Lob des Zinses

Lob des Zinses

Im Zins scheint die Möglichkeit von Glück und Freiheit auf.

Das zinstragende Kapital ist die extremste Form des Glücksversprechens. Es forciert den Reproduktionsprozess der Gesellschaft bis zur äußersten Grenze: Ein »großer Teil des gesellschaftlichen Kapitals« wird hier »von den Nichteigentümern desselben angewandt«, die »daher ganz anders ins Zeug gehn als der ängstlich die Schranken seines Privatkapitals erwägende Eigentümer« (Marx). Der Angst dieses Eigentümers entspricht die Macht des Souveräns – und jene Nichteigentümer, also die Manager des Finanzmarkts, die ganz anders ins Zeug gehen, erblicken ihre besondere Aufgabe darin, den Souverän, der das Eigentum allein garantiert, zu überlisten. Diese »Glücksritter«, wie Marx sie bezeichnet, sind wirklich verbürgerlichte Nachfahren jener Konquistadoren, die im Interesse des Kaufmannskapitals die Welt eroberten, und sie trifft darum auch notwendig der Hass der Globali­sierungsgegner, die das mittelalterliche Zinsverbot wiederaufleben lassen.
Ohne Zins kein Kredit. Ohne Kredit keine Beschleunigung in »der Herstellung des Weltmarkts«, der die falsche Einheit der Menschheit ist – absolut gleichgültig gegenüber Hunger und Elend, aber doch eine Einheit: Von ihr ausgehend könnten Hunger und Elend erst bekämpft werden, sollten Kapitalverhältnis und Staatsmacht einmal durch Vernunft ersetzt werden – während alle gegen die »Globalisierung« gerichteten Kräfte, alle, die auf Großraum und Abschottung setzen, sich bewusst oder unbewusst für das Irrationalste engagieren: dass die Gesellschaft auseinanderbricht in »diffuse barbarische Vielheit« (Adorno).
Ohne Kredit auch keine Beschleunigung des »inneren Weltmarkts«, will sagen: der Möglichkeiten, innerhalb der Gesellschaft auszuwandern und stets an einem anderen Platz von vorn zu beginnen – sofern es dem Einzelnen gelingt, sich als kreditwürdig darzustellen (sodass der Zins auch noch die mimetischen Fähigkeiten fördern mag). Einen Kredit zu nehmen, kann bedeuten, sich aus dem Staub zu machen, wenn persönliche Abhängigkeitsverhältnisse drohen. Wer allerdings nirgendwo mehr einen Kredit bekommt, weil er dessen Spielregeln nicht gerecht wird oder einfach Pech hat, ist umso erbarmungsloser dem Verderben preisgegeben und sieht sich zum Demonstrationsobjekt dafür ­herabgewürdigt, dass Glück doch nur ein Versprechen sein darf, soll die Quelle des Zinses nicht versiegen.
Selbst dieses Versprechen noch ungeschehen zu machen, ist das eigentliche Motiv derer, die im Zins die Wurzel allen Übels sehen. Die Feinde der »Zinsknechtschaft« waren stets die größten politischen Verbrecher: Sie revoltieren, um die ­eigentliche Knechtschaft wieder einzuführen und das einzelne Individuum direkt zu unterwerfen, nachdem die Möglichkeit der Freiheit schon aufgetaucht ist. Die Kritik des Zinses ist die politische Ökonomie der Barbarei: Ausbeutung ohne Vermittlungsform, Zwangsgewalt ohne rechtliche Einschränkung ist ihr Zweck – wobei man nebenbei für sich selber meist diskret Gelegenheit schafft, weiter Zins zu kassieren, vom christlich abgesegneten Wucher des Mittel­alters bis zum Islamic Banking der Gegenwart. Aber jener Zweck kann nicht mehr vollends ­erreicht werden angesichts einer Gesellschaft, in der die Beziehungen unabsehbar vermittelt sind, und die Vorstellungen von Gemeinschaft, die dem Zins entgegengesetzt werden, sind auch nur ein Vorwand, diejenigen zu vernichten, die von Anfang an mit ihm identifiziert wurden.