Über den Prozess gegen Radovan Karadzic in Den Haag

Prozess gegen einen Unsichtbaren

Kurz nach seinem Beginn wurde der Kriegsverbrecherprozess gegen Radovan Karadzic in Den Haag unterbrochen. Die komplexe Problematik des Falls wird damit nur verschoben.

Vor ein paar Wochen war Serge Brammertz noch zu Scherzen aufgelegt: »Wenn es denn losgeht«, sag­te der Chefankläger des Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag (ICTY) im Hinblick auf das Verfahren ge­gen Ra­dovan Karadzic, das wenige Tage später beginnen sollte. Mit Genozid, Kriegsverbrechen und Ver­brechen gegen die Menschheit werden Karadzic die schwersten Vergehen gegen das Internationale Recht zur Last gelegt. Vor der internationalen Presse demonstrierte Brammertz Zuversicht. Zwar sei man sich bewusst, dass es »kein leichtes Verfahren« werde, doch angesichts des »engagierten Teams« und des angesammelten Beweismaterials sei er sicher, dass am Ende ei­ne Verurteilung von Karadzic stehen und den Opfern des bosnischen Bürgerkriegs Gerechtigkeit widerfahren werde.

Inzwischen wurde Brammertz von der Realität eingeholt. Zwar begann die Anklage mit der Präsentation des Materials, das den früheren Präsidenten der bosnisch-serbischen Teilrepublik und Oberbefehlshaber ihrer Armee schwer belastet. Weiter als bis zum Eröffnungsstatement kam sie jedoch nicht, denn selbst das engagierteste Anklageteam kann nicht viel bewirken, wenn ihm im Gerichtssaal niemand gegenübersitzt. Die kontinuierliche Abwesenheit des Angeklagten, der sich selbst verteidigen will, führt nun erst einmal zu einer knapp viermonatigen Pause. So lange benötigt der Karadzic zugeteilte Pflichtverteidiger nach Ansicht der Kammer des Gerichts, um sich in den immensen Aktenberg einzuarbeiten. Wann in diesem symbolträchtigen Prozess ein Urteil gesprochen werden kann, steht mehr denn je in den Sternen.
Wer das Vorverfahren in Den Haag beobachtet hat, kann von diesem Verlauf nicht allzu überrascht sein. Die derzeitige Situation hat sich aus der Zuspitzung einer Konstellation ergeben, die bereits seit der Auslieferung von Karadzic im Som­mer 2008 besteht. Dem Sondergerichtshof ist an einem möglichst schnellen Verlauf des Verfahrens gelegen, da das ursprüngliche Mandat des Weltsicherheitsrats mit diesem Jahr ausläuft. Ab 2010 sollen eigentlich nur noch Berufungsprozesse stattfinden. Im Verfahren gegen Radovan Ka­radzic jedoch, bei dem Anklage und Verteidigung jeweils 300 Stunden eingeräumt werden, erwartet Chef­ankläger Brammertz kein Urteil vor 2012, im Falle einer Berufung gar erst 2013. Die Zeit spielt in Karadzic’ Strategie eine wichtige Rolle. Mit zahllosen Anträgen erwirkte er schon in der Vorbereitungsphase immer wieder Unterbrechungen.

So offensichtlich diese Verzögerungstaktik ist, inhaltlich absurd waren seine Beanstandungen nicht. Die Übersetzung der Anklageschrift ins Ser­bische ist gerade im Fall der Selbstverteidigung durchaus sinnvoll, auch wenn Karadzic akzeptabel Englisch spricht. Auch dem Befangenheitsantrag gegen den niederländischen Richter Alphons Orie wegen der Rolle niederländischer Blauhelmsoldaten beim Massaker von Srebrenica wurde stattgegeben, nicht zuletzt, weil sich das Tribunal höchsten juristischen Standards verpflichtet sieht. Wie sollte ein Beitrag zum künftigen Frieden auf dem Balkan auch aussehen, wenn die Qualität der Rechtsprechung nicht über jeden Zweifel erhaben ist?
Eben die steht zur Debatte, wenn Karadzic sich wie nun schon seit Monaten darauf beruft, er habe keine Zeit für eine angemessene Vorbereitung seiner Verteidigung. »Würde ich ohne diese Vorbereitung in den Prozess einsteigen, wäre ich ein Krimineller«, sagte der mutmaßliche Kriegsverbrecher bei seinem einzigen Erscheinen zur Sondersitzung des Tribunals am vorläufig letzten Verhandlungstag Anfang November.
Der Vorwurf, ihm werde ein fairer Prozess verweigert, ist naheliegend für jemand, der sich als heroischer Einzelkämpfer vor einem über­mäch­tigen Tribunal inszeniert und der behauptet, das Urteil sei eigentlich längst gesprochen worden.
Der Propagandagehalt dieser Anschuldigung ist offensichtlich, ebenso wie ihr schädigendes Potenzial für das Image des Gerichts in Den Haag. Der beachtliche Umfang des Anklagematerials ist jedoch nicht von der Hand zu weisen. Nimmt man die eine Million Seiten zum Maßstab, die die Prozessakten angeblich umfassen, so hätte Karadzic in den rund 15 Monaten seiner Haft ein tägliches Pensum von über 2 200 Seiten zu absolvieren gehabt. Wie ein Experte dies bewältigen soll, mag man sich fragen. Karadzic jedoch hat zwar reichhaltige Erfahrung als Psychiater, Poet, Demagoge und Quacksalber, als Jurist trat er bislang dagegen nicht in Erscheinung. »Es ist sehr leicht auszurechnen, dass das in dieser Zeit nicht möglich ist«, sagt Göran Sluiter, Professor für Internationales Strafrecht an der Universität Amsterdam und einer der juristischen Berater von Karadzic.
Die Machtspiele, zu denen Karadzic das Tribunal mit seinem Bemühen, mehr Zeit für sich herauszuschlagen, herausforderte, und auf die sich das Tribunal einließ, verdeutlichen dabei vor allem eines: Eine Rechtsprechung über die Balkan-Kriege unter dem Dach der Vereinten Nationen ist ein vielschichtiger und äußerst sensibler Prozess, bei dem Justiz und Politik mehrfach ineinander verzahnt sind. Dass Karadzic eine politische Agenda hat, ist unbestritten. Gleiches gilt jedoch auch für den ICTY. Ein Beitrag zur Versöhnung im ehemaligen Jugoslawien ist ein nahezu unmögliches Unterfangen, bedürfte es doch nicht weniger als der Balance zwischen dem Anspruch der Opfer, die Verantwortlichen hinter Schloss und Riegel zu sehen, und den Befindlichkeiten auf serbischer Seite, wo man dem Tribunal vielfach »Siegerjustiz« vorwirft, was man wiederum mit der Tatsache untermauert, dass die meisten Verurteilten auf serbischer Seite standen.

Wann auch immer der ICTY seine Arbeit abschlie­ßen mag: Es ist offenkundig, dass damit auch eine historische Perspektive auf die jugoslawischen Bürgerkriege etabliert wird, die Serbien die Hauptverantwortung für deren Eskalation zuschreibt. Darauf bezieht sich Karadzic, wenn er sei­nen Prozess als »letzte Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden«, dramatisiert.
Der Ankläger Alan Tieger folgerte bei seinem Er­öffnungsstatement, der ehemalige Präsident der bosnischen Serben habe sich »die Kräfte des Nationalismus, des Hasses und der Angst nutzbar gemacht«. Dass dies im sezessionistischen Klima der neunziger Jahre bei den anderen Kriegsparteien gleichfalls das Gebot der Stunde war, wird dabei ebenso ausgeblendet wie die Rolle westlicher Staa­ten, die diese Entwicklung auf diplomatischem Weg forcierten.
Eine eindimensionale Wahrnehmung ist zudem auch in westlichen Medien verbreitet, während sich manch traditionalistische linke Publikation weiter zu der naiven Wahrnehmung Serbiens als einem bloßen Opfer der Nato versteigt. Möglicher­weise wird die Suche nach solchen Wahrheiten nicht allzu ergiebig sein. Karadzic kündigte bereits in aller Deutlichkeit an, er werde keinesfalls mit einem Pflichtverteidiger kooperieren.