Wasserkrise im Nordirak

Der trockene Halbmond

Der Irak trocknet aus. Nicht nur der Klima­wandel ist daran schuld. Unter der Baath-Diktatur ließ Saddam Hussein ganze Gebiete trockenlegen. In den vergangenen Jahren haben die Staudammprojekte der Türkei, Syriens und des Iran die irakische Wasserkrise verschärft.

»Hier haben wir früher als Kinder im Sommer gebadet.« Wir stehen oberhalb eines völlig trockenen Bassins. Nur Reste inzwischen vertrockneter Pflanzen lassen noch erahnen, dass bis vor nicht allzu langer Zeit hier noch ein Bergbach floss. Unser Begleiter bei dieser Wanderung, Jamil Murad, stammt von hier, aus den Hauraman-Bergen, die sich über die Grenze von Irakisch-Kurdistan in den Iran erstrecken. »Auch wenn es in den vergan­genen Jahren im Sommer immer weniger Wasser gab«, erzählt er, »solange wir denken können, ist dieser Bach nie trocken gewesen.« Sollte es auch diesen Winter wieder zu wenig regnen, wird Jamil das Schicksal tausender anderer Bauern in der Region teilen und seine Gärten und Felder aufgeben müssen. Denn nicht nur der Norden des Irak, sondern der ganze so genannte fruchtbare Halbmond leidet seit fast einem Jahrzehnt unter einer bislang nie da gewesenen Dürre.
Das Dorf Hawar, einen Steinwurf von der iranischen Grenze entfernt, ist nur ein Beispiel dafür, was dieser Tage in der Region geschieht: Sie trocknet aus. Noch führt einer der beiden Bäche genug Wasser, um die Plantagen und Gärten im Tal zu be­wässern. Inmitten kahler, verödeter Berge erstreckt sich im Tal eine Oase, die weit über die Re­gion hinaus für ihre Walnüsse bekannt ist.
Doch auch hier trügt der Schein. Die Vegetation zieht sich mangels Wasser immer weiter zurück. Wo die Dorfbewohner sich früher an heißen Som­mertagen trafen und überall kleine Quellen aus dem Boden sprudelten, ist dieser heute vertrocknet und verbrannt. Der Wasserspiegel des Flusses sei innerhalb von fünf Jahren um mehr als zwei Drittel gefallen, sagt Jamil, den wir auf dem Weg zu seiner Walnussplantage begleiten. Es geht vorbei an Gärten voller Granatapfelbäume, deren Früchte in der Morgensonne verlockend rot leuch­ten. Im Wasser sitzen handtellergroße Süßwasserkrabben und wärmen sich an den ersten Sonnenstrahlen, riesige blaue Libellen schwirren umher. Wenige hundert Meter entfernt beginnt der Iran. Vor nur wenigen Monaten wurden ganz in der Nähe drei US-amerikanische Journalisten fest­genommen, die in diesem unwegsamen Gebiet versucht hatten, die Grenze illegal zu überqueren.

Das Dorf Hawar ist etwas Besonderes, weil es den Kakai gehört, einer weitgehend unbekannten Religionsgruppe, die, ähnlich wie die Yeziden, einem alten persischen Glauben anhängen. Jahrhunderte lang wurden sie von den Muslimen verfolgt, dann zog sich diese Gruppe, die keine Gebets­häuser kennt und deren Angehörige in der Regel nur untereinander heiraten, in dieses unwegsame Bergmassiv zurück. Da die Kakai, anders als Chris­ten, nie den Status einer eigenen Religionsgruppe im Irak für sich beansprucht haben, weiß niemand genau, wie viele es von ihnen gibt. Schätzun­gen reichen von einigen hunderttausend bis zu einer Million. Auf der anderen Seite der Grenze, im Iran, soll eine weitere Million leben. Ähnlich den Drusen halten die Kakai ihre Religionsriten weitgehend geheim. Die Frauen leben, im Vergleich zu den Muslimen, relativ gleichberechtigt, die Män­ner tragen enorme Schnurrbärte, die Kaiser Wilhelm hätten vor Neid erblassen lassen. Während es im Iran eine Vielzahl von Dörfern gibt, in denen nur Kakai leben, ist Hawar das einzige auf ira­kischer Seite.
Kurz bevor der Ort hinter einer Kurve auftaucht, meint deshalb einer unserer Begleiter schmunzelnd: »Jetzt verlassen wir Dar al Islam, das ›Haus des Islam‹.« So werden in der islamischen Welt alle Länder und Gebiete bezeichnet, in denen mehr­heitlich Muslime wohnen.
Hawar blickt, wie so viele Dörfer in der Region, auf eine leidvolle Geschichte zurück. Zum ersten Mal zerstört wurde es Ende der siebziger Jahre. Da­mals einigten sich der Iran und der Irak darauf, auf beiden Seiten der Grenze eine jeweils 10 Kilometer lange No-Go-Area zu schaffen, die es kurdischen Rebellen erschweren sollte, grenzüberschrei­tende Operationen durchzuführen. Die Bewohner wurden in die nächste Stadt, nach Halabja umgesiedelt. Hier mussten sie zehn Jahre später den größten Giftgasangriff der irakischen Armee auf die Zivilbevölkerung erleben. Viele, die überlebten, flohen ins Hauraman-Gebirge oder den Iran und kehrten erst langsam wieder in den Irak zurück. Ihnen wurden vom Regime unter Saddam Hussein Häuser in der neu entstandenen Collective Town namens Neu-Halabja zugewiesen, wo sie den Krieg im Jahr 1991 und die darauf folgenden Aufstände miterlebten, die zur Befreiung der kurdischen Gebiete führten. Danach zogen einige zurück in ihre Ursprungsgebiete. Die Dörfer in Hauraman, egal ob muslimisch oder von Kakai bewohnt, wurden zum Teil erneut aufgebaut.
Dann aber kamen die Islamisten. Anfang des neuen Jahrtausends setzte sich die radikalislamistische, Al Qaida nahe stehende Organisation Ansar al Islam in der unwegsamen Gebirgsregion fest und errichtete eine Art Kalifat.

»Eines Tages kamen so dreißig bewaffnete Islamisten hierher und erklärten, sie regierten jetzt und würden bald ganz Kurdistan kontrollieren«, erinnert sich Jara, ein alter Mann in Hawar. »Sie stellten uns vor die Wahl, entweder zum Islam zu konvertieren oder als Ungläubige extrem hohe Steuern zu zahlen. Sie beschimpften uns als Hunde und Schweine und verbreiteten Angst.« Erneut setzte eine Fluchtbewegung ein. Wer konnte, zog erneut weg, ein paar Familien lebten fortan unter dem Tugendterror der Islamisten. Bis dann im Jahr 2003 amerikanische Truppen und kurdische Milizen Ansar al Islam besiegten und Saddam Husseins Regime gestürzt wurde.
Seitdem gilt der Hauraman zwar immer noch als recht unsicheres Gebiet, denn nur wenige Kilometer entfernt, auf der iranischen Seite der Grenze, unterhalten die radikalen Islamisten ein Camp und kommen noch häufig über die Grenze, um klei­nere bewaffnete Aktionen durchzuführen. Aber weder müssen die Kakai unter der kurdischen Regierung Repressionen fürchten – der Kul­tusminister stammt sogar aus ihrer Gruppe – noch glaubt man, die Islamisten könnten wieder Fuß fassen. »Deren Zeit ist vorbei«, meint Jamil, »bei den letzten Wahlen in Kurdistan haben die sogar nur zwei Prozent der Stimmen bekommen.«
Und nun, wo endlich eine bessere Zukunft in Aussicht stehen könnte, bleibt das Wasser weg und die Region droht zur Wüste zu werden. Die direkten Folgen wären für die Bewohner Hawars im Ge­gensatz zu hunderten von anderen Dörfern nicht so dramatisch, lebt inzwischen die Mehrheit der Bewohner doch wieder in Halabja oder sogar Suleymaniah, und sie kommen nur an Wochenenden in ihr Dorf, um etwas Landwirtschaft zu betreiben oder wegen der Sommerfrische. Denn als Bauer kann man in Irakisch-Kurdistan kaum seine Existenz sichern. Die Ölmillionen, von denen Kurdistan ökonomisch zu 98 Prozent abhängig ist, bleiben in den Städten. Es ist wesentlich lu­kra­tiver, einen Job im vollkommen aufgeblähten public sector anzunehmen, als mühevoll sein Land zu bestellen. So verlassen immer mehr Bauern ihre Dörfer und ziehen in die Städte, ihre Äcker lie­gen brach und versteppen. Fragt man auf dem Markt in Suleymaniah, wo Tomaten, Zwiebeln oder Kartoffeln herkommen, hört man fast immer: »aus dem Iran«. Dabei war Kurdistan noch vor 30 Jahren die Kornkammer des Irak und versorgte fast das ganze Land mit Getreide und Gemüse.
Jetzt droht vielen der verbliebenen Bauern das Aus. Und das nicht nur im kurdischen Nordirak. Die Folgen der Dürre sind für die ganze Region ver­heerend. Berichte aus Syrien, dem Iran und anderen Teilen des Irak sind alarmierend. Im hauptsächlich von Kurden besiedelten Nordosten Syriens sollen in diesem Jahr alleine 150 000 Bauern wegen der Trockenheit ihre Lebensgrundlage verloren haben, im Iran meldete eine staatliche Nachrichtenagentur im Sommer, dass einer der größten Süßwasserseen des Landes, Lake Parishan, endgültig ausgetrocknet sei. Und auch aus dem Süden des Irak hört man Verheerendes. Sollte es nicht bald regnen, sei die Existenz von über zwei Millionen Menschen bedroht. Wie erst kürzlich ein Reporter der BBC berichtete, droht in ganzen Landstrichen das Trinkwasser auszugehen. Außerdem sei der Pegel von Euphrat und Tigris inzwischen auf historische Tiefststände gefallen, so dass die Elektrizität produzierenden Wasserturbinen nicht mehr arbeiten könnten. In der Folge bräche die Stromversorgung mehr und mehr zusammen.
Salah Aziz, Planungsdirektor im Land­wirt­schafts­ministerium in Bagdad, warnte bereits im Frühsommer vor dramatischen Ernteeinbußen: »Dieses Jahr werden weniger als 50 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen genutzt und die Ernteerträge sind schlecht. Deshalb werden wir die­ses Jahr nicht mehr als 40 Prozent der Binnennachfrage decken können.« Jüngsten Daten aus Bagdad zufolge liegen inzwischen 696 000 Hektar Agrarland brach und sind nicht mehr zu bewirtschaften.
Im kurdischen Nordirak soll die Getreideernte gar um 80 Prozent zurückgegangen sein. Viele klei­nere Flüsse sind diesen Sommer ausgetrocknet, während der Grundwasserspiegel dramatisch gesunken ist. Stieß man bei Brunnenbohrungen in Suleymaniah Mitte der neunziger Jahre noch bei 15 Metern auf den Grundwasserspiegel, sollen neueste Brunnen schon über 100 Meter tief sein.

Auch die Nasa warnte dieses Jahr vor einer verheerenden Dürre. Mit Hilfe neuester Satellitenbilder demonstrierte sie, wie die ganze Region von Jahr zu Jahr trockener wird: In einem Halbmond, der von Nordsyrien in den Südiran reiche, herrsche eine alarmierende Trockenheit.
Was aber sind die Ursachen? Viele Erklärungen kursieren, auch unter den Bewohnern von Hawar. Aso Ary, der in Suleymaniah als Ingenieur ar­beitet und mit seiner Familie übers Wochenende gekommen ist, macht Saddam Hussein verantwortlich. Dessen Politik, die riesigen Sumpfgebiete im Südirak auszutrocknen, habe das Mi­kro­klima in der Region verändert. »Früher zogen diese Wasserflächen feuchte Luft vom Mittelmeer an, die dann über den kurdischen Bergen abregnete. Heute haben wir fast nur noch Winde aus dem Süden, der saudischen Wüste, die extrem trocken sind«, meint er. Auch US-amerikanische Klima-Experten vermuten, dass die Eingriffe der Baath-Diktatur in das südirakische Ökosystem gravierende Folgen für die Region haben. Weil die Sümpfe, die sich nördlich des Zusammenflusses von Euphrat und Tigris erstreckten, das Rückzugs­gebiet schiitischer Rebellen waren, ließ das Regi­me von Saddam Hussein sie vollständig trocken­legen. Das Gebiet von der Größe Hessens verwandelte sich in eine Steppe, erst nach 2003 wurden Teile wieder geflutet.
Andere machen die Türkei, Syrien und den Iran verantwortlich. Alle drei Länder haben in den vergangenen Jahren gigantische Staudammprojekte verwirklicht, um auf diese Weise die Wasserkrise in ihren Ländern zu bewältigen. Eine regionale Kooperation existiert allerdings nicht, jedes Land versucht, so viel Wasser wie möglich für sich abzuzweigen. In der Folge ändert sich das Mikroklima beträchtlich, darin sind Experten sich einig.
Dazu kommen demographische Faktoren: Bevölkerungsexplosion und Verstädterung führen zu einem größeren Wasserbedarf, während Sparprogramme bislang unbekannt sind. Noch immer sieht man täglich Bewohner der Städte, die ihre Autos mit Unmengen Wasser waschen, Bordsteine und Straßen werden mit Wasserschläuchen gereinigt, eine Trennung in Trink- und Brauchwasser gibt es nicht.

Auch ökologisch hat die Dürre verheerende Folgen. Die austrocknenden Seen im Iran sind oft das einzige Refugium für seltene Wasservögel und Schildkröten gewesen, die nun zu Tausenden ster­ben. In Mosul, so berichtet ein Bekannter, stehe das Wasser des Tigris so niedrig, dass Fische bereits sterben.
Auch wenn unklar ist, welche Faktoren für die katastrophale Lage verantwortlich sind, ob der globale Klimawandel oder der Eingriff regionaler Regierungen, wenn es in diesem Winter nicht regnen wird, kommt es in der fruchtbaren Region zu weiterem menschlichen Elend, zu Flucht und vermutlich sogar zu Hungersnöten. Die Struktur der ganzen Region wird sich ändern. Heute wirkt es fast wie bittere Ironie, dass Bewohner des Zwei­stromlandes bis vor einem halben Jahrhundert vor allem gegen saisonale Überflutungen zu kämpfen und Wasser im Überfluss hatten.
»Unsere Kinder wissen nicht mehr, wie es ist, im Sommer hier zu baden«, kommentiert Jamil resigniert die Lage. Von der kurdischen Regionalregie­rung oder der irakischen Regierung erhofft er sich wenig. Zwar haben die Kurden erst dieses Jahr erklärt, ein groß angelegtes millionenschweres Programm zur besseren und intensiveren Nutzung der Wasservorräte der Region vorzulegen, aber solchen Versprechungen traut man hier nicht. Zu deutlich sind überall die Zeichen von Korruption und Verschwendungssucht. Und auf nationaler Ebe­ne ließe das immense Problem sich sowieso nicht bekämpfen; eine regionale Kooperation mit internationaler Unterstützung wäre notwendig. Derartiges aber funktioniert im Nahen Osten leider nicht.
Auf dem Rückweg durch das idyllische, noch grü­ne Tal blickt man auf Granatäpfel und die dicht wachsenden Walnussbäume. Vielleicht sind sie im kommenden Jahr schon trockenes Gestrüpp.
Abends sitzen wir beim Schein einer Öllampe im Haus von Mam Jara, einem alten Schmuggler und kurdischen Widerstandskämpfer, der Hawar allem städtischen Trubel vorzieht und einer der wenigen ist, die auch unter der Woche hier leben. Sein Nachbar kommt zu Besuch, er ist völlig betrunken und kann nur mit schwerer Zunge sprechen. Er fragt, ob wir noch etwas zu trinken haben. Einer unserer Begleiter klärt uns auf: »Er hat zehn Jahre in irakischen und iranischen Gefängnissen gesessen und zwei Scheinhinrichtungen er­leben müssen. Seine beiden Söhne wurden vom irakischen Geheimdienst ermordet, und seine Frau starb 1991 auf der Flucht.« Seitdem betrinkt er sich Tag für Tag. Irakische Schicksale, von denen es Hunderttausende gibt. Alte Männer, die bald nicht mehr sein werden und ihre Erinnerungen, die niemand je aufgeschrieben hat, mit ins Grab nehmen werden. Immerhin hat die nächste Generation nur mit Problemen wie dem Wassermangel zu kämpfen. Zwei unserer Begleiter sind Mitte zwanzig, für sie ist der Terror unter Saddam Hussein nur noch eine ferne Erinnerung, wach ge­halten von alten Männern.
Gerade kommt ein Anruf aus Suleymaniah. Ein Freund berichtet euphorisch, in den vergangenen Tagen habe es so viel geregnet, wie im ganzen vergangenen Jahr nicht. Sollte es diesen Winter so weitergehen, meint er, wäre erst einmal das Schlimmste abgewendet.