Abdruck aus dem Buch »Multikulturalismus auf dem Prüfstand«

Was kann denn dieser Mohr dafür, dass er so weiß nicht ist wie ihr?

Es lebe die Rassenvielfalt! Wie sich die Neue Rechte der multikulturellen Identitätspolitik bedient.

Bereits Ende der achtziger Jahre wiesen kritische Rassismusforscher wie Pierre-André Taguieff und Alain Finkielkraut darauf hin, dass der differentialistische Antirassismus dem Neorassismus und der damit verbundenen Ideologie des Ethnopluralismus Vorschub leiste. Dies drücke sich insbesondere durch die multikulturelle Identitätspolitik des »Rechts auf Differenz« aus und habe so zur Verbreitung der neu-rechten Ideologie beigetragen. Dadurch wird deutlich, dass der Kulturrelativismus nicht in einem grundlegenden Widerspruch zur Ideologie der Neuen Rechten steht, sondern ganz im Gegenteil Anschlussstellen für deren menschenfeindliches Potenzial bietet.
Diese Feststellung basiert auf der Beobachtung, dass sich diese Konzepte im Laufe der achtziger Jahre in ganz Europa in einem »autoritär-populistischen Netzwerk, bestehend aus den sich neu formierenden faschistischen Parteien, den Intellektuellenzirkeln der so genannten Neuen Rechten, den neokonservativen Regierungen samt politisch-juristischen Bürokratien bis hin zu den starken Worten am familiären Wohnzimmertisch« (1), zunehmend verbreiteten. Der Neorassismus als »Rassismus ohne Rassen« (2) lässt sich durch verbale beziehungsweise kontextuelle Verschiebungen von der »Rasse« zur Kultur, vom Biologismus zum Kulturalismus, von der »rassischen Reinheit« zur »authentischen« kulturellen »Identität« und von der Ungleichheit zur Differenz charakterisieren. (3) Parallel zur Vermeidung biologistischer Argumentationsweisen werden imaginäre essenzialistische, kulturelle »Identitäten« verteidigt und die Differenzen zwischen unterschiedlichen Kulturen verherrlicht. Mit dem »Lob der Differenz« (Taguieff) wird im Neorassismus scheinbar nicht mehr eine Überlegenheit der eigenen Gruppe gegenüber den »Anderen« behauptet. Anstatt einer Hierarchisierung werden nicht zu überschreitende Differenzen zwischen den einzelnen Kulturen und Ethnien festgeschrieben, was eine »Verabsolutierung der Differenz« (Taguieff) zur Folge hat. Unter Hinweis auf die prinzipielle Gleichwertigkeit unterschiedlicher Kulturen stützt sich der Neorassismus nicht mehr auf heterophobe, sondern ausdrücklich auf heterophile Aussagen (4), mit denen die Abwehr jeder kulturellen Mischung untermauert wird. Auf dieser Argumentation basiert die neu-rechte Auslegung des »Rechts auf Differenz«, das sich des extrem kulturrelativistischen Prinzips der Unvereinbarkeit bedient und eine uneingeschränkte Trennung von Kulturen fordert. Mit einer antirassistischen und kulturrelativistischen Rhetorik setzt sich die neorassistische Ideologie als implizite, unterschwellige Erklärung für die Legitimation von Ausgrenzungs- und Diskriminierungspraktiken durch. Diese treten nicht mehr offen rassistisch in Erscheinung, sondern sollen dem vermeintlichen Schutz aller Kulturen dienen. (5)
Es sei darauf hingewiesen, dass der Neorassismus keine grundlegend neue Ausprägung des Rassismus ist und ebenso wenig als reine Abspaltung des biologischen Rassismus angesehen werden kann. Es hat kein vollständiger Paradigmenwechsel stattgefunden, wie Taguieff argumentiert, da der Rassismus schon immer eine Verbindung von kulturalistischen und biologistischen Komponenten hergestellt hat. Wo aus dem Begriff der »Rasse« der der »Kultur« wird, wird der Rassismus letztlich in die sozialen Praxisformen eingeschrieben (6), wodurch die beiden Komponenten eng aneinander gekoppelt sind. Auch der Neorassismus beruht auf der Konstruktion statischer Identitäten, der essenzialistischen Wahrnehmung von Unterschieden und auf Ein- und Ausschlusspraktiken. Diese wurden nach der Diskreditierung des biologischen Rassismus letztlich nach kulturalistischen Kriterien umformuliert, folgen jedoch denselben rassistischen Denkstrukturen. An­drea Wolf unterstreicht: »Wenn Kultur als unveränderbar gedacht wird, sie einer Vererbung gleichkommt und als zum innersten Wesen eines Menschen gehörig gerechnet wird, erfüllt sie die gleiche Funktion wie ›Rasse‹. Kultur wird gleichsam in eine zweite Natur transformiert. Auf diese Weise aber hören menschliche Eigenschaften auf, Bestandteil eines konkreten geschichtlichen Prozesses zu sein, und gerinnen zu einer ewigen, unveränderbaren, unzugänglichen Identität.« (7)
Nicht das kulturalistische Argument ist die Neuheit, sondern die Abwesenheit des biologischen Arguments, ohne dessen Prämissen, Absichten und Auswirkungen dementieren zu müssen. (8) Kultur und »kulturelle Identität« gelten nunmehr als vermeintlich zeitgemäße angemessene Begriffe, die für eine Beschreibung und Unterscheidung von Menschen und Menschengruppen in Verbindung mit kulturrelativistischen Theorieelementen eine enorme gesellschaftliche Akzeptanz erreicht haben. Das rassistische Verhalten der Mehrheitsgesellschaft, die Abwehr des »Fremden« und somit der Einwanderung wird als quasi natürliche Reaktion auf die Angst vor dem angeblich drohenden Verlust der eigenen »Identität« erklärt, wodurch wiederum Diskriminierungs- und Ausschlusspraktiken legitimiert werden. Diese Auffassung wurde vermehrt seit den achtziger Jahren von der Neuen Rechten verbreitet und hat mittlerweile in unterschiedlichen Ausprägungen Eingang in den etablierten Mainstream gefunden.
Die intellektuellen Theoretiker der Neuen Rechten formierten sich in Europa seit Mitte der sechziger Jahre. Als Vorreiter gelten die französische »Nouvelle Droite« mit ihrem Chefideologen Alain de Benoist und seinem Theoriekreis »Groupement de Recherche et des Études de la Civilisation Européenne« (GRECE). Theoretisch orientiert sich die Neue Rechte vornehmlich an Herders Kulturkreistheorie (9), »am Vorbild der ›Konservativen Revolution‹ der Weimarer Republik« (10), an Carl Schmitts antiliberalem und anti-universalistischem Politikverständnis sowie strategisch-plagiatorisch an den Theorien des italienischen Marxisten Antonio Gramsci über kulturelle Hegemonie und über die Rolle der Intellektuellen. Die Zielsetzung der »Nouvelle Droite« und ihrer Anhänger ist es, die neu-rechte Ideologie zu modernisieren, an zeitgenössische Diskurse anzupassen und strategisch durchzusetzen.(11) Mit ihrer Strategie richtet sich die Neue Rechte gegen jede Form des Egalitarismus, Universalismus und Liberalismus.
In ihrer Begründung des Neorassismus beruft sich die Neue Rechte auf die zunehmende Aufwertung von Kultur und »kultureller Identität« und den differentialistischen Antirassismus. Einige Ideologen beziehen sich explizit auf Lévi-Strauss. (12) So postuliert Benoist in seinem »Europäischen Manifest für das 21. Jahrhundert« unter dem Titel »Aufstand der Kulturen« mit der Rhetorik des Antirassismus und Kulturrelativismus »die Vielfalt der Völker und der Kulturen« als »den eigentlichen Reichtum der Menschheit«. (13) Es gehe nicht um den Ausschluss des »Anderen«, sondern um die Hervorhebung, die Anerkennung und den Schutz der kulturellen Unterschiede.
Der Ethnopluralismus als rechtspopulistische Ideologie (14) entstand im Kontext der verstärkten Einwanderung aus den ehemaligen Kolonien nach Europa zur Zeit der Dekolonisierung in den sechziger Jahren. Es handelt sich dabei in erster Linie um einen Anti-Einwanderungs-Diskurs, in dem die Empörung über eine angebliche Invasion von Zuwanderern als vermeintlich natürliche Reaktion zur Verteidigung der nationalen Kultur forciert wird. Im Kern bezeichnet der Ethnopluralismus »die Aufteilung der Menschen in durch die ›Ethnie‹ oder ›Rasse‹ bestimmte ›Völker‹, die in strikt getrennter Entwicklung und abgegrenzten Territorien ›nebeneinander‹ leben sollen«. (15)
Kulturen gelten als statische und hermetisch abgeschlossene Einheiten mit jeweils grundlegend verschiedenen Eigenheiten und einer homogenen Identitätsbildung, die in der neu-rechten Rhetorik formal als gleichwertig, im selben Zuge jedoch als miteinander unvereinbar dargestellt werden. Die Verschiedenheit der Kulturen zeichnet sich für die Neue Rechte folglich durch eine Koexistenz von »schicksalhaften Einzelkulturen« (16) aus, die aufgrund einer angeblichen Nivellierung kultureller Differenzen durch die voranschreitende Globalisierung in ihrer Existenz bedroht seien. Vor diesem Hintergrund geht es der Neuen Rechten bei der Wahrung und Selbstbehauptung der Kulturen insbesondere um den Erhalt des »europäischen Kulturraums«, der unvereinbar mit anderen »Kulturräumen« sei. (17) Zur »Reinhaltung« der »kulturellen Identität« und zur Vermeidung eines durch den Multikulturalismus entstehenden »Ethnozids« (Benoist) sei zum Schutz aller Kulturen eine strikte Trennung der Kulturen einzuhalten. Mit dem Begriff des »Ethnozids« wird ein Szenario der vorsätzlichen Auslöschung ganzer Kulturen und Sprachen durch »Kulturvermischung« imaginiert, die zum geistigen Tod der Menschen führe und somit einem Völkermord gleiche. Damit wehrt die Neue Rechte jede Form der Multikultur beziehungsweise des Multikulturalismus ab, da diese die Zersetzung des ethnisch homogenen »Volkskörpers« zur Folge habe.
Mit dieser radikalen Überspitzung des Kulturrelativismus wird festgeschrieben, dass es unmöglich sei, den »Anderen« beziehungsweise »Fremden« zu integrieren. Aus dem »Recht auf Differenz« wird eine Pflicht abgeleitet, den kulturellen Traditionen treu zu bleiben und sich vor »fremden« Einflüssen zu schützen. Die Welt, durch eine »Vielzahl und Vielfalt der Rassen, der Ethnien, der Sprachen, der Sitten oder Religionen« (18) gekennzeichnet, beschreibt Benoist als ein »Pluriversum, eine multipolare Weltordnung, in der sich große Kulturgebilde in einer weltweit geteilten Zeitlichkeit« (19) gegenüberstünden und sich vor dem Einfluss anderer Kulturen zu schützen hätten. Als Verteidigungsstrategie für den Erhalt der eigenen Kultur beschwört Benoist den Kampf gegen die Verwestlichung, den Universalismus, die Menschenrechte (20) und die Globalisierung herauf.
Um eine offen rassistische und ausländerfeindliche Rhetorik zu umgehen, werden sowohl Migrantinnen und Migranten als auch die Mehrheitsgesellschaft gleichermaßen zu Opfern »einer identitätszerstörenden, US-amerikanisch dominierten Globalisierung« (21) stilisiert. Die Immigration sei, wie Benoist propagiert, eine durch die Logik des Kapitals entstandene »Zwangsentwurzelung«. (22) Zur strategischen Durchsetzung der neu-rechten Vision des »Pluriversums« beruft er sich auf antikolonialistische und antiimperialistische Befreiungsbewegungen sowie auf die Black-Power-Bewegung: »Ich bin für die Nicht-Diskriminierung, für die Entkolonisierung, für das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Aber unter einer Bedingung: dass es keine Ausnahmen von der Regel gibt. (…) Man hat das Recht, für die Black Power zu sein, aber unter der Bedingung, dass man gleichzeitig für die White Power, die Yellow Power und die Red Power ist.« (23)
Diese von Taguieff als »Retorsion« (24) bezeichnete Strategie folgt der »Wiederaufnahme, Wandlung und Aneignung-Enteignung« (25) der gegnerischen Begriffe, Themen und Argumentationsstränge, »um den Gegner auf dem ihm eigenen ideologischen und diskursiven Terrain zu bekämpfen«. (26) So ruft Benoist einen »Kampf gegen den Rassismus« aus, in dem es weder um »die Negierung der Rassen« noch um »den Willen, sie in ein undifferenziertes Gebilde zusammenzuschmelzen« (27), gehe, sondern um »die doppelte Ablehnung des Ausschlusses und der Assimilierung. Also weder apartheid noch melting-pot, sondern Annahme des Anderen als Anderen in einer dialogischen Sicht gegenseitiger Bereicherung«. (28)
Dieser »Dialog« bestehe in der Zusammenarbeit mit den Ländern der Dritten Welt, die Benoist als »Formen der organischen Zusammengehörigkeit« (29) glorifiziert, deren traditionelle Lebensformen noch am ehesten erhalten geblieben seien. Das dahinter stehende Ziel ist die Eindämmung einer weiteren Zuwanderung und die Zurückweisung eines multiethnischen Zusammenlebens unter dem Vorwand des Schutzes aller kollektiver »Identitäten« und der kulturellen Unterschiede. In der konkreten Absicht und praktischen Konsequenz heißt genau dies jedoch eine »Politik der Apartheid« (30) entlang kultureller, ethnischer und völkischer Kategorien. Mit seiner Retorsions-Taktik bedient sich Benoist im nächsten Schritt des kommunitaristischen Modells. Demnach sollte es den Menschen möglich sein, »sich nicht von ihren Wurzeln abzutrennen, ihre Strukturen kollektiven Lebens aufrechtzuerhalten und die Achtung eines notwendigen gemeinsamen Gesetzes nicht mit der Aufgabe der eigenen Kultur zahlen zu müssen«. (31)
Was die Migrationspolitik angeht, spricht sich Benoist in vermeintlich progressiver Manier für einen vom Kommunitarismus geprägten gemäßigten Multikulturalismus aus, der neben der Ablehnung von Assimilation und Apartheid jedoch zu einer eindeutigen »Trennung von Staatsbürgerschaft und Staatsangehörigkeit« (32) führen solle. So verknüpft er die mit der Staatsbürgerschaft einhergehenden sozialen und politischen Rechte mit der ethnischen und nationalen Herkunft, sodass Einwanderern die Möglichkeit verwehrt bleiben soll, als rechtlich gleichgestellte Bürgerinnen und Bürger im so genannten Aufnahmeland zu leben. Diese Form des rassistischen Multikulturalismus scheint zwar die Anwesenheit von Migrantinnen und Migranten zu dulden, jedoch nur, sofern sie soziale oder ökonomische Vorteile mit sich bringt und die Möglichkeit des sozialen und politischen Ausschlusses, der Diskriminierung und Entrechtung offenhält. Eine Distanzierung und Ablehnung von Menschen mit Migrationshintergrund wird einerseits als natürliche Reaktion auf das »Fremde« angesehen, andererseits mit der unterstellten Integrationsunwilligkeit oder auch Integrationsunfähigkeit bestimmter Gruppen begründet. Dabei spielt die kulturelle oder ethnische Zugehörigkeit eine zentrale Rolle.
Diese dem Neorassismus und Ethnopluralismus inhärente kulturalistische Homogenisierung und Essenzialisierung des eigenen sowie des »fremden« Kollektivs dient der Verschleierung gesellschaftlicher Ausschlüsse und der Legitimierung von Dominanzansprüchen. So stellt die neu-rechte Vision eines »Pluriversums« einen radikalen Gegensatz zu einer freiheitlichen, pluralistischen Gesellschaft dar, da die »Spielräume persönlicher Lebensgestaltung« durch eine »vermeintlich schicksalhafte Bindung an primor­diale kulturelle Gruppen­identitäten« (33) verdrängt werden sollen. Diese bis in die Mitte der Gesellschaft verbreitete Abwehr eines gesellschaftlichen und demokratischen Pluralismus dient allgemein einem »herrschaftsstabilisierenden Diskurs«, der explizit auf eine »Legitimation sozio-ökonomischer und gesellschaftspolitischer Interessen« (34) zielt und die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe aller Mitglieder dauerhaft verweigert. (35)
Im Jahr 2000 stießen in Deutschland konservative Politikerinnen und Politiker in ihrer Polemik gegen den Multikulturalismus die Debatte über die »deutsche Leitkultur« (36) an, bei der sie Verfassungstreue und Sprachkompetenz von Einwanderern einforderten und sich zugleich zu einer deutschen Kultur und »Identität« bekannten. Angehörige der Neuen Rechten griffen den Begriff der »deutschen Leitkultur« auf und nutzten ihn für die Verbreitung ihrer neorassistischen und ethnopluralistischen Ideologie. (37) Dies geschah unter Rückgriff auf das Theorem des »Rechts auf Differenz«, auf die von Samuel Huntington entwickelte These vom »Clash of Civilizations« sowie auf Argumentationsmuster des differentialistischen Antirassismus. Mit der Konstruktion eines Szenarios der Bedrohung durch eine multikulturelle Gesellschaft sowie der damit verbundenen Rückbesinnung auf die »deutsche Kulturnation« und ein »deutsches Nationalgefühl« wurden repressive Maßnahmen in der Asyl- und Migrationspolitik legitimiert. (38)
Die Kritik am differentialistischen Antirassismus, wie sie Taguieff formuliert, entlarvt die Fixierung der Antirassistinnen und Antirassisten auf den biologischen Rassismus, die von einer Blindheit gegenüber den Gefahren der eigenen kulturrelativistischen Argumentation geprägt ist, die fließende Übergänge zur neu-rechten Ideologie des Neorassismus aufweist. Nachdem diese Kritik insbesondere in den neunziger Jahren in die antirassistische Theorie aufgenommen worden war, ist bei sich als antirassistisch verstehenden Multikulturalisten eine Sensibilität gegenüber dem neu-rechten Konzept des »Rechts auf Differenz« gewachsen. Dennoch kann festgehalten werden, dass der am differentialistischen Antirassismus anknüpfende Multikulturalismus wesentlich dazu beigetragen hat und nach wie vor dazu beiträgt, dass Menschen mit kulturalistischen, ethnischen und deterministischen Zuschreibungen versehen werden, und somit – bewusst oder unbewusst – eine Allianz mit dem differentialistischen Rassismus eingeht. Sowohl im Multikulturalismus als auch im Ethnopluralismus stehen die Verteidigung der kulturellen »Identität«, der Erhalt kultureller Differenzen und ein statischer Kulturbegriff im Mittelpunkt, was eine Kulturalisierung des Politischen nach sich zieht. Dies bedeutet, dass politische Konflikte nicht mehr verhandelbar sind, sondern als kulturell begründete, unvereinbare Gegebenheiten festgeschrieben werden. Jost Müller schreibt über die »geheimen Korrespondenzen zwischen dem differentiellen Rassismus der Neuen Rechten und dem durch die multikulturalistische Ethik fundierten Antirassismus«: »Im multikulturalistischen Antirassismus scheint ein Konzept gefunden, das gerade in der ›Begegnung der Vielfalt der Kulturen‹ den Rassismus abzulösen und historisch zu überwinden sucht. Allerdings verdeckt die multikulturalistische Ethik, dass die ›multikulturelle Gesellschaft‹ nicht auf der horizontalen, das hieße, der gleichgültigen, sondern auf der vertikalen, das heißt, der dominierten Koexistenz der verschiedenen ›Kulturen‹ beruht.« (39)
Ohne kulturelle Unterschiede zwischen Menschen leugnen zu wollen, muss das Augenmerk auf die politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen, Kämpfe und Differenzen gelegt werden. Nur so können sowohl die gesellschaftlichen Macht-, Ausbeutungs- und Dominanzverhältnisse in allen Bereichen und Teilen der Gesellschaft aufgedeckt werden als auch die gemeinsamen Effekte des Multikulturalismus und des Ethnopluralismus, insbesondere anhand der Kultur-, Identitäts- und Differenzkonzeptionen, erkannt werden. Mark Terkessidis analysiert die Wirkung des kulturellen Faktors wie folgt: »Der Begriff der Kultur erhält einen ent­individualisierenden und (faktisch unentrinnbaren) ethnischen Aspekt zurück und wird in die Politik überdehnt. Einerseits wird so die fundamentale Gleichgültigkeit der liberalen Demokratie gegenüber der kulturellen Lebensform tendenziell aufgehoben. Andererseits werden wirtschaftliche und politische Probleme (wie Krisen, Rassismus, Kriminalität etc.) nicht mehr in einem strukturellen Rahmen interpretiert, in dem man auch ihr historisches Gewordensein analysieren kann, sondern als unhistorische, im ›Raum‹ sich vollziehende kulturelle Erscheinungen.« (40)
Aufgrund der Angst, in die Falle rassistischer Zuschreibungen zu geraten, werden blinde Flecken des differentialistischen Antirassismus und Multikulturalismus in Kauf genommen. So tolerieren viele Antirassistinnen und Antirassisten allzu oft unkritisch eine Selbstethnisierung von marginalisierten Gruppen mit der Besinnung auf Traditionen, eine »kulturelle Authentizität« und auf autoritäre, vormoderne und patriarchale Gemeinschaftsstrukturen. Die Einsicht, dass diese Form der Identitätspolitik entgegen allen vermeintlich emanzipatorischen Absichten auch eine logische Folge des vorherrschenden Multikulturalismus und des differentialistischen Denkens ist, fällt dabei oft einer kulturrelativistischen Abwehr zum Opfer. Die Kritik an bestimmten Traditionen und Praktiken von marginalisierten Gruppen wird schnell als rassistisch und kulturimperialistisch denunziert, wodurch jedoch letztlich auf anderen Ebenen über Herrschaftsverhältnisse hinweggesehen wird.
Karin Priester weist auf diese Gefahr hin, die in der aktuellen Debatte um Multikulturalismus einen immer größeren Stellenwert einnimmt: »Wer sich unter multikulturellem Vorzeichen dem Vorwurf des Kulturimperialismus entziehen möchte, gerät leicht in die romantisch-rechte Sackgasse, unterschiedslos alle kulturellen Manifestationen einer Gruppe für schützens- und bewahrenswert zu halten und essentialistisch zu argumentieren, also Unterschiede als ›wesensmäßig‹, der anderen Ethnie unwiderruflich zu eigen, festzuschreiben. Dass sich hinter bestimmten Ansichten oder Praktiken ethnischer Minderheiten häufig nur vormoderne Herrschaftsansprüche verbergen, gerät dabei leicht aus dem Blick.« (41) Der »Rückzug auf die Primärgruppe« als eine geschlossene Lebenseinheit mit einer »essenzialistischen ›Kultur‹« (42) ist insbesondere in den europäischen Einwanderungsgesellschaften in den Blick geraten, was eine sehr kontroverse Auseinandersetzung um die Schattenseiten des bisher praktizierten Multikulturalismus angeregt hat.

Fußnoten:
(1) Jost Müller, Rassismus und die Fallstricke des gewöhnlichen Antirassismus, in: Redaktion »diskus«, Die freundliche Zivilgesellschaft, S. 25
(2) Vgl. Étienne Balibar, Gibt es einen »Neo-Rassismus«?, in: ders./Wallerstein, Immanuel, Rasse, Klasse, Nation: ambivalente Identitäten, 2.Aufl., Hamburg/Berlin 1988/1992, S. 23-38; Alain Finkielkraut, Die Niederlage des Denkens, Reinbek bei Hamburg 1987/1989
(3) Vgl. Pierre-André Taguieff, Die ideologischen Metamorphosen des Rassismus und die Krise des Antirassismus, in: Bielefeld, Uli (Hrsg.), Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt?, Hamburg 1998, S. 243
(4) Zum Widerspruch der Heterophobie und Heterophilie im Rassismus und Antirassismus vgl. Taguieff, Macht des Vorurteils, S. 35–49
(5) Vgl. Hartwig Pautz, Die deutsche Leitkultur: Eine Identitätsdebatte. Neue Rechte, Neorassismus und Normalisierungsbemühungen, Stuttgart 2005, S. 62–68
(6) Vgl. Müller, Fallstricke, S. 31
(7) Andrea Wolf (Hrsg.), Neue Grenzen. Rassismus am Ende des 20. Jahrhunderts, Wien 1997, S. 9
(8) Vgl. Thomas Meyer, Identitätspolitik. Vom Missbrauch kultureller Unterschiede, Frankfurt a. M. 2002, S. 70
(9) Karin Priester, Rassismus. Eine Sozialgeschichte, Leipzig 2003, S. 249 ff.
(10) Iris Weber, Nation, Staat und Elite. Die Ideologie der Neuen Rechten, Köln 1997, S. 11
(11) Die »Nouvelle Droite« galt stets als Vorbild für die Neue Rechte in Deutschland, die sich Anfang der achtziger Jahre um die Organisation »Thule-Seminar« formierte. Die folgenden Ausführungen beziehen sich zwar hauptsächlich auf Frankreich, können jedoch als Begründung des Neorassismus und Ethnopluralismus allgemein angesehen werden. Eine intensive Analyse der intellektuellen Neuen Rechten in Deutschland, insbesondere anhand der Zeitschrift »Criticón«, bei Friedemann Schmidt, Die Neue Rechte und die Berliner Republik. Parallel laufende Wege im Normalisierungsdiskurs, Wiesbaden 2001
(12) Mark Terkessidis, Kulturkampf. Volk, Nation, der Westen und die Neue Rechte, Köln 1995, S. 53
(13) Alain de Benoist, Aufstand der Kulturen. Europäisches Manifest für das 21. Jahrhundert, Berlin 1999, S. 9
(14) Eine genauere Ausführung findet sich bei Priester, Rassismus, S. 247–269
(15) Müller, Fallstricke, S. 42
(16) Terkessidis, Kulturkampf, S. 53
(17) Die neorassistische Vorstellung von einer Welt, die in unterschiedliche, unvereinbare Kulturen und Kulturräume einzuteilen sei, diente Samuel P. Huntington als Vorlage für sein Theorem eines »Clash of Civilisations«. Dieses beeinflusste sowohl die US-amerikanische Außenpolitik als auch den allgemeinen Diskurs über gesellschaftliche Konflikte bis in die Mitte der Gesellschaft. Demnach würden die zukünftigen machtpolitischen Konflikte in der Welt nicht mehr aus sozialen oder ökonomischen Gründen auftreten, sondern vom »Kampf der Kulturen« abgelöst werden. Vgl. Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen: die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1997
(18) Benoist, Aufstand, S. 36
(19) Ebenda, S. 37
(20) Zu den Menschenrechten schreibt Benoist: »In Verbindung mit der Expansion der Märkte dient die Rhetorik der Menschenrechte als ideologische Verkleidung der Globalisierung. Vor allem anderen ist sie ein Instrument der Herrschaft und muss als solches begriffen werden.« Alain de Benoist, Kritik der Menschenrechte. Warum Universalismus und Globalisierung die Freiheit bedrohen, Berlin 2004, S. 10. In seinen weiteren Ausführungen kritisiert Benoist die Menschenrechte auf ganzer Linie mit romantischen und kulturrelativistischen Argumenten: »In ihrer kanonischen Formulierung scheint die Menschenrechtslehre ihrerseits wenig geneigt, die Vielfalt der Kulturen anzuerkennen, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen ist sie durch und durch individualistisch und das Subjekt, dessen Rechte sie proklamiert, ein äußerst abstraktes. Zum anderen ist sie historisch vorrangig an die westliche Kultur oder zumindest an eine der Traditionen gebunden, auf denen diese Kultur gründet.« Benoist, Kritik der Menschenrechte, S. 72
(21) Pautz, Die deutsche Leitkultur, S. 36
(22) Benoist, Aufstand, S. 43
(23) Benoist, Kulturrevolution von rechts. Gramsci und die Nouvelle Droite, Krefeld 1985, S. 67. Hervorhebungen im Original
(24) Der französische Philosoph Jean-François Lyotard benutzte den Begriff der »Retorsion« für die Kämpfe gegen Unterdrückung, bei denen die »›Schwachen‹ für einen Augenblick stärker als die Stärksten werden«. Pierre-André Taguieff setzt den Begriff ein, wenn »sich die »ethnische Mehrheit an der Macht« […] mit der Position der machtlosen Minderheit« bekleidet. Vgl. Taguieff, Die ideologischen Metamorphosen, S. 248–250; Balibar, »Neo-Rassismus«
(25) Terkessidis, Kulturkampf, S. 66 f.
(26) Müller, Fallstricke, S. 38
(27) Benoist, Aufstand, S. 42
(28) Ebenda, S. 42 f. Hervorhebungen im Original
(29) Ebenda, S. 43
(30) Priester, Rassismus, S. 247
(31) Benoist, Aufstand, S. 44
(32) Ebenda
(33) Heiner Bielefeldt, Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft. Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus, Bielefeld 2007, S. 59
(34) Susanne Frank, Rassistischer Multikulturalismus, in: Andrea Wolf (Hrsg.), Neue Grenzen. Rassismus am Ende des 20. Jahrhunderts, Wien 1997, S. 83
(35) Der Fortbestand des völkischen Rassismus in Deutschland wird dadurch deutlich, dass seit 1989/90 neu-rechte Ideologen zunehmend Abstand vom kulturalistischen Rassismus nehmen und die Abwehr des Multikulturalismus mit einem völkischen Nationalismus begründeten. Die »Multikultur« wird insbesondere in den Medien der Neuen Rechten als ein Bedrohungsszenario dargestellt. Auch in dieser völkisch-nationalistischen Abwehr des Multikulturalismus verbinden sich biologistische mit kulturalistischen Argumentationsmustern, bei denen Kultur, »Rasse« und Nation als ethnisch homogene Einheiten gelten. Vgl. Alexander Häusler, »Multikultur« als Bedrohungsszenario in Medien der extremen Rechten, in: Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges (Hrsg.), Massenmedien, Migration, Integration, Wiesbaden 2006, S. 109–127
(36) Der Politikwissenschaftler Bassam Tibi prägte den Begriff der »Leitkultur« im Jahr 1996 und entwickelte ihn zum Konzept der »europäischen Leitkultur« im Sinne eines kulturpluralistischen Wertekonsenses, basierend auf den Werten der »kulturellen Moderne«. Tibi grenzt sich damit von der kulturrelativistischen »Wertebeliebigkeit des Multikulturalismus« ab, der zu einer europäischen Identitätskrise geführt habe. Vgl. Bassam Tibi, Europa ohne Identität. Die Krise der multikulturellen Gesellschaft, München 1998; ders., Leitkultur als Wertekonsens. Bilanz einer missglückten Debatte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 1-2/2001, S. 23–26. Im Herbst 2000 griff der Unionspolitiker Friedrich Merz dieses Konzept auf und formulierte es zu einer »deutschen Leitkultur« um. Im weiteren Verlauf entfachte sich eine polemisch aufgeladene Debatte, in der in allen politischen Lagern ein sehr unterschiedliches Verständnis der »Leitkultur« und Staatsbürgerschaft vertreten wurde und somit der Begriff eine grundlegende Uneindeutigkeit erhielt. Literatur und Beiträge zur Debatte vgl. Heiner Bielefeldt, Einbürgerungspolitik in Deutschland. Zur Diskussion über Leitkultur und Staatsbürgerschaftstests, Berlin 2006; Gudrun Hentges, Das Plädoyer für eine »deutsche Leitkultur« – Steilvorlage für die extreme Rechte?, in: Christoph Butterwegge u.a. (Hrsg.): Themen der Rechten? Themen der Mitte. Zuwanderung, demografischer Wandel und Nationalbewusstsein, Opladen 2002, S. 95–121; Norbert Lammert (Hrsg.), Verfassung, Patriotismus, Leitkultur. Was unser Gesellschaft zusammenhält, Bonn 2006; Pautz, Die deutsche Leitkultur; Michael Schmidt-Salomon, Manifest des evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur, Aschaffenburg 2005; Oliver Tolmein (Hrsg.), Besonderes Kennzeichen: D. Wahre Deutsche, Staatsbürger zweiter Klasse und die unsichtbaren Dritten, Hamburg 2001
(37) Andere aus der Neuen Rechten hingegen lehnen mit einer völkischen Gegenposition den Begriff der »Leitkultur« ab, da dieser angeblich nur einen Verfassungspatriotismus vertrete und den Bezug zur »deutschen Kulturnation« verliere.
(38) Zum Zusammenhang zwischen der Leitkulturdebatte, der Neuen Rechten und dem Neorassismus vgl. Pautz, Die deutsche Leitkultur
(39) Müller, Fallstricke, S. 40
(40) Terkessidis, Kulturkampf, S. 91
(41) Priester, Rassismus, S. 281 f.
(42) Ebenda, S. 282

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Imke Leicht: Multikulturalismus auf dem Prüfstand. Kultur, Identität und Differenz in modernen Einwanderungsgesellschaften. Metropol-Verlag, Berlin 2009. 205 Seiten, 19 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.