Über den Film »Wenn Ärzte töten«

Heil und Unheil

Angeregt durch Dokumente über die Auschwitz-Prozesse, begann der amerikanische Psychiater Robert Jay Lifton über die Beteiligung der Ärzteschaft am Holocaust zu forschen. Er interviewte Mediziner, die in Auschwitz folterten und mordeten, und Überlebende. In dem Dokumentarfilm »Wenn Ärzte töten« spricht er über seine Forschungen.

Der bedächtige ältere Herr spricht im heimischen Arbeitszimmer über seine Forschungen über Nazi-Ärzte. Die Kamera lässt ihm Zeit. Unbelästigt von historischem Bildmaterial und erläuternden Kommentaren, entwickelt der Harvard-Professor Robert Jay Lifton seine Überlegungen. Gelegent­liche Schnitte auf das Meer, das direkt vor seiner Haustür liegt, geben dem Film eine visuelle Struktur. Der Dokumentarfilm hat es nicht immer leicht mit den Bildern. »Radikale Reduzierung« nennt es der Verleih.
Offensichtlich geht es den Filmemachern darum, dem Mann zuzuhören. Robert Jay Lifton – der Psychiater ist zum Zeitpunkt des Filminterviews 83 Jahre alt – hat in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren mit vielen Holocaust-Überlebenden gesprochen und mit etwa 40 Nazi-Ärzten Interviews geführt. Die Ärzte zeigten sich gesprächsbereit, nicht zuletzt weil ihnen Anonymität und Vertraulichkeit zugesagt wurde. Das Material war die Grundlage des 1986 erschienenen Buches »The Nazi Doctors. Medical Killing and the Psychology of Genozid«, auf Deutsch 1988 unter dem Titel »Ärzte im Dritten Reich« publiziert.
Liftons Forschungsfrage lautete: Wie wurden aus normalen Ärzten Nazi-Mörder? Dieselbe Frage stellt ihm nun der Film von Hannes Karnick und Wolfgang Richter, »Wenn Ärzte töten«. Was musste passieren, dass auf den hippokratischen Eid verpflichtete Mediziner sich an einem Zwangssterilisationsprogramm beteiligten, systematisch Euthanasiemorde begingen, Selektionen an der Rampe in Auschwitz leiteten, Häftlinge mit Phenolspritzen töteten und me­dizinische Versuche vornahmen, die in den meisten Fällen zum Tod führten?
Zwischen den maritimen Impressionen spricht Lifton folglich über eine Weltanschauung, die sich auf Sozialdarwinismus und Eu­genik stützte, mithin eine nicht geringe Zahl der Ärzte genau da abholte, wo sie ohnehin stand. Er spricht über die Berufsgruppe mit dem höchsten Prozentsatz von NSDAP-Angehörigen und über die Bereitwilligkeit, mit der sie sich vielfach auf die »Heilung des Volkskörpers« verpflichten ließ. Er zitiert Rudolf Hess mit dem Ausspruch, Nationalsozialismus sei angewandte Biologie, deutet die sich eröffnenden Karrierechancen an und erwähnt die traditionelle Nähe der Mediziner zum Staat, insbesondere der Psychiater. Er spricht über das Standesdenken der Mediziner, ihren Dünkel und den Mythos vom Schamanen, der Leben und Sterben entscheidend zu beeinflussen vermag.
Die Ärzte nahmen in den Gesprächen, von denen Lifton auch erzählt, unterschiedliche Haltungen zu den jeweiligen Tatkomplexen ein: Über Zwangssterilisation zu räsonieren, machte ihnen keine Probleme, über das Öffnen des Ventils der Kohlenmonoxidgasflaschen in den Euthanasiemordanstalten sprachen sie dagegen nicht gerne, und über das, was man in Auschwitz tat, fanden sie kaum mehr Worte. Ansonsten waren alle wohlauf, lebten in guten Verhältnissen und vermittelten schon mal den Eindruck, sie hätten den Krieg gewonnen. Einer der befragten Ärzte las während des Interview-Projekts zufällig im Time-Magazin, dass Lifton Jude ist, worauf er ihm beim nächsten Treffen versicherte, die Geschehnisse zwischen beiden Völkern hätten auf einem großen Missverständnis beruht.
Es scheint, als sei damit eine halbwegs vernünftige Antwort auf die Leitfrage möglich: Im Rahmen einer staatsweiten völkischen Mobilisierung wurde gegen verschiedene als störend und unproduktiv qualifizierte Bevölkerungsgruppen vorgegangen. Medizinern bot sich die Möglichkeit, die Vorgänge anzuleiten und zu realisieren, denn diese wurden in bio-wissenschaftlichen Termini beschrieben. Die Sozialisierung zum Arzt war dabei ebenso förderlich wie das persönliche Karrierestreben. Braucht man mehr? Welche Art von Erklärung lässt einen besser verstehen, was ordinary physicians getan haben?
Die Filmpremiere in Frankfurt wird vom Sigmund-Freud-Institut mitveranstaltet. Im Anschluss an die internationale Tagung »Denk ich an Deutschland … « strömen die Teilnehmer in großer Zahl ins Kino. Der eigens aus den USA eingeflogene Lifton war mit dem Ahnherrn des Instituts und Autoren des ersten Buchs über die Medizinverbrechen, Alexander Mitscherlich, befreundet. Lifton ist auch Mitglied der Vereinigung Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, die 1985 den Friedensnobelpreis bekommen hat und deren langjähriger Vorsitzender ebenso im Publikum sitzt wie Horst Eberhard Richter und Hilmar Hoffmann. Letztgenannter hat als Leiter der Oberhausener Kurzfilmtage den Regisseur von »Wenn Ärzte töten« bereits bei dessen Frühwerk begleitet. An diesem Abend rundet sich so manche Geschichte. Man feiert mit dem Film auch die Weltsicht eines vormals alternativ genannten Milieus, das sich zuschreibt, die Lehren aus Au­schwitz verstanden zu haben. Die Frage also, ob es mehr braucht, um die genannten Taten zu verstehen, wird mit Ja beantwortet: Es braucht eine psychologische Erklärung.
Lifton stellt sich in die Tradition derer, die auf der Unzugänglichkeit des Forschungsgegenstands Auschwitz beharren. Der »Planet ­Auschwitz« sei ein »böses, mystisches Krankenhaus« gewesen, das von den dort Tätigen die Dissoziation in ein »Arzt-Selbst« und ein »Auschwitz-Selbst« erzwang (ein »faustischer Pakt«). Er glaubt, dass die Ärzte, bevor sie in Auschwitz eintrafen, zu den Untaten eigentlich nicht in der Lage gewesen seien: Der Ort überwältigt sie und provoziert einen Abstumpfungsprozess, der zu einer »Dopplung« (oder auch Spaltung) des Selbst führt. Lifton betont, dass die jeweiligen Mediziner gleichwohl die volle Verantwortung für ihr Handeln trügen. Er übergeht jedoch, was er in seinem Buch zumindest angedeutet hat: Zahllose Ärzteverbrechen geschahen an weniger hermetischen Orten, etwa in Bernburg oder Grafeneck (Euthanasiemorde), in Straßburg oder Berlin (Forschung an Gehirnen und Augen Ermordeter), in Kaufbeuren oder Ueckermünde (so genannte Kinder­euthanasie).
In Liftons Buch – man kann es an diesem Premierenabend im Foyer kaufen – treten die exkulpatorischen Tendenzen deutlich hervor, im Film wird der Erklärungsansatz der »Dopplung« nur knapp ausgeführt. Hier ist es die Dramaturgie des Films, die darauf abstellt, dass die Frage nach dem Funktionieren der Ärzte im NS-System in einen Bereich des Transzendenten führt, an einen Ort, an dem man des Mystizismus des Bösen, des Bösen schlechthin habhaft zu werden hofft. Psychiater und Psychoanalytiker verstehen das als ihr Arbeitsfeld.

»Wenn Ärzte töten« (D 2008). Buch: Wolfgang Richter. Regie: Hannes Karnick/Wolfgang Richter. Filmstart: 3. Dezember