»Abécédaire«, ein siebenstündiges Gespräch mit Gilles Deleuze auf DVD

Z wie Zickzack

Keine Talkshows, keine Statements. Gilles Deleuze hat sich stets den Medien verweigert. Doch ein großes Interview hat er gegeben. Das siebenstündige Monumentalexperiment liegt nun auf DVD mit deutschen Untertiteln vor.

Viele Begriffe, die Gilles Deleuze geprägt oder für seine Philosophie übernommen hat, sind im intellektuellen Milieu fest etabliert. Kaum ein Essay zur zeitgenössischen Kunst kommt ohne Verweise auf das »Rhizom«, das »Zum-Tier-Werden« oder die »Deterritorialisierung« aus. Schon zu Lebzeiten ist Deleuze damit zum Popstar der Philosophie geworden. Die experimentellen Ränder der Techno-Bewegung hatten sich auf seine Sound-Philosophie berufen, das Frankfurter »Mille Plateaux«-Label hatte sich nach seinem zusammen mit Félix Guattari verfassten Hauptwerk benannt und veröffentlichte nach seinem Tod 1995 die Doppel-CD »A Tribute To Gilles Deleuze« mit Beiträgen von Musikern wie Mouse On Mars, Jim O’Rourke und Oval.
Ähnlich wie sein Freund Michel Foucault war Gilles Deleuze spätestens in den Neunzigern überall präsent, in den Schriften der Linken, in der Soziologie, der Architekturtheorie, der Psychologie, der Popkritik, der Filmwissenschaft und im Kunst-Diskurs, wo es zur Mode wurde, schwer zu entschlüsselnde Werke mit Bezug auf Deleuze-Terminologie noch kryptischer erscheinen zu lassen. Denn leicht lesbar sind seine Texte nicht, da sie sich der Linearität verweigern und in Ablehnung von Hegel und der »Baum-Struktur« des abendländischen Denkens, dem Denken von der Wurzel her, aus der heraus sich alles entwickelt, ein rhizomatisches Wuchern einfordern. Dieses Wuchern war stets interdisziplinär, handelte von Biologie ebenso wie von Rockmusik, von Psychoanalyse wie von Literaturwissenschaft, um nur einige der zahlreichen Diszi­plinen zu nennen, die in »Mille Plateaux« aufeinanderprallen. »Deterritorialisierung« bedeutete nicht zuletzt, das Zentrum der Philosophie zu verlassen und Philosophie somit auf alles anwendbar, mit allem fusionierbar zu machen. Damit hat Deleuze bereits einen neuen Typus von Philosophen vorbereitet, Phänomene wie Slavoj ŽiŽek und Peter Sloterdijk, jene Medien- und Feuilleton-Philosophen, denen zu jedem Thema etwas einzufallen scheint und die keiner Kamera ausweichen, wenn es darum geht, ein Fußballspiel oder eine Promi-Hochzeit welt- und kulturgeschichtlich einzubetten.

T wie Tennis
Deleuze selbst war dagegen gar nicht scharf auf die Medien und verweigerte sich stets, er wollte sich selbst nicht im Fernsehen sehen, mochte keine Talkshows, keine Geschwätzigkeit und ständige Meinungsmache. Vielleicht schaute er sich deshalb im Fernsehen am liebsten Tennis an. 1988 überredete ihn Claire Parnet, eine ehemalige Studentin, Freundin und Co-Autorin, dann zu dem Filmprojekt »Abécédaire«, einem siebeneinhalbstündigen Interview-Gespräch vor laufender Kamera. Deleuze führte es nur unter der Bedingung, dass es erst nach seinem Tod ausgestrahlt oder veröffentlicht werden durfte. Claire Parnet und Deleuze vereinbarten eine besondere Gesprächsstruktur. Zu jedem Buchstaben des Alphabets dachten sie sich einen Begriff aus, der etwas mit dem Kosmos von Gilles Deleuze zu tun hatte, B wie »boisson« (Getränk) beispielsweise, weil Deleuze trockener Alkoholiker war, M wie »maladie« (Krankheit), weil Deleuze oft krank war und vom »organlosen Körper« geschrieben hatte – und schließlich T wie »tennis«. Von A für »animal« (Tier) bis Z für Zickzack wurde Deleuze von Parnet befragt und hatte die Aufgabe, zu jedem Stichwort »Begriffspersonen« zu entwickeln.
Entstanden ist auf diese Weise ein Mammutwerk, das nun auf DVD vorliegt, sowohl in Originalsprache wie auch synchronisiert und mit deutschen Untertiteln abspielbar. Claire Parnet sitzt dem Philosophen in dessen Wohnzimmer gegenüber und nennt die Begriffe, zu denen sie eine Frage entwickelt. Oft genügt es, den jeweiligen Begriff in den Raum zu werfen. Deleuze lacht viel, wirkt selten angestrengt, obwohl es Begriffe gibt, mit denen er nicht viel anfangen kann. »Kindheit« ist ein solcher. Er möchte nicht von seiner eigenen Kindheit reden, denn er kann sich kaum an sie erinnern. Der Philosoph des Werdens, der permanente Veränderung anstrebte, weicht aus: »Nicht erinnern, sondern werden« sei das Ziel. Deshalb ist ihm auch die ganze Erinnerungsliteratur ein Gräuel, sagt er, diese Schwemme an Romanen über Kindheit und Familie. Dann greift er zu einem Buch von Ossip Mandelstam, das neben ihm liegt, und zitiert eine dazu passende Stelle: »Nie habe ich diese Tolstois verstehen können, verliebt in Familienarchive mit ihren häuslichen Erinnerungen in epischer Breite. Mein Gedächtnis ist der Vergangenheit nicht freundlich, sondern feindlich gesinnt und arbeitet nicht an ihrer Nachbildung, sondern an ihrer Beseitigung.«
Deleuze legt das Buch zur Seite, schwärmt noch ein wenig über diese Passage und redet dann von seiner Vorstellung darüber, was große Literatur von Massenware unterscheidet. Über Literatur nämlich hat er selbst häufig geschrieben, hat »Bartleby« von Herman Melville zum Anlass genommen, die eigene Philosophie aus fiktionalen Texten heraus zu entwickeln. »Philosophie erschafft Begriffe, Literatur erschafft Personen«, sagt er an einer anderen Stelle des Gesprächs. Am Ende stehen sich beide Disziplinen also sehr nahe, denn eine Figur wie Bartleby ist nichts anderes als ein durch eine Person verkörperter philosophischer Begriff. Deleuze wehrt sich daher auch dagegen, dass einer seiner Lieblingsschriftsteller, Proust, bloß Erinnerungsliteratur geschrieben habe: »Proust hat sich nicht für seine Kindheit interessiert, sondern für eine Kindheit. Schreiben heißt Werden, nicht Sich-Abbilden.« Große Literatur – Deleuze nennt in diesem Zusammenhang auch Samuel Beckett – steht also exemplarisch für das Ganze: Die Figuren von Proust und Beckett sind übertragbar wie philosophische Begriffe. Kein Mensch würde sich heute mehr für Prousts Texte interessieren, wenn sie wirklich nur von seiner Kindheit handeln würden. Dass er eine Kindheit im Sinne einer exemplarischen Kindheit beschrieben hat, das macht Proust so zeitlos und regt an, an seinem eigenen »Zum-Kind-Werden« zu arbeiten.
Das »Werden« von was auch immer, von Tier, Kind, Frau – dieser Begriff, den der männliche, heterosexuelle, gebildete Mitteleuropäer Gilles Deleuze immer wieder aufgreift, wird erst bei »G« wie »gauche«, die Linke, mit Leben gefüllt: Weil der weiße Mann die Norm ist, von der alle Macht ausgeht, muss es einem linken Denken stets darum gehen, sich im Werden von dieser Norm zu entfernen. »Die Linke ist die Gesamtheit der Prozesse des Minoritär-Werdens. Die Mehrheit ist niemand. Für den Mann gibt es kein Mann-Werden, denn er ist es schon.«

Gegen Freud
Erstaunlich selten wird in dem Gespräch auf das philosophische Werk Bezug genommen. Und wenn, dann führt dies oft nur zu Anekdoten, etwa im Zusammenhang mit seinem Buch »Die Falte« über Leibniz und die Bedeutung der Falte in der barocken Metaphysik. Begeistert hatte ihm nach der Veröffentlichung seiner Abhandlung der »Verein der Papierfalter« geschrieben: »Ihre Geschichte sind wir«, obwohl sie in dem Buch keinerlei Erwähnung finden. Dasselbe gilt für die Surfer. Auch sie hatten Deleuze einen Brief geschickt und sich für das Werk bedankt, denn »wir schmiegen uns an die Falten der ­Natur«. Deleuze lacht über solche Missverständnisse, denn sie dürften ihm schmeicheln. Ein Denker des Wucherns und Werdens kann eigentlich nur auf solche völlig neuartigen Zusammenhänge hoffen.
Einen konkreten Einstieg in Deleuzes Werk gibt es lediglich beim Begriff »désir« (Wunsch), den Deleuze zum Anlass nimmt, über eines seiner Hauptwerke zu sprechen, den 1972 zusammen mit Guattari veröffentlichten »Anti-Ödipus«. Das Buch war ein Angriff auf Freud und die Psychoanalyse und wurde zu einem Schlüsselwerk der Antipsychiatrie-Bewegung. »Psychoanalytiker reden vom Wunsch wie der Priester«, erklärt Deleuze. Es ging im »Anti-Ödipus« darum, den Wunsch nicht als negativen Mangel zu beschreiben, sondern als positiven Bezug auf ein Begehren. In der Psychoanalyse werde ein Objekt immer isoliert, zum Beispiel die Behauptung aufgestellt, dass jemand »eine Frau begehre«. »Ich begehre aber immer ein Ensemble«, entgegnet Deleuze, »ich begehre nicht nur eine Frau, sondern auch eine Landschaft.« Hier kommt Proust ins Spiel: Die Bilder des Begehrens bei Proust betreffen stets etwas Mannigfaltiges, Umgebungen, Menschen, Gegenstände und Gerüche, also glückliche Zustände inmitten eines Ensembles, in dem sozusagen alles stimmt.
Dies klingt heute wesentlich weniger spektakulär, als es zu Beginn der Siebziger rezipiert wurde. Deleuze erinnert sich an all die Studenten, die mit freier Liebe, LSD und Alkohol experimentierten oder sogar gleich in die Schizo­phrenie einsteigen wollten und dabei stets die »Wunschmaschine« im Sinn hatten. Es sei traurig gewesen, mit anzusehen, wie sich damals viele Junge zugrunde richteten. Dabei ging es doch nur darum, von der engen, muffigen Welt fortzukommen, die Freud konstruiert hatte, indem er das Unbewusste auf die eigene Familie reduzierte. »Man deliriert die Welt, nicht seine kleine Familie«, erklärt Deleuze mit Emphase. Die Worte klingen 1988 noch wie ein Manifest und haben selbst 2009 noch Manifest-Charakter, obwohl Deleuze inzwischen, wie er es selber nennt, zum »reinen Geist« geworden ist.

Eine neue Linke?
Gilles Deleuze und sein Freund Michel Foucault, von dem Deleuze stets in schwärmerischem Tonfall spricht, gelten als Schlüsselfiguren einer neuen Linken, die nicht mehr Marxismus und Ökonomiekritik, sondern Fragen des Begehrens sowie Macht- und Diskurs-Analyse in den Mittelpunkt stellten. Hört man sich seine Ausführungen zur »gauche« (Linke), an, könnte auch der Eindruck aufkommen, dass es sich um eine spielerische Linke handelte, die sowieso nicht mehr an einen revolutionären Umbruch glaubte. »Eine Linksregierung gibt es nicht«, erklärt Deleuze nüchtern, »höchstens eine Regierung mit offenem Ohr für bestimmte Belange.« Revolutionen verändern nichts, denn auf Revolutionen folgen meist Diktaturen. Doch das ist für Deleuze nicht die richtige Herangehensweise: »Die Frage ist, wie und warum werden Leute revolutionär, während sich Historiker Revolutionen ansehen, um davon spätere Übel abzuleiten.« Revolutionen entstehen also aus einem ganz bestimmten historischen Druck heraus, sei es durch die Tyrannei oder den Wunsch nach Veränderung. 1968 war für Deleuze deshalb vor allem der »Einbruch des Werdens«: »Es war ein Revolutionär-Werden ohne revolutionäre Zukunft. Das verstehen Historiker nicht.« Revolutionen sind für ihn situativ, nach ihrem langfristigen Sinn oder dem weiteren Verlauf der Geschichte sollte man dabei besser nicht fragen.
Für heutige linke Debatten gibt das allerdings ebenso wenig her wie Deleuzes schrecklich einseitiger Blick auf den Nahen Osten. In seinem Aufsatz »Die Größe von Jassir Arafat« (1983) schrieb er von einem »Genozid« an den Palästinensern und von »zionistischem Terrorismus«: »Die Komplizenschaft der Vereinigten Staaten mit Israel verdankt sich nicht allein einer mächtigen zionistischen Lobby. Elias Sansibar hat deutlich aufgezeigt, dass die Vereinigten Staaten in Israel einen Aspekt ihrer eigenen Geschichte wiederfanden: die Ausrottung der Indianer, die ebenfalls nur zum Teil eine unmittelbar physische war.« Obwohl solch krude Aufsätze nicht in Schubladen schlummern, sondern im Suhrkamp-Sammelband »Schizophrenie & Gesellschaft« vorliegen, sind Deleuzes Angriffe auf Israel bislang selten thematisiert worden. Auch im Film spricht er von der Notwendigkeit des »Revolutionär-Werdens« in Palästina. Ein Plädoyer für Selbstmordattentate?
Deleuzes unausgegorene Revolutionsromantik, deren kritische Aufarbeitung noch aussteht, wirft einen langen Schatten über das Werk eines Denkers, der tatsächlich dort am klügsten schreibt und spricht, wo es nicht um Politik, sondern um Kunst und Literatur geht. Es ist daher längst an der Zeit, Deleuze nicht als Säulenheiligen zu verehren, sondern seine Arbeit einer Kritik zu unterziehen. Dagegen hätte wohl auch Deleuze nichts einzuwenden. Nicht mehr verehrt und begehrt zu werden, darin sah er viel Positives. So mochte er am Altern vor allem den Umstand, »von der Gesellschaft fallen gelassen zu werden«. Endlich nicht mehr Im-Werden-Sein. Alt, das ist »einer, der nur noch ist«. Von niemandem beachtet, von niemandem begehrt, ungestört. Erzählt Deleuze vor laufender Kamera und bekräftigt damit, dass nichts an diesen Sätzen stimmt.