Über das Scheitern von 1989

Die Frage lautet: Wie?

Zu einer sinnvollen Bewertung der »Wende« und des Mauerfalls gehört die Betrachtung erstens der Ereignisse selbst, zweitens ihrer erinnerungspolitischen Interpretation und drittens der aktuellen politischen Relevanz.

Am 5. November 1989 formierte sich in der DDR die »Grüne Partei«, in deren Gründungsurkunde es hieß: »Für eine Erneuerung unserer Gesellschaft hat die Umgestaltung unserer zerstörten Umwelt entscheidende Bedeutung.« Bereits zwei Monate zuvor hatte die Gruppe »Demokratie Jetzt« ihre drei Hauptziele formuliert: »eine ökologisch orientierte soziale Demokratie«, die Sicherung der Grundrechte der Bürger, und drittens den »Schutz der natürlichen Umwelt und die Sicherung von Ressourcen und Lebensmöglichkeiten für kommende Generationen«. Und schon 1986 war die Gründung der »Umweltbibliothek« in Berlin Ausdruck für die Relevanz des Themas Umweltschutz für die DDR-Opposition.
Die Einschätzung, dass der Ökologie eine zen­trale Bedeutung für den Erneuerungsprozess in der DDR zukam, wurde von nahezu allen oppositionellen Gruppen geteilt. Der ökologische Umbau der Gesellschaft stand als politische Forderung im Grunde an erster Stelle, doch spielt dies in der heutigen Wahrnehmung der DDR-Opposition überhaupt keine Rolle mehr. Dieses Beispiel verweist auf den Zusammenhang von Ereignis, Interpretation und aktueller Relevanz.
Es zeigt, dass das Ereignis für sich selbst keine Bedeutung hat, sondern diese erst in der Interpre­tation und im aktuellen Bezug erhält. Die Auseinandersetzung mit der »Wende« besitzt im Grun­de drei Ebenen: die des Ereignisses, die erinnerungs­politische und die je aktuelle politische Dimension. Die bisherigen Disko-Beiträge Angela Marquardts (Jungle World 39/09), Georg Fülberths (39/09), Andreas Schreiers (43/09), Mario Möllers (44/09), Gaston Kirsches (45/09) und der Internationalen KommunistInnen (46/09) konzentrieren sich auf die erste Ebene und ignorieren dabei die Dimension erinnerungspolitischer (Re-)Konstruktion so­wie den aktuellen Gehalt. Für die Gruppe TOP Berlin (40–41/09) hingegen spielt das Ereignis selbst praktisch keine Rolle, sie rückt die aktuelle politische Dimension in den Vordergrund.
Die Verschränkung jener drei Ebenen zu beachten, ist jedoch Voraussetzung für eine Bewertung der »Wende«. Dass die ökologische Komponente heute vergessen ist, hat ganz wesentlich damit zu tun, dass sie sich erinnerungspolitisch kaum verwerten lässt und ebenso kaum einen aktualisierbaren Anschluss bietet – sie ist damit irrelevant geworden. Eine Bewertung des Ereignisses ist damit nicht aus diesem allein vorzunehmen, sondern muss die zweite und dritte Ebene, seine erinnerungspolitische Aufladung und seine aktuelle Bedeutung, berücksichtigen. Gleichwohl ist das Ereignis auch nicht ohne das Ereignis selbst zu begreifen, wie es die Gruppe TOP versucht. Ihre zum 9. November organisierte Demonstration »Es gibt kein Ende der Geschichte« näherte sich dem Ereignis nicht, sondern gebrauchte es lediglich als Anlass zur Kritik von dessen heutiger erinnerungspolitischer Aktualisierung – und konnte damit gerade einmal 1 500 Personen zur Teilnahme bewegen. Unter anderem dürfte ein Grund dafür darin bestanden haben, dass TOP auf keine der Fragen Bezug nahm, die in der Auseinandersetzung mit der »Wende« auftauchen, sondern sich von diesen vollständig löste.

Zum 20. Jahrestag des Mauerfalls trafen sich Michail Gorbatschow, George Bush senior und Hel­mut Kohl in Berlin. Sie schüttelten sich die Hände und klopften sich auf die Schultern, um sich noch einmal zum staatsmännischen Akt der Wiedervereinigung zu beglückwünschen, durch den die ehemalige DDR in die Obhut der Bundesrepublik gegeben wurde. Der »Einheits-Kanzler« bekräftigte erneut seinen historischen Verdienst: Er habe »nichts Besseres«, um darauf stolz zu sein, als die deutsche Einheit. Die Geschichte wird von großen Männern gemacht, so erfährt man. Gleichzei­tig soll aber auch ein Lehrstück der Demokratie gefeiert werden. Also wird am Rande der »friedliebenden Völker« gedacht. Über ihren jeweiligen friedvollen Beitrag erfährt man jedoch nichts.
Dieses Szenario bietet ein exaktes Bild davon, was vom Jahr 1989 geblieben ist. Wenn die Ereignisse heute als einer der wenigen Beweise für die »Demokratiefähigkeit« der Deutschen gehandelt werden, meint man damit vorrangig die Bereitschaft der ostdeutschen Bevölkerung, sich der bundesdeutschen Staatsräson, ihrem Demokratiemodell sowie dem westlichen Kapitalismus zu unterwerfen. Es wird also genau das Moment betont, in dem die pluralistische Opposition, die den grundsätzlichen Widerspruch zwischen Herrschenden und Beherrschten vor Augen hatte, sich die Chance nehmen ließ, eine linke emanzipative Perspektive zu entwickeln.
Die antikapitalistische Opposition der Vereinigten Linken (VL), die dem Disko-Beitrag der Internationalen KommunistInnen als Faustpfand dafür gilt, dass es auch anders hätte gehen können, war marginal und blieb folgenlos. Die Mehrheit der Bevölkerung orientierte sich an den Freiheiten und Genüssen Westdeutschlands. Die Freiheit ist und bleibt damit einerseits ideologisches Moment der Verteidigung der privilegierten Position der wirtschaftlich besser Gestellten und tiefgreifender Zwänge. Tatsächlich war es erst Erich Hockers klägliche »Sozialistische Wohlfahrt«, die die Massen später auf die Straßen trieb. Der Verlauf und die Ereignisse von 1989 bezeugen damit die Affinität zu einer apolitischen deutschen Kultur, die eine wie immer geartete Staatsräson dann mitträgt, wenn diese den materiellen Zielen staatlicher Fürsorge glaubhaft Rechnung trägt. Selbst unter den Maßgaben einer parlamentarischen Demokratie beziehungsweise einer demokratischen Selbstermächtigung war es kein glorreicher Akt, sich in einer nationalistischen Umarmung Helmut Kohl an den Hals zu werfen.
Mit der Wiedervereinigung installierte sich die Garde aus dem Westen in Politik und Verwaltung, um eine neue alte Ordnung herzustellen, wobei die Bevölkerung weiterhin Objekt dressierender Verwaltungsakte blieb. Genau hier, am historischen Beispiel, zeigt sich das Problem für eine Pers­pektive grundsätzlicher gesellschaftlicher Um­wälzung. Die Transformation der Proteste von 1989 hin zu einem völkisch-nationalistischen Auf­begehren und deren Folgen wurden innerhalb dieser Debatte und an anderer Stelle ausreichend thematisiert. Das soll hier lediglich durch den Verweis auf das Paradigma deutscher Revolutionen ergänzt werden. Ebenso wie die Revolutionen von 1848 und 1918 zeigen auch die Ereignisse von 1989, dass sich in Deutschland offenbar stets ei­ne tendenziell reaktionäre Mehrheit gegen eine Min­derheit, die Befreiung und Emanzipation im Sinn hat, durchzusetzen vermag.

Mit dem Verweis darauf soll nicht etwa mantrahaft das Wesen der Deutschen beschworen, son­dern auch auf eine Frage verwiesen werden, der sich jeder und jede, die eine Revolution bezie­hungs­weise eine gesellschaftliche Umwälzung vor Augen haben, stellen muss: Wer soll imstande sein, diese Veränderungen herbeizuführen, und wie soll das geschehen? Die DDR selbst ist das Bei­spiel geplanter sozialpaternalistischer Bevor­mun­dung und legt wie alle sozialistischen Staaten den Mythos offen, dass sich das »glückliche Le­ben« nicht mit Hilfe eines Entwurfs des idealen Staats, einer detailreich ausfabulierten Sozialutopie erreichen lässt. Es kann also einer Linken heute nicht nur um die Vergesellschaftung der Produktionsmittel gehen, oder darum, was alles verbessert werden könnte. Vielmehr müssen sich die Opfer sozialpaternalistischer Bevormundung zu den Akteuren einer radikalen Umwälzung der herr­schenden Lebensverhältnisse emanzipieren. Zu Recht wurde auf der Veranstaltung »Ausgerechnet Bananen« am Vorabend der Demonstration »Es gibt kein En­de der Geschichte« am 7. November in Berlin von einem Referenten der Begriff des Politischen für eine Bewertung der »Wende« stark gemacht.
In einigen wenigen Wochen des Herbsts 1989 zeigten sich Formen der Selbstorganisation, der Selbstbestimmung, des politisch bewussten Willens, eigene Ideen zu verwirklichen. Im Konzert der positiven (Alle für die Freiheit, für Deutschland, gegen Kommunismus etc.) oder negativen (Alle für die Volksgemeinschaft) Verallgemeinerun­gen ist die Betonung des politischen Moments der Selbstbestimmung richtig. Darüber hinaus könnte sich hier aber die Chance ergeben, über die Bedingungen und Möglichkeiten der Aufhebung gesellschaftlicher Herrschaft nachzudenken.

Dafür lohnt es sich, die Position der Gruppe TOP und diejenige der Internationalen KommunistInnen mit den Ereignissen von 1989 zu konfrontieren. Die kommunistische Aufhebung des kapitalistischen Verwertungszwangs hat sich TOP auf die Fahnen geschrieben. Was im Grunde durch­aus richtig ist, kommt aber über diese Allgemeinheit nicht hinaus, da das »Wie« des Aufhebungsprozesses – aus historisch vielleicht durchaus nachvollziehbaren Gründen – vollständig unausgesprochen bleibt.
Die Ereignisse von 1989 jedoch zeigen, dass eine gesellschaftliche Krisensituation und eine revolutionäre Stimmung noch keine kommunistische Revolution machen. Wie die Gruppe Internationale KommunistInnen in ihrem Beitrag treffend bemerkt, gab es in der DDR-Opposition durchaus linksradikale Positionen, die den Kommunismus nicht über Bord warfen, sondern endlich verwirklichen wollten. Diese Position, so richtig man sie auch findet, hatte gesellschaftlich jedoch keine Relevanz.
In das Machtvakuum, das der Zusammenbruch der DDR öffnete, konnten keine linken ­Ideen vorstoßen, weil es kein linkes Projekt gab. Das einzige Projekt, das es gab, war Deutschland und die Volksgemeinschaft. Es war folglich das Projekt, das sich durchsetzte – all die emanzipatorischen, linken, kommunistischen Ideen hatten keine Chance. Das Scheitern von 1989 verweist auf die Notwendigkeit, von der praktischen Überwindung der ge­sellschaftlichen Zwänge eine politische Vorstellung zu entwickeln. Die alleinige negative Kritik der Verhältnisse und der positive Verweis auf die richtigen Positionen sind dabei nicht ausreichend.