Zuckerbrot für »Leistungsträger«

Prekariat für alle!

Mit den Hartz-Reformen brachte Rot-Grün den »Leistungsträgern« die Peitsche bei: Wer sich nicht abrackert, stürzt. Wer bislang den Absturz vermeiden konnte und sich als »Leistungsträger« fühlt, den lockt die schwarz-gelbe Koalition mit Zuckerbrot. Wer schon unten ist, geht dagegen leer aus.

Eins muss man dem Klassenkämpfer Gerhard Schröder lassen: Er hat einen großen Schritt getan, die Arbeiterklasse zu einen. Wie er das geschafft hat? Den Hartz-Gesetzen sei dank!
Denn Hartz IV wirkt in beide Richtungen – oben und unten gleichen sich an. Zum einen wurde die Grenze zwischen Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern aufgehoben, zum anderen droht jedem gehobenen Angestellten und topqualifizierten Facharbeiter nach einem Jahr Arbeitslosigkeit der Absturz in die Hartz-Zone. Noch nie hat in der jüngeren deutschen Geschichte eine Sozialgesetzgebung derart gleichmacherisch gewirkt.

Diese Art von Zwangsproletarisierung, die die Sozialdemokraten in ihren jüngst vergangenen Regierungsjahren forciert haben, hatte natürlich einen anderen Zweck, als die Einheit der Arbeiterklasse herzustellen: Die Aussicht, sich binnen Jahresfrist auf dem sozialen Niveau eines Almosenempfängers wiederzufinden, wirkt als Drohung gegen die so genannten Leistungsträger – die Facharbeiter, die gut situierten Angestellten, die technisch-wissenschaftliche Intelligenz. Wer nicht so radikal ist, wie es die Standortkonkurrenz erfordert, wer sich gegenüber den Zumutungen des Arbeitsmarktes nicht flexibel genug zeigt, der fällt – und zwar ganz schön tief.
Macht man sich diese Drohkulisse einmal bewusst, wird einem schlagartig klar, wieso der FDP-Slogan »Arbeit muss sich wieder lohnen« so gut ankam und die großformatigen Wahlplakate, auf denen sich Guido Westerwelle inmitten ihn anstrahlender »Leistungsträger« als Lichtgestalt inszenierte, kaum Schmier- und Schmähaktionen provozierten. Die schwarz-gelbe Koalition verspricht mehr Entlastung, mehr Umverteilung, mehr Unabhängigkeit vom Sozialstaat. Darin unterscheidet sie sich nicht substanziell von der vorigen Regierung und auch nicht von der rot-grünen. Fakt aber ist, dass sie die mittelständischen Leistungsträger offensiver anspricht. Der Abstiegsdruck ist zwar nicht gewichen, aber man wird zusätzlich belohnt – dafür, dass man am Ball bleibt, sich nicht hängen lässt, Karriere und Kinderaufzucht unter einen Hut bringt.

Die Belohnungen fangen bei der Anhebung des Schonvermögens an. Das ist das Eigenvermögen, das ein Hartz-IV-Empfänger nicht aufbrauchen muss, bevor er ALG II bekommt. Die schwarz-gelbe Regierung will die Höhe des Schonvermögens verdreifachen. Gerade im Hinblick auf die Altersvorsorge wird jenen, die ALG II benötigen, ein größeres Vermögen erlaubt. Es ist offensichtlich, dass diese Regelung nur die betrifft, die vor ihrem Absturz die Gelegenheit hatten, ein gewisses Vermögen zu bilden. Im so genannten entkoppelten Prekariat, in dem sich allein die Armut vererbt und die Kinder auf die Frage nach ihrem späteren Berufswunsch »Hartz IV« antworten, hat es nie nennenswertes Vermögen gegeben, das das Jobcenter »schonen« könnte.
Gleiches gilt für das Kindergeld. Während jene, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, von der angekündigten Erhöhung des Kindergeldes kaum etwas haben, weil das Kindergeld auf die anderen Sozialleistungen angerechnet wird, bedeutet die Anhebung des Steuerfreibetrags pro Kind von derzeit 6 024 Euro auf demnächst 7 008 Euro eine Entlastung der mittleren Einkommen. Es sind kleine Botschaften, aber sie kommen an. Schwarz-Gelb verkündet keine »Agenda 2020« und keine weitere radikale Arbeitsmarktreform. Stattdessen soll etwa der Kündigungsschutz, der bislang für Betriebe mit mehr als zehn Beschäftigte galt, erst für solche gelten, in denen mindestens 20 Beschäftigte arbeiten. Gerade die Klitschen im sagenumwobenen Kreativ-Sektor sollten davon profitieren.
Das ist kein neoliberaler Durchmarsch – der hat ja schon stattgefunden. Sondern, wenn man so will, ist dies vielmehr die Belohnung für die Probe aufs Exempel. Bekanntlich sind die vor Jahresfrist prophezeiten sozialen Unruhen ausgeblieben, es gab keinen Sommer der Wut und nach zwei Auftaktdemos keinen weiteren nennenswerten »Wir zahlen nicht für eure Krise«-Aufschrei. Das vor drei Jahren in einer Aufsehen erregenden Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung identifizierte »abgehängte Prekariat« hat der Öffentlichkeit den Gefallen getan, sich so zu verhalten, wie die Statistiker meinten, es adäquat beschrieben zu haben: passiv, desinteressiert, resigniert. Umgekehrt haben viele Angestellte und Facharbeiter sich individuell gegen die potenziell von den Hartz-Gesetzen aufgenötigte Klassensolidarität zu Wehr gesetzt und sich für die von der FDP verheißenen Entlastungen entschieden.
Die künftige Umverteilungspolitik der neuen Regierung kann deshalb auf den Spaltungen innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen fußen, weil die Signale aus jener Klasse, Manövriermasse der Politik bleiben zu wollen, bei der Bundestagswahl recht deutlich ausfielen. Konsens zwischen »oben« und »unten« scheint zu sein, dass es ein »ganz unten« gibt, eben das Prekariat, das im Prinzip kein Recht auf Öffentlichkeit und Artikulation hat. Die Aggressivität, die in den Äußerungen Thilo Sarrazins (SPD) steckt, richtet sich direkt an die intellektuelle Öffentlichkeit: Die Reaktionen auf seine Tiraden sind ein Gradmesser, wie sehr die »Entkopplung« einer Gesellschaftsgruppe bereits Konsens ist.

Von diesem diskursiven Geplänkel völlig unbeeindruckt ist freilich die Krise selbst. Die frisst sich munter durch die Branchen, nur dass sie, jedenfalls in diesen Wochen, ihren für das Kapital unmittelbar destruktiven Charakter abgestreift hat – längst ist die Krise produktiv, denn sie wird für den nächsten Rationalisierungsschub genutzt. Das heißt, dass es im kommenden Jahr mächtig Entlassungen geben wird, selbst die offiziellen Arbeitslosenzahlen werden 2010 wohl deutlich über die Marke von vier Millionen klettern. Der Sog nach unten ist für viele »Leistungsträger« nach wie vor sehr real. Nach einem Kahlschlag – etwa bei Opel – würden alle Entlastungen, die Schwarz-Gelb den Eliten der Arbeit offeriert, hinfällig.
Der Hass auf die Unterschicht, wie ihn Sarrazin, aber auch der Philosophendarsteller Peter Sloterdijk zelebrieren, kommt nicht zuletzt deshalb so gut an, weil die Objekte der Verachtung so klar zu benennen sind: Die Mittelschicht weiß sich präzise etwas unter Fast Food, Unterschichtenfernsehen und jugendlicher Straßengewalt vorzustellen. Die große Frage der nächsten Jahre dürfte sein, was passiert, wenn Teile der eben noch so umworbenen Mittelschichten, etwa die studierten Facharbeiter der in der Krise steckenden Industrien, in die Unterschicht abrutschen. Geht dann die Hetze weiter? Oder wird es einen bemerkenswerten Linksrutsch der Unionsparteien geben? Wird gar das politische System der Bundesrepublik deutliche Schäden nehmen? So oder so – die Antwort hängt von der Gegenwehr der Lohnabhängigen ab.