Michael Saleh Gassner im Gespräch über Sharia-konforme Anlagemöglichkeiten

»Der Koran ist ein Vernunftbuch«

Michael Saleh Gassner ist Finanzexperte des Zentralrats der Muslime und dort ­zuständig für die Einführung von Islamic Banking in Deutschland. 2007 veröffentlichte er mit Phillip Wackerbeck das Buch »Islamic Finance – Islam-gerechte Finanzanlagen und Finanzierungen«.

Dem Anspruch nach soll »Islamic Banking« (IB) modernes Wirtschaften mit Schriften vereinbar machen, die fast eineinhalb Jahrtausende alt sind. Wie geht das?

Der Handel hat sich im Lauf der Zeit nicht so wesentlich verändert. Man hat damals schon Fernhandel bis China betrieben, und der war erstaunlich modern organisiert.

Timur Kuran, IB-Spezialist und Kritiker, weist nach, dass das Wirtschaften der islamischen Urgemeinde nicht heutigen IB-Standards, sondern konventionellen Standards nahestand.

Kuran kenne ich nicht, würde aber behaupten, dass, weil die Wirtschaftsprobleme damals und heute gleich waren, auch der Umgang mit ihnen gleich war, das Wirtschaften also IB nahestand.

Tatsächlich ist IB eine ziemlich junge Erfindung, es ist maximal 35 Jahre alt. Wird das nicht häufig in der Diskussion übersehen?

Im 19. Jahrhundert galt ja noch der osmanische Zivilcode. In dem war der Umgang mit Zins geregelt, auch wenn es damals sicher auch unkoschere Praktiken gegeben haben wird. Der Geldzins, also »Riba«, ist im Koran strengstens untersagt, er wird als Kriegserklärung an Gott verstanden. Daher das große Anliegen der Muslime, hier eine Lösung zu finden.

Als Argument für IB wird hier auch immer wieder das Schlagwort »Integration« bemüht.

Integration bedeutet auch, Wohneigentum zu erwerben, sich, bildhaft gesprochen, zu Hause zu fühlen. Dies geht zurzeit nur unter Verletzung religiöser Regeln, weil es keine Sharia-konformen Kreditangebote gibt.

Allerdings scheinen etwa Hausfinanzierungen auch für Muslime mit konventionellen Finanzinstrumenten problemlos zu funktionieren. Die »Bankamiz«, eine Gründung der Deutschen Bank, betreibt in Deutschland seit Jahren erfolgreich eine so genannte Ethnobank – also kein religiös geprägtes, sondern ein zielgruppenspezifisches Angebot, das etwa eine EC-Karte mit dem Motiv der türkischen Fußballnationalmannschaft bietet. Seitens der »Bankamiz« heißt es, der Großteil der Muslime hierzulande habe keine Berührungsängste mit konventionellem Banking.

Bei solchen Aussagen muss man immer fragen, welchen Hintergrund diese offiziellen Sprecher haben. So weit ich weiß, ist ein »Bankamiz«-Sprecher Armenier und höchstwahrscheinlich Christ. Aleviten wollen mit Sunniten nichts zu tun haben und sind deswegen gegen IB.

Ist dann nicht das Attribut »islamisch« für IB falsch? Müsste man es nicht besser »Sunnitisches Banking« nennen?

Man müsste die Aleviten als eigene Gruppe an­sehen, obwohl sie sich häufig als Muslime verstehen. Sie sind eine Sondergruppe und vielleicht mit alevitischem Ethnobanking zu begeistern.

Offenbar ist aber die Vorstellung falsch, Muslime hätten qua Glaubenszugehörigkeit Interesse an IB. Nach Studien sollen nur vier Prozent der europäischen Muslime unbedingt IB wollen. Vermutlich ist viel Werbung nötig, um Muslimen »beizubringen«, dass Wirtschaften zum gläubigen Leben gehört.

Finanzprodukte verkaufen sich nur aktiv. Den Luxus, dass der Nachfrager kommt, kennt man in Deutschland nicht. Andererseits lehnen viele Muslime einen Hauskauf ab, weil die Darlehensaufnahme islamisch nicht erlaubt ist.

Umgekehrt gefragt: Warum muss ein solches Wirtschaften den Zusatz »islamisch« tragen? Zaid al-Mogaddedi, Direktor des Frankfurter IB-Instituts, schreibt, die Kriterien eines isla­mischen, christlichen oder »ethisch-nachhaltigen« Fonds unterschieden sich nur marginal. Warum nennt sich IB nicht einfach »ethisch«?

Gute Frage. Man sagt ja auch nicht »islamische Versicherungen«, sondern »Takaful«, das ist arabisch und heißt »Solidarität«. Beim Bankgeschäft hat sich aber IB als Begriff eingebürgert. Andererseits darf man die Unterschiede zwischen ethic banking und IB nicht verkennen. Nur bei IB gibt es Verbote von Zins, Schweinefleisch und Alkohol.

Was sind denn die konkreten Vorteile von IB für die Kunden?

Kunden sind im Überschuldungsfall besser gestellt; sie brauchen nur die Schulden zurückzahlen, keine Zinseszinsen. So ist es eher möglich, der Schuldenfalle zu entgehen. Wenn Sie eine Autofinanzierung bekommen können, die bei Arbeitslosigkeit die Raten zinslos halbiert und vertagt, bis Sie wieder Arbeit haben, ist das ein Stück sozialer als herkömmliche Kreditgeschäfte. IB trägt Risiken des Kunden mit und verteilt sie auf vielen Schultern. Das überzeugt Menschen auch unabhängig vom Glauben. Auch die moralische Komponente ist wichtig: maßhalten beim Konsum. Für Firmen gilt, dass sie ausreichend Eigenkapital haben müssen. Das schützt vor vielen Gefahren im Bereich des Geldes.

Wie kann man sich die Schuldentilgung in sozialen Notlagen vorstellen? Muss für das islamische Bankwesen ein Verwaltungsapparat aufgefahren werden, der wie in Hartz-IV-Ämtern soziale Notlagen überprüft? IB schickt sich ja an, sich enorm auszubreiten.

Man muss Notlagen natürlich glaubhaft machen. Aber IB ist weltweit nicht so groß, wie die Marketingleute behaupten. Die Communities sind überschaubar, man kennt seine Spezis. Früher gab es das ja auch in deutschen Banken, dass man noch mit den Verantwortlichen sprechen und in Notfällen eine soziale Tilgung vereinbaren konnte.

Wie kann sich eine islamische Bank, die auf dem Markt konkurriert, solche Sozialdienste leisten? Nach einer aktuellen Studie waren nur diejenigen IB-Institute erfolgreich, die von steigenden Erdölpreisen profitieren konnten.

Die meisten Erdölmonarchien betreiben IB erst seit relativ kurzer Zeit. Die eigentliche Erfolgsgeschichte des IB verdankt sich der Tatsache, dass es von der Bevölkerung nachgefragt wird.

Nun gibt es Hinweise, dass IB nur dann erfolgreich Kunden aquiriert, wenn es attraktive profit rates, also das islamische Äquivalent zu Zinsen, vorweisen kann. Nur dort, wo mit kriminellen Mitteln hohe Rendite versprochen wurde, war IB ein Massenerfolg, etwa in den neunziger Jahren in Ägypten und der Türkei, wo Milliarden Euro veruntreut wurden. Studien weisen darauf hin, dass Gläubige sich nur von Renditen, die sich am konventionellen Markt orientieren, und von Werbung, die materiellen Reichtum verspricht, für IB begeistern lassen.

Wichtig ist auch, dass die Finanzprodukte glaubwürdig sind. Viele islamische Produkte liegen hart an der Grenze der Glaubwürdigkeit. Wenn man wesentliche Produkteigenschaften und Vorteile bietet, nimmt die Preisempfindlichkeit ab. Ich habe ja schon auf die soziale Schulden­tilgung hingewiesen. Nicht nur der Ertrag, auch die Risikoabsicherung ist wichtig.

Das sind weltliche Argumente, mit islamischem Glauben haben sie nichts zu tun.

»Wenn ein Schuldner nicht zahlen kann, dann gebt ihm Aufschub«, das steht im Koran. Er ist eben ein recht praxisbezogenes Buch. Man kann den Koran nicht in Ethik einerseits und Glauben andererseits trennen. Der Koran ist ein Vernunftbuch, das sagt, wenn man es für richtig hält, wird man Muslim.

Vorhin haben Sie von der IB-Forderung nach Eigenkapitalfinanzierung gesprochen. Es gibt selbst in IB-Kreisen kritisierte Sukuk-Varianten, die Eigenkapital in Schulden verwandeln und diese dann verkaufen, dadurch Derivate ausbilden und damit den Prinzipien des IB widersprechen. Gerade diese Finanzierung ist besonders populär.

Das sind zu recht kritisierte Finanzinstrumente, juristisch pfiffig, aber nicht gerade substanziell.

Wie verhält es sich mit der Zertifizierung von IB-Finanzinstrumenten? Es gibt weltweit nur etwa 20 zertifizierende Sharia-Gelehrte. Mittlerweile wird stark kritisiert, die Meinungen der Gelehrten seien nicht konstant, sie wären käuflich, weil sie direkt von Unternehmen bezahlt werden und einen abzulehnenden »jet-set-lifestyle« führten.

Diese Kritik teile ich. Das Problem der Bezahlung der Gutachter durch die begutachteten Firmen kennt man auch von konventionellen Banken. Dort sind es die Rating-Agenturen, die nicht unwesentlich zur Finanzkrise beigetragen haben.

Müsste es dann nicht unabhängige Beurteilungsstellen geben?

Wir im Zentralrat arbeiten deswegen ehrenamtlich für die kommende IB-Zertifizierung in Deutschland. Allerdings haben wir auch noch nicht genügend Personal dafür gefunden.

Angenommen, IB wird so groß, wie von vielen prognostiziert, dann werden diese Posten zum Vollzeitberuf. Wer soll die Gehälter zahlen?

Das wird man sehen. Ich gehe nicht von einer massenhaften Gründung von IB-Banken hierzulande aus, vielleicht werden es drei oder vier.

Häufig wird IB als Alternative zur konventionellen Finanzwirtschaft gepriesen und gemutmaßt, die aktuelle Krise wäre mit IB nicht möglich gewesen.

Ja, grundsätzlich ist das so. Das Verhältnis von Fremd- und Eigenkapital ist entscheidend. Versagen Kreditmärkte, sind Unternehmen mit ausreichendem Eigenkapital stabiler. Wenn alle Unternehmen so solide aufgestellt werden, funktioniert dies wie eine Impfung – Kreditkrisen verursachen keine finanzielle Pandemie mehr. Zusätzlich bedarf es auch der Moral, die Bestimmungen des IB nicht zu umgehen.

Derzeit hat das Emirat Dubai finanziell große Schwierigkeiten. Ein Milliardenloch ist auch durch mehrere Islam-konforme Sukuk-Anleihen entstanden. Wie erklären Sie sich das?

Wenn man täglich einen Apfel isst, braucht man keinen Doktor. Wenn man zusätzlich ein Kilo Schokolade isst, dann sieht man den Doktor recht bald. Dubai hat sein Wachstum mit sehr hohen, vor allem auch konventionellen Schulden finanziert. Alle anderen Emirate und Länder in der Golfregion stehen finanziell weit gesünder da und könnten die Schulden von Dubai leicht ausgleichen – wenn sie wollten.

Sie haben kürzlich das Argument vorgebracht: »Das islamische Finanzwesen steht für Maß, Realitätssinn und Anstand. Deutsche Tugenden eigentlich.« Wie haben Sie das gemeint?

Das Zitat ist frei nach Ihren Kollegen von der FAZ formuliert. Ich nannte der FAZ die moralischen Kategorien, und diese erkannte darin deutsche Tugenden – da habe ich dies bestätigt. Aber diese Tugenden müssen auch gelebt werden, um wirksam zu sein. In Deutschland galt einmal: bar zahlen, keinen Kredit aufnehmen. Diese Tugend gibt es in angelsächsischen Ländern nicht.