»Heißer Herbst« an deutschen Unis

Endlich Platz im Hörsaal

Wegen der Proteste in Österreich wurde in Deutschland der »Heiße Herbst« vorverlegt. Mit zweifelhaftem Erfolg, erst so langsam scheinen die Studierenden aufzuwachen. Lob gibt es dafür auch von der falschen Seite.

Auch nach dem bundesweiten Bildungsstreik im Juni haben Bachelor-Studenten die Widrigkeiten des Bologna-Prozesses täglich vor Augen: überfüllte Hörsäle, verschulte Studienpläne, strikte Anwesenheitspflicht, kein Raum für Reflexion und keine Zeit für unplanmäßige Lektüre. Von Studiengebühren, zumindest in einigen Bundesländern, und der Umwandlung der Universitäten in Ausbildungsstätten für die Erfordernisse des Arbeitsmarktes ganz zu schweigen. Und weil das so ist, immer noch so ist, sollten die Proteste in diesem Herbst und eigentlich am Dienstag dieser Woche fortgesetzt werden.
Doch motiviert von den Ereig­nissen an den österreichischen Universitäten, formierte sich in einigen Städten schon zwei Wochen vorher spontan der Protest. Der Besetzung von Hörsälen in Heidelberg folgten Aktionen in Münster, Potsdam, Marburg und Tübingen. Dann ging es Schlag auf Schlag: In der vorigen Woche kamen nahezu täglich neue Besetzungen in schließlich über 30 Städten hinzu, zuletzt an den Universitäten Hildesheim, Gießen, Stuttgart, Erlangen, Nürnberg, Freiburg, Paderborn, Bonn und Kaiserslautern. Die Forderungen der Besetzer sind gleich geblieben: mehr universitäre Mitbestimmung, weni­ger Leistungsdruck, Abschaffung der Studiengebühren, Bologna rückgängig zu machen.

Am Dienstag, dem zentralen Aktionstag, fanden schließlich in über 30 Städten Demonstrationen unter dem Motto »Education is not for sale!« mit insgesamt mehreren zehntausend Teilnehmern statt, die größten in Berlin, München, Frankfurt, Hamburg, Köln, Düsseldorf, Stuttgart, Mainz, Wiesbaden, Freiburg und Hannover. In einigen Städten blieben die Teilnehmerzahlen jedoch weit hinter den Erwartungen zurück.
Doch wer protestiert da eigentlich mit welcher Motivation? Ist es gar ein linkes Aufbegehren? Die Besetzer, die in den Hörsälen protestieren, und auch jene Studierende, die auf die Straße gehen, sind gewiss nicht die linken Chaoten, welche die Boulevardpresse gern herbeischreibt. Eher im Gegenteil: Die studentische Opposition setzt sich äußerst heterogen zusammen – vom BWL-Erstsemester, der sich an überfüllten Hörsälen stört, bis zur streikerfahrenen Soziologie-Studentin, die sich auf Karl Marx bezieht.
Die Plena laufen gesittet ab, es wird streng basisdemokratisch debattiert, Entscheidungen wer­den mühsam ausgehandelt. Dass es dabei meist nicht ums große Ganze geht, sondern um Forderungen wie die Abschaffung der Anwesenheitspflicht und maximaler Teilnehmerzahlen in Seminaren, ist bezeichnend für die pragmatische Mehrheit der Protestierenden. Sie wollen Missstände problematisieren, den »konstruktiven Dia­log« mit der Universitätsleitung suchen, Verbesserungen der Situation von den Bildungsministerien fordern. Nicht selten setzen sie ihre Hoffnung dabei auf den Staat. So heißt es auf einem Transparent in Villingen-Schwenningen: »Bildung nur durch Kapital – ist Deutschland noch sozial?«

Den Protest koordinieren sie über das Internet: Blogs, Twitter und Social Communities vernetzen die Universitäten untereinander. Die Besetzung der Hörsäle, wie in Tübingen oder Potsdam, wird zuweilen gar per Livestream im Netz übertragen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass dabei wie in der »Piraten«-Bewegung die Kategorien »links« und »rechts« weitgehend vermieden werden. »Ich will nicht, dass alle denken, wir sind hier nur linke Freaks. Wir brauchen alle Ideen und haben die Weisheit bestimmt nicht gepachtet«, wird ein Student auf dem Blog unsereunis.de zitiert. In der Vollversammlung in Tübingen, so ein Beteiligter, sei die allgemeine Auffassung gewesen, Themen abseits der Bildungspolitik während der Besetzung außen vor zu lassen. »Es geht hier nicht darum, den Kapitalismus abzuschaffen«, ha­be es geheißen. Viele sehen auch die Solidaritätsbekundungen der Partei »Die Linke« skeptisch. Tatsächlich könnte eine parteipolitische Vereinnahmung den Bildungsstreik, der an den meisten Hochschulen von keiner zentralen Organisation getragen wird, erheblich Sympathien kosten. Linke Gruppierungen verzichten daher zum Teil bewusst auf allzu eindeutige Symbolik.
Kann man den Studenten also unterstellen, die Ware Bildung mit Blick auf die eigene Bildungsbiografie lediglich besser organisiert herstellen und vermarkten zu wollen? Nicht allen, denn es gibt sie noch: jene Studierenden, denen es »ums Ganze« geht. Sie reden über die Ökonomisierung der Universitäten im gesellschaftlichen Zusam­men­hang und begreifen Cluster, Elitenförderung und Co. als Symptome eines fortgeschrittenen Neo­liberalismus, der die Konkurrenz zwischen Individuen fördert statt einer selbstbestimmten Bildung. Schuld trage der Kapitalismus, sagen sie, Korrekturen der Bologna-Reform seien deshalb keine Lösung. Viele setzen sich für Basisdemokratie und gegen alltäglichen Rassismus und Sexismus ein – Prinzipien, die keineswegs an jeder Universität Konsens sind. Mit einer Kritik des Nationalismus ist es hingegen zuweilen nicht weit her: Parolen wie »Gemeinsam sind wir das Volk«, zu finden im Aufruf der Besetzer in Duisburg, stehen neben der Forderung nach einer »freien und offenen Universität«. Was genau mit »Freiräumen« und »autonomen Individuen« gemeint ist, bleibt meist unklar, ebenso wie der Bildungsbegriff der Protestierenden.
Eine Ursache dafür liegt auf der Hand: Bisher nah­men nur wenige Studierende aktiv an den Protesten teil und übernahmen freiwillig unzählige organisatorische Aufgaben. Zeit für theoretische Reflexion bleibt da kaum. In Potsdam saßen zum Teil nur 30 Studenten im Plenum, insgesamt 70 bis 90 mussten die Besetzung aufrechterhalten. Sicher ist: Die große Öffentlichkeit, die den Protesten von der FAZ bis zur Tagesschau in der vorigen Woche zuteil wurde, stand in keinem Verhältnis zum eigentlichen Umfang der Aktionen. Dass die Studienbedingungen so ausführlich thematisiert werden, ist daher wohl der bislang größte Erfolg der Besetzer.

Viele Verantwortliche, wie der Präsident der HU Berlin, äußern im Wissen um die enorme Medien­resonanz »Verständnis« für die Kritik der Studierenden. Diese Anbiederung, die wohl auch einer teilweisen Interessenüberschneidung geschuldet ist, gibt den Protest nicht nur der Lächerlichkeit preis, sondern zeigt auch, wie anfällig er für Strategien ist, ihn zu marginalisieren. Andere, zum Beispiel Bildungsministerin Annette Schavan (CDU), sehen die Ursache der Proteste fälschlicher­weise in der unzureichenden Verwirklichung der Hochschulreform und fordern deren schnelle Durchsetzung. Der Präsident der Kultusministerkonferenz, Henry Tesch (CDU), sagte, dass die Stu­denten eine »Verbesserung der Studienbedingungen« forderten, sei berechtigt. Der Vorsitzende des Wissenschaftsrats, Peter Strohschneider, erklärte, es habe tatsächlich »handwerkliche Fehler« bei der Einführung der Bachelor-Studiengänge gegeben.
Trotzdem: Die Kompromissbereitschaft einiger Verantwortlicher kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass viele Universitätsleitungen Kritik an den Studienbedingungen unbedingt verhindern wollen. In Tübingen ließ man den von 200 Personen besetzten Hörsaal von einer Hundertschaft der Polizei räumen, ebenso in Bielefeld, wo die Besetzer wegen Hausfriedensbruch angezeigt wurden. Die Uni-Leitung in München engagierte gar eine private Sicherheitsfirma, um den Zugang zum Audimax kontrollieren zu lassen.
Legitimieren können die Rektorate ihr Handeln auch, weil sie wissen, dass die Besetzungen selbst unter den Studierenden umstritten sind. Viele beklagen sich über ausfallende Lehrveranstaltungen und werden dabei – wie in Duisburg – sogar manchmal von den Studierendenvertretungen un­terstützt. Zwar wurde der Vorsitzende des konservativen Duisburger Asta von den Besetzern wäh­rend eines Fernsehinterviews ausgepfiffen, doch die Protestierenden wissen, dass sie einen großen Teil ihrer Kommilitonen tatsächlich nicht erreichen. Vielleicht vermeiden sie deshalb direkte Konfrontationen, so kamen sie in Duisburg und Münster der Räumungsaufforderung freiwillig nach. Wichtiger werden da die kleinen Erfolge. Ein Erfolg – sagte einer der Potsdamer Besetzer –, das ist, »wenn ein einzelner Mensch erkennt, dass es sich lohnt, für die Veränderung seines eigenen Lebens und das Leben anderer aktiv zu werden«.
Dazu soll es noch einige Gelegenheiten geben in diesem Jahr. So sind Proteste gegen die Hochschulrektorenkonferenz in Leipzig am 24. November und eine bundesweite Aktionswoche vom 30. November bis 6. Dezember geplant. Und am 10. Dezember soll die Kultusministerkonferenz in Bonn »belagert« werden.