Über soziale Unruhen in den Maghreb-Ländern

Unruhiger Maghreb

In Marokko, Tunesien und Algerien finden derzeit soziale Unruhen unterschiedlicher Intensität statt. In Algerien sieht sich die Regierung dazu gezwungen, wichtige Zugeständnisse zu machen.

Zumindest einen positiven Aspekt hat der Zirkus rund um die »Wiederwahl« von Tunesiens Präsident Zine ben Abidine Ben Ali Ende Oktober: Die Teilnehmer an der sozialen Revolte im Bergbaubecken von Gafsa im Frühjahr 2008 (Jungle World 28/08), die seitdem im Gefängnis saßen, sind nun freigelassen worden.
Mitte voriger Woche verkündete der Präsident und Ex-Geheimdienstchef Ben Ali einen »präsidialen Gnadenakt« für 38 Gefängnisinsassen. Die Massenrevolte im Phosphat-Bergbaubecken von Gafsa, die ihren Höhepunkt im Juni 2008 erreichte, eröffnete damals einen neuen Zyklus von sozialen Kämpfen in den Ländern des Maghreb. Zeitgleich fand in der marokkanischen Hafenstadt Sidi Ifni eine heftige soziale Revolte statt, getragen von jungen Arbeitslosen, die gegen ihren Ausschluss aus Bewerbungsverfahren für die Vergabe von Arbeitsstellen protestierten. Ähnlich wie bei den Bewerbungsprozeduren in den Phosphatminen im tunesischen Gafsa ging es auch den marokkanischen Demonstranten darum, die Vetternwirtschaft der Behörden anzuprangern. Sidi Ifni wurde daraufhin durch Polizei und Armee besetzt und tagelang von der Außenwelt abgeriegelt, es kam zu Misshandlungen und Folterungen auf den Polizeistationen. Im April wurden einige »Rädelsführer« der Revolte zu bis zu anderthalb Jahren Haft verurteilt. Doch konnte in diesem Falle das Schlimmste verhindert werden, da mit der bereits abgesessenen Untersuchungshaft der größte Teil der Strafe als verbüßt galt. Voraus ging eine breite Solidaritätskam­pagne, an der Intellektuelle, der marokkanische Ableger von Attac und linke Aktivisten teilnahmen.
Seitdem kommen die Länder des Maghreb, vor allem Tunesien und Marokko, nicht zur Ruhe. Derzeit wird etwa Marokko von einer Welle so­zialer Konflikte überzogen, bei der sich gewerkschaftlicher Protest und Aktivitäten von Menschenrechtsvereinigungen gegen Behördenwillkür mischen. Im Mittelpunkt stehen dabei wie­derum die Proteste von Lohnabhängigen im Phosphatbergbau, wo 950 Arbeitsplätze gestrichen werden sollen. Dies liegt unter anderem daran, dass die Assoziierungsverträge von Marokko und Tunesien mit der Europäischen Union neue, stärkere soziale Ungleichheiten produziert haben. Gleichzeitig wurden die Hoffnungen in Teilen der Bevölkerung, die Annäherung an die EU werde eine Demokratisierung bringen, etwa in Tunesien, bitter enttäuscht.

Eine Sonderstellung nimmt Algerien ein. Im größten Land des Maghreb finden seit Jahren heftige soziale Erschütterungen statt. Gewerkschaftliche Gegenmacht ist dort weitestgehend blockiert, anders als in Marokko und Tunesien, wo es zumindest Ansätze zu gewerkschaftlicher Oppositionstätigkeit gibt. Denn der stärkste algerische Gewerkschaftsverband UGTA, der 1956 als verlängerter Arm der antikolonialen Nationalbewegung entstand, ist seit der Entkolonisierung zu kritischer Distanz gegenüber der neuen Staatsmacht unfähig. Nur in einigen Sektoren, vor allem im Schulbereich und an den Hochschulen, existieren halbwegs kämpferische »autonome Gewerkschaften«.
Ansonsten findet die soziale Unzufriedenheit ihren Ausdruck vor allem in Riots, die die Staatsmacht oft dazu zwingen, wichtige Zugeständnisse bei elementaren Grundbedürfnissen zu machen, die bis dahin unbefriedigt blieben. Der jüngste, extrem heftige Gewaltausbruch Ende Oktober in einem armen Stadtteil von Algier erregte unterdessen weitaus mehr Aufmerksamkeit als frühere Unruhen.
Unweit vom Quartier el-Mouradia, wo sich der Präsidentenpalast und einige Zentren der politischen Macht befinden, stehen elende Baracken, die bereits im Jahr 1958 errichtet wurden – durch die damalige französische Kolonialmacht, die sich bemühte dort »Eingeborenenfamilien« unter Aufsicht anzusiedeln. Der Versuch der Behörden, einige dieser Bauten abzureißen, gipfelte in einem heftigen Protest der Bewohner. Jugendliche – unter ihnen »sogar Mädchen«, wie die Tageszeitung El-Watan formulierte – bewarfen die Polizei mit Steinen und allen möglichen Gegenständen und schafften es, sie anderthalb Tage lang völlig aus dem Stadtteil herauszuhalten. Frauen schütteten Wasser oder warfen Gegenstände von Hochhausbalkonen auf die Einsatzkräfte herunter. Gleichzeitig versuchten einige radikale Islamisten, die Proteste umzufunktionieren: Sie riefen zum Jihad gegen die Staatsmacht auf und versuchten, die angebliche Erteilung von Wohnraum an Pros­tituierte zum Gegenstand des Protestes zu machen. Allem Anschein nach blieben sie in der Bevölkerung jedoch isoliert.
Der Riot endete mit rund 30 Festnahmen, aber auch mit dem Versprechen von Innenminister Yazid Zerhouni, den Bewohnern der Barackenbauten neuen, ausreichend ausgestatteten Wohnraum anzubieten. Falls dies nicht erfolgt, haben die Bewohner für November mit einer Wiederaufnahme ihrer Revolte gedroht.