Nach dem Minarett-Bauverbot in der Schweiz: Volksabstimmungen sind nötiger denn je

Im Zweifel für das Volk

Das schweizer Minarett-Verbot ist kein Grund, Plebiszite abzulehnen. Im Gegenteil: Mehr demokratische Mitbestimmung ist dringend nötig.

42 Prozent der Abstimmungsberechtigten Schweizerinnen und Schweizer haben sich für Minarette ausgesprochen. Das ist bemerkenswert, denn die wenigsten von ihnen dürften Muslime sein. Für Menschen, die religiöse Toleranz, Gleichberechtigung und das Eigentum höher bewerten als das Bedürfnis, neue Minarette abzulehnen, ist das vielleicht nur wenig Trost. Der spürbare Trend, islamische Religionsausübung im Gegensatz zur christlichen einzugrenzen, ist ernst zu nehmen: in der Schweiz, in Köln-Porz, in Berlin-Heinersdorf.
Aber die Angst vor einem sich pervertierenden Volkszorn, der sich in Volksentscheiden entladen könnte, ist und bleibt unberechtigt. Auch in der Schweiz: Im Juni 2008 lehnten es dort zwei Drittel der Abstimmenden ab, den Rechtsweg gegen Einbürgerungsentscheidungen abzuschaffen. Eine andere Initiative, die eine Legalisierung herkunftsbezogener Diskriminierung ermöglichen wollte, brachte es nicht einmal innerhalb der 18-monatigen Frist zu den 100 000 erforderlichen Unterschriften für eine Volksabstimmung.

Und in Deutschland? Schweizer Verhältnisse, die in einem geregelten Abstimmungsverfahren eine verbindliche öffentliche Beteiligung über strittige Themen erlauben, liegen hier in weiter Ferne: In Deutschland sind Volksbegehren auf Bundesebene verboten. Selbst die eine grundgesetzlich vorgesehene Volksabstimmung zur Deutschen Einigung ist ausgefallen. In der Öffentlichkeit bleibt Populismus also weiterhin uns Politikern und Politikerinnen vorbehalten und jenseits der Öffentlichkeit den Stammtischen. Gerade die sollte man wie in der Schweiz aus dem verrauchten Hinterzimmer herausholen. Denn hierzulande würden in letzter Instanz immer noch die Gerichte entscheiden. Damit Demokratie nicht zur Demokratur wird, braucht es faire Spielregeln, Minderheitenschutz und individuelle Grundrechte, die nicht mal eben per Mehrheitsbeschluss abgeschafft werden können. Darüber zu wachen ist Sache des Verfassungsgerichts, das übrigens auch viele vom Parlament beschlossene Gesetze kassieren muss. Spätestens vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hat auch das neue Schweizer Minarettverbot schlechte Karten. Aber den Minarett-Entscheid in der Schweiz gegen Volksbegehren in Deutschland ins Felde zu führen, ist so, als würde eine gehörlose Person sagen, sie wolle lieber taub bleiben, damit sie keine Beschimpfungen hören muss.

Ein weiterer Einwand lautet: Wir haben doch die Parlamente gewählt, die Politik machen sollen, und man könne doch in Parteien, in Verbänden oder politischen Gruppen aktiv werden, um Meinungen kund zu tun und zu beeinflussen. Das stimmt – ist aber seit vielleicht gut 20 Jahren immer weniger der Fall. Immer weniger Meinungsbildungsprozesse lassen sich an jeder Stelle nachvollziehen. Ein Ausgleich für mehr Mitentscheidung in relevanten Sachfragen ist überfällig.
Zu glauben, Demokratie- und Gesellschaftsfrust, Perspektivlosigkeit und Resignation würden sich schon lösen, gäbe es mehr Demokratie, wäre naiv. Aber es wäre wenigstens eine Einladung an alle, sich zu politischen Fragen zu verhalten und möglicherweise auch etwas zu verändern. In Zeiten von mehr Armut, der Wirtschafts- und der Umweltkrise, staatlicher und wirtschaftlicher Repression wäre es auch angebracht, mehr Leute zur Mitentscheidung zu berufen. Anders­her­um gewinnt der Eindruck: Der Karren fährt in den Dreck, und ich werde nicht einmal gefragt.
Wer trotzdem nicht mehr Mitentscheidung will, sollte sich anschauen, wem er sie sonst überlässt. Lobbys und Umfragen privater Unternehmen üben enormen Einfluss auf unsere Meinungsbildung aus, aber von Amts wegen gibt es nicht mal eine verbindliche Volksbefragung für alle. Dabei ist mehr Beteiligung heute billiger, einfacher, viel differenzierter möglich, und sie ist nötiger – Demokratie- und Parteienmüdigkeit kann nicht dadurch behoben werden, dass Parteien schlicht ihre Monopole schützen. Direkte Demokratie kann realpolitisch nur ermöglicht werden, wenn die Parlamente sie zulassen.
Für die parlamentarische wie für die direkte Demokratie gilt: Die Mehrheit kann irren, das Ergebnis ist nicht immer weise. Einzelne Fehlentscheidungen sind aber kein Grund, das demokratische Prinzip in Frage zu stellen. Mit politischen Niederlagen umzugehen will für alle gelernt sein. Demokratie ist eben nicht nur, wenn man selbst gewinnt. Ich hoffe, dass es in fünf Jahren endlich so weit sein wird und wir Volksentscheide auf Bundesebene haben und in den Ländern dazu kommen, Volksentscheide zu vereinfachen.

Benedikt Lux ist Abgeordneter der Grünen im Abgeordnetenhaus von Berlin.