine Praxis, die nicht digital aufgelöst werden kann, sondern immer als Geschichte begriffen werden muss. Und das berührt vielleicht das größte Problem, das sich erst jetzt langsam in Hinblick auf das Internet und die so genannte virtuelle Realität abzeichnet: dass die Informationstechnologie wie die Gegenwart selbst ihre Geschichte zu verlieren droht, nämlich das, was einmal der Zeitkern der Wahrheit genannt wurde.